Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 9. November 2003
Predigt übe
r Lukas 17, 20-30, verfaßt von Peter Weigandt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Als Christen leben wir in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite ist uns Gottes Gegenwart verheißen - auf der anderen Seite ist das leere Kreuz: Der Sieger über den Tod ist nicht vorzeigbar, im Gegenteil: immer wieder erfahren wir Gottes Abwesenheit. Unsere Zeit ist eine Zwischenzeit. Alltag ist das Normale. Wir haben uns darin eingerichtet, sind in ihm zu Hause. Und wenn wir uns in ihm schon nicht wohlfühlen, so beunruhigt uns doch unser Leben im Alltag noch nicht allzusehr.

Was uns beunruhigt, was uns Angst macht, ist etwas ganz anderes. Das ist die dunkle Ahnung, es könne am Ende ein ganz anderer Blitz aufleuchten und nicht der Blitz, von dem Jesus spricht, der Blitz, der von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet. Wir haben die dunkle Ahnung, unser Blitz könne der eines Untergangs sein, den wir uns selber bereiten.

Welcher Blitz wird es sein? Wir haben für die Zeit, die vor uns liegt, nichts in der Hand: kein Zeichen, keinen Hinweis, sie erträglicher zu erleben. Wir haben allenfalls die Aussicht, daß wir Menschen, so wie wir leben und unsere Welt gestalten, das Ende dieser Zeit schon auf den Weg gebracht zu haben.

Aber daß Gott ausbleibt, daß der nicht kommt, der doch gesagt hat, er werde kommen - das macht uns keine Sorgen. Und so beten wir denn vor Tisch - wenn wir es denn noch tun -: „Komm, Herr Jesu ..." und wissen schon nicht mehr, was diese Worte einst waren: das Gebet der ersten Christen, mit dem sie um das Kommen des auferstandenen Jesus Christus, um das Kommen der Gottesherrschaft, um das Ende der Zeiten baten. Dessen Ausbleiben läßt uns kalt.

Wenn wir überhaupt am verschlossenen Himmel, an der Abwesenheit Gottes leiden, dann doch nur in Grenzsituationen unseres privaten Lebens, etwa wenn wir einen Unfall erleiden oder ein Mensch stirbt, der uns nahe war und nach unserem Ermessen noch gar nicht hätte sterben dürfen. Merkwürdig dabei ist - oder vielleicht auch gar nicht so merkwürdig -, daß wir in Leid und Unglück meistens nicht die Worte „Dein Reich komme" finden, sondern eher schon andere wie das anklagende „Wie kann Gott das zulassen?".

Unsere große Hoffnung auf Gottes Kommen ist dahin - wenn wir sie denn je hatten. Dafür haben wir unsere kleinen und gewiß nicht unwichtigen Hoffnungen des Alltags, daß die Zeit der Trauer vorübergehen wird, daß die Schmerzen nachlassen oder einfach wieder bessere Tage kommen werden. Solche Erwartungen lassen uns nach Enttäuschungen, nach Leiden, nach Zweifeln und Anfechtungen wieder hoffen. Wir - Sie, Ihr, ich -, wir leben unseren mehr oder minder bürgerlichen Alltag, achten auf unser privates Glück und fühlen uns alles in allem im Bereich der Normalität und Durchschnittlichkeit ganz wohl.

Es gibt zwar keine Sicherheit - eher ist alles offen in unserer ungesicherten Zeit. Aber dafür vergessen wir, daß der, dessen Kreuz nun leer ist, zuvor gelitten hat. Und wir vergessen, daß wir, wie wir vor der Predigt gehört haben, das Leiden als seine Gemeinde noch vor uns haben. Ist das ein Grund für die Erfolge der Sekten und Gurus, für den Esoterik-Boom, für den ständig wachsenden Verbrauch an Rauschmitteln aller Art? Mit einem Bild gesagt: Unser Haus brennt ja nicht - noch nicht? -, es qualmt höchstens irgendwo an einer unbedeutenden Ecke ein ganz klein bißchen. Sollten wir uns deshalb aufregen?

Oder ist doch schon etwas mehr zu sehen? Die apokalyptischen Drohungen bekommen wir am Morgen mit der Zeitung frei Haus geliefert. Die technischen Spielereien von Filmen wie „Der Krieg der Sterne", „Star Trek" oder „Matrix", gleich ob sie modelltechnisch oder digital realisiert sind, wirken fast erholsam gegenüber dem Krieg der Sterne, an den Großmächte oder solche, die es gerne wären, denken. Natürlich will ihn keiner haben. Aber wer garantiert, daß er nicht kommt? Das Wort „Apokalypse" hat sich sogar schon in der Pop-Sprache eingenistet ...

Woche für Woche gibt es Neues: Tests mit Raketen, die Atomsprengköpfe tragen können, in Pakistan, Indien, Nordkorea; Spuren atomwaffenfähigen Materials im Iran; Wachsen der Ozonlöcher über beiden Polarregionen; Sturzfluten und Erdrutsche, weil zuviel tropischer Regenwald abgeholzt wurde; Abschmelzen des Eises an den Polkappen - die Reihe läßt sich beliebig verlängern. Ohne Zahl sind die Untergangsszenarien - ganz zu schweigen von den beunruhigenden Nachrichten über die katastrophale Lage bei der Finanzierung des Gesundheitswesens, der doch nicht so sicheren Renten, der sich ständig vergrößernden Steuerlöcher und der riesigen Schuldenberge, die eine von uns durchaus gewollte und mitgetragene Politik in Jahrzehnten angehäuft hat. Und alle diese Bilder, sie sind Bilder nicht von Schicksalsschlägen, sondern von uns Menschen verursachter Katastrophen, gleich welchen Ausmaßes und wenn sie auch treffen werden, die eigentlich niemand will, aber riskiert werden, und die weit und breit keiner ernsthaft aufzuhalten versucht. Etwas zynisch könnte man sagen: Untergang nach Art des Hauses ...

Genau hier wird deutlich, was uns trennt von der Situation der Christen zur Zeit des Lukas, damals im ersten Jahrhundert. Anders als sie haben wir Weltgeschichte wie die eigene Geschichte nicht nur passiv erlebt und oft auch erlitten, sondern aktiv mitgestaltet und gestalten sie auch heute noch aktiv mit. Wir wählen unser Parlament, und wenn wir nicht zur Wahl gehen, treffen wir auch eine Entscheidung, und die von uns gewählten Parlamentarier entscheiden wiederum, und wenn sie es nicht tun, hat auch dies Folgen.

Wenn die ersten Christen getrost auf Gottes Weltlenkung vertrauen konnten, wenn für sie das Gebet aktivster Ausdruck christlichen Lebens in der Welt war, dann ist das heute zu wenig. Denn das hieße: Abschieben von Verantwortung, die wir Menschen übernommen haben. Mancher mag hoffen, daß ja hinter einer sich anbahnenden, hausgemachten, kleineren oder größeren, vielleicht sogar apokalyptischen Katastrophe sich für die Erlösten die Seligkeit eröffnen könnte. Doch das ist ein teuflisches Spiel. Vielleicht leiden wir doch mehr, als wir wahrhaben wollen, und vielleicht ist gerade das Abschieben, das Verdrängen, das Nicht-wahrhaben-Wollen unser Leiden.

Und das heißt: Wo wir heute Bedrohungen unseres Lebens, unserer Welt von apokalyptischen Ausmaßen sehen - da ist kein Anzeichen einer bevorstehenden Wende. Denn diese Bedrohungen kommen nicht von Gott, sondern von Menschen. Und denen können wir nicht in der Haltung des Zuschauers begegnen - denn wir werden nichts sehen, was uns weiterhilft, keine Sicherheit verheißenden Zeichen, nichts.

Erich Fried hat diese Situation einmal so beschrieben:

Es ist geschehen
und es geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen
wenn nichts dagegen geschieht

Die Unschuldigen wissen von nichts
weil sie zu unschuldig sind
und die Schuldigen wissen von nichts
weil sie zu schuldig sind

Die Armen merken es nicht
weil sie zu arm sind
und die Reichen merken es nicht
weil sie zu reich sind

Die Dummen zucken die Achseln
weil sie zu dumm sind
und die Klugen zucken die Achseln
weil sie zu klug sind

Die Jungen kümmert es nicht
weil sie zu jung sind
und die Alten kümmert es nicht
weil sie zu alt sind

Darum geschieht nichts dagegen
und darum ist es geschehen
und geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen

Und trotzdem: was sich erschreckend vor uns auftürmt, will letztlich keiner. Es ist das Ergebnis von Macht- und Interessenkonflikten. Es ist das Ergebnis von Gesetzen, die es nur deswegen gibt, weil sie befolgt werden - wie der so oft berufene Sachzwang. Er ist das Ergebnis von Entscheidungen, deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind, die aber dennoch gefällt werden. Es liegt nicht an einer besseren Ethik oder Moral, ob es ein drohendes Debakel, Fiasko oder Desaster - gleich welchen Ausmaßes - abzuwenden gelingt. Da müssen vielmehr Systeme geändert werden.

Systeme funktionieren so gut, wie ihre kleinsten Einheiten funktionieren. Und die sind wir, jede und jeder von uns. Systeme können geändert werden. Aber gewollt werden müssen diese Änderungen, und durchdacht werden - nicht nur von einigen. Und Zuschauer - und dazu gehört auch die mit jeder Wahl weiter anwachsende „Partei der Nichtwähler"-, Zuschauer, die nur auf ihre ewige Seligkeit aus sind, können nichts wollen, genauer nichts wollen wollen. Wollen wir?

Wo aber bleibt das Reich Gottes, von dem Jesus - so der Evangelist Lukas - sagt, es sei mitten unter uns? Wo wirkt es? Vielleicht dort: Wo sich ein junger Mann liebevoll seiner Frau annimmt, die an einer nicht heilbaren Krankheit leidet, die noch Jahre dauern kann - und sie nicht verläßt; wo eine Fünfzehnjährige, die ein Kind erwartet, von den Eltern nicht vor die Tür gesetzt wird; wo ein schwieriger Mitarbeiter in einem Betrieb nicht gemobbt, sonder ausgehalten wird. Dort, vermute ich, wird etwas davon spürbar, daß es so ist, wie Jesus sagt: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Gottes heilende und heilschaffende Kraft ist erfahrbar, auch in der Gegenwart - jetzt ist der Tag des Heils.

Das Reich Gottes ist unter uns, weil Jesus unter uns ist. Denn er ist derselbe, gestern und heute und wiederkommend: der leidende und am Kreuz getötete Jesus. Auf ihn ist zu sehen und nicht Ausschau zu halten nach irgendwelchen Zeichen. Damit richten sich die Blicke auf uns, die wir ihm nachfolgen, jetzt sein Werk weiter tun wollen. Und das heißt: helfen, trösten, befreien, aus der Enge der Gesetzlichkeit heraustreten, oder weiter ausgreifend: Verantwortung für die Welt übernehmen - auch wenn ein Wort wie Weltverantwortung im Neuen Testament nicht zu finden ist.

Daß uns dabei Hohn und Spott, Leiden und Erfolglosigkeit nicht erspart bleiben werden, damit können wir rechnen. Das können wir aber auf uns nehmen, weil wir die feste Hoffnung haben, daß er, der auferstanden ist von den Toten, kommt, daß er uns nicht verloren gehen läßt, daß wir bei ihm geborgen sind - gegen die Angst vor der Angst, wir könnten uns eines Tages unter veränderten Lebensbedingungen wiederfinden.

Liturgie:

Psalm: Ps 90 i. A. (EG der EKKW 735) oder Ps 90,1-12

Lesung: Röm 14,7-9

Lieder: EG 155,1; 450,1-3; 152,1-3; 153; 421,1

Kyrie: Manchmal fühle ich mich in die Enge getrieben, und die Angst zu versagen schnürt mir die Kehle zu. Manchmal rinnt mir der Sinn meines Lebens wie Wasser durch die Finger, und die Öde der Hoffnungslosigkeit grinst mich aus allen Ecken an. Manchmal schmeckt der Trost biblischer Wahrheit wie abgestandenes Bier, und mein Gebet scheitert schon an der Anrede. Dann werfe ich mich dir in Arme, Gott, und bitte:

Gloria: Wie eine Mutter tröstend ihr Kind in die Arme nimmt, so weist du mich nicht ab, Herr, sondern hältst mich, damit ich nicht noch tiefer falle.

Licht scheint mir entgegen. Ich sehe den Weg. Zuversicht geht mir zur Seite, meine Angst ist verflogen, mein Fuß wird leicht auf der Straße, die heimführt.

Gott, ich danke dir und singe:

Tagesgebet: Gott, Vater, wie im Himmel, so auf Erden. Wir halten Ausschau nach dir, daß die schwierigen Probleme der Welt uns nicht den Blick verstellen. Laß uns den weiten Horizont hoffnungsvoller Erfahrungen schauen durch Jesus Christus ...

Gebet: Wir waren allein mit unseren Fragen und Zweifeln, mit unseren Sorgen und Enttäuschungen, auf unsren Irrwegen und in unseren Sackgassen. Nun wissen wir wieder: Du bist bei uns, Gott. Du bist in deiner Liebe immer bei uns gewesen, im Glück, auch in der Not. Wir haben es nur nicht immer gemerkt. Vergib uns, Herr.

Hilf uns, dein Wort im Wort der Menschen zu hören, die uns gut zureden. Hilf uns, deine Liebe in ihrer Geduld zu erkennen, in ihrer Freundlichkeit und in Hartnäckigkeit. Dann werden auch wir deine Boten sein.

Wir werden uns um Verständnis mühen, wo uns Gleichgültigkeit und Ablehnung begegnen. Wir werden unser Wort sagen, auch wenn man nicht auf uns hört. Wir werden Vertrauen schenken, auch wenn man uns Mißtrauen entgegenbringt. Wir werden Liebe schenken, ohne nach Gegenliebe zu fragen. Wir werden Hoffnung wecken, wo sich Schwermut und Hoffnungslosigkeit breitmachen - in deinem Geist, in der Kraft deines Sohnes Jesus Christus.

Wir freuen uns, daß er da ist - für uns alle, und auch für die, die sich abgewandt haben.

Quellen: Kyrie, Gloria (angelehnt an): Zum Gottesdienstbeginn. Hg. v. Horst Nitschke. Gütersloh 1981. S. 132.

Tagesgebet: Liturgieentwürfe für das Kirchenjahr. 2. Aufl. Frankfurt 1985. S. 358.

Gebet (frei nach): Christian Zippert: Neue Gottesdienstgebete. Gütersloh 1981. S. 85.

Dr. Peter Weigandt
o.cello@t-online.de


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