Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Andachten (2003)
"Abschied vom Abschied", verfaßt von Rainer Müller-Brandes
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Abschied vom Abschied
Psalm 90, 10-12

Neulich war ich bei einer Beerdigung, ganz kleiner Kreis, ein Trauerredner war bestellt, ohne Organist, gesungen wurde nicht, nur ein Kassettenrecorder spielte etwas Musik.
Kurz, diese Trauerfeier war wirklich nicht schön, das war ein dermaßen misslungener Abschied, dass ich heute ein kleines Plädoyer halten möchte - und zwar ein Plädoyer für die Bedeutung des Abschieds.
Ich hab´ den Eindruck, dass gute, gelungene Abschiede immer seltener werden, ja mehr noch, damit sie gut werden, müssen wir sie regelrecht wieder einüben.

Schließlich bittet der Psalmbeter Gott nicht umsonst darum:
Herr, lehre uns bedenken, auf das “lehren” lege ich den Akzent, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Ich glaube, klug wäre es, das Abschiednehmen wirklich wieder einzuüben, denn im Moment läuft es nicht gut.
Ich habe vielmehr den Eindruck, dass wir langsam Abschied vom Abschied nehmen.
Drei Beispiele:

Erstes Beispiel:
Der klassische Ort des Abschiednehmens ist ja der Bahnhof. Dort war ich letzten Samstag, um den Leuten, die da ankamen, den Weg zur Preussag Arena zum Tag des Ehrenamtes zu weisen. Und bei dieser Gelegenheit konnte ich natürlich auch zusehen, wie sich andere Reisende von den Zurückbleibenden verabschiedeten. Und als ich mir das am Bahnhof so ansah, dachte ich nur, dass es ja auch wirklich objektiv schwieriger geworden ist:
Tränenreiche Abschiede mag’s ja noch geben, aber das Händchenhalten durch geöffnete Abteilfenster- das gibt´s ja kaum noch. Stattdessen hat eine neue Sachlichkeit Einzug gehalten.
Türen schließen selbsttätig, die Fenster lassen sich gar nicht mehr öffnen, und falls doch, klemmen sie.
Beim ICE, Sie wissen das, sind sie auch noch getönt, so dass man sich die weißen Taschentücher auch gleich schenken kann.
Und man weiß gar nicht mehr so genau, wem man eigentlich zuwinkt, da man sich ja doch nicht mehr so richtig sieht.
Und statt “Tschüss” sagt man heute -“Ich ruf gleich mal an”.

Für mich haben diese Beobachtungen schon ein bisschen Symbolcharakter.

Abschiede werden immer bedeutungsloser, Trennung wird kaum noch eingeübt, und die Trenungs-Energien, die man ja eigentlich dafür bräuchte, reichen gerade eben noch - überspitzt formuliert - für die Müllsortierung.
Und so wird das Abschiednehmen langsam verlernt - und statt sich den Trennungsschmerz zuzumuten, stürzt man sich lieber ins nächste Event, wo Ablenkung gewiss ist.

Nur:
Was macht man, wenn man einen Abschied mal nicht übertünchen kann?
Deshalb der Psalm:
Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, lehre uns bedenken, dass wir Abschied nehmen müssen, auf dass wir klug werden.


Zweites Beispiel - der Körper und der Kult darum
Ich denke, eine Ahnung von Abschied - letztlich haben wir die alle. Spätestens bei der Entdeckung der ersten grauen Haare. Und wir erleben es doch, wie der Körper nicht mehr so mitmacht wie früher. Erste Arthrosen oder Rückenprobleme stellen sich ein. Und auch die Falten gehören irgendwann dazu
Das sind doch in Ansätzen schon lauter kleiner Tode, lauter kleine Abschiede.

Es ist nur die Frage, wie wir damit umgehen. Aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf, stehen junge Ärzte Schlange, um die immerhin sechsjährige Facharztausbildung zum Schönheitschirurgen machen zu können.
Das Jungsein ist zum Programm geworden.

Deshalb der Psalm:
Herr, lehre uns bedenken, dass wir Abschied nehmen müssen, auf dass wir klug werden.

Und damit bin ich beim dritten und letzten Beispiel, - beim Tod.
Auch wenn die Rechnung bei all den kleinen Toden des Alltags dank funktionierender Verdrängungsmechanismen noch aufgehen mag, wird´s beim großen Abschied doch ungleich schwieriger.

Aber auch da greift es ja um sich: Die Trauergesellschaften werden immer kleiner,
von Beilandskundgebungen am Grab wird abgesehen,
das Trauerjahr ist längst Vergangenheit geworden
und wenn jemand mal nicht im Krankenhaus stirbt, sehen wir im Allgemeinen zu, dass der Bestatter schnell kommt, um den Toten schnell aus dem Haus zu holen. Und nicht selten folgt die anonyme Bestattung.

Und da frage ich mich schon: was ist das für ein Abschied? Der findet doch kaum noch statt, eingeübt ist er nicht und am Ende stehen viele stehen hilflos und allein da.

Und das ist dann natürlich die große Stunde auch der kommerziellen Berater. Der Abschied ist zu einem Geschäft geworden, das Blüten treibt:

Da mußte ich doch lesen, dass Scheidungsmediatoren für teures Geld eine Abschiedsfeier zwischen ehemaligen Eheleuten mit mehrgängigem Menü aus Lieblingsgerichten gemeinsamer Jahre inszenieren, oder dass Volkshochschulen Kurse für Pensionäre anbieten, und zwar um deren Depressionen nach dem Ausstieg aus dem Full-time-job zu verarbeiten. Fingerfarben werden gestellt.

Also ich finde, da müssen wir doch etwas tun:
Und immerhin, es gibt sie ja, die sinnvollen Angebote, die gegen dieses Vakuum angehen, das der Abschied vom Abschied hinterläßt.
Da ist der Hospizdienst, um nur ein Beispiel zu nennen, der sich kaum retten kann vor Interessierten, die mitarbeiten möchten, oft motiviert durch eigenes, z.T. unverarbeitetes Erleben von Tod und Abschied.

Deshalb ein letztes Mal: Herr, lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Und ich denke, das ist der erste Schritt. Das Nachdenken darüber, dass ich sterben werde.
Und ich danke Gott, dass ich dabei nicht stehen bleiben muss.
Wir können daran glauben, dass jedem Abschied ein Neubeginn innewohnt.
Wir können daran glauben, dass es mit uns bei Gott nie zu Ende ist
wir können daran glauben, dass er mit uns trotz aller Abschiede immer noch etwas vorhat.
Und das nur nebenbei -in der Hospizarbeit wird etwas von diesem Wissen vermittelt. Vielleicht ist sie deshalb so begehrt.

Deshalb: Klug ist, wer im Glauben seine persönliche Antwort auf den Abschied sucht.

Einen gelungenen Abschied wünsche ich uns, wann auch immer.
Amen

EG 380, 1-3 und 7

Gebet:
Herr, unser Gott, unser Leben besteht aus Abschieden,
großen und kleinen. Hilf uns,
Abschiede zu akzeptieren.
Lass uns nicht ausweichen vor Abschieden,
sondern lass sie uns aushalten.
Hilf uns, auch in Abschieden nach dir Ausschau zu halten.
Amen

Pastor Rainer Müller-Brandes, Hannover
rainer.mueller-brandes@evlka.de

 


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