Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 9. November 2003
Predigt übe
r Lukas 17, 20-25, verfaßt von Werner Schwartz
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Liebe Gemeinde,

wie kriege ich nur beides zusammen: die trübe Stimmung der Novembertage und die Hoffnung, dass das Leben sich lohnt; den Gang zum Friedhof in diesen kürzer werdenden Tagen, die Gedanken an die Verstorbenen unserer Familien und an die Vergänglichkeit, die uns allen droht, und den ganz alltäglichen Lebenswillen, der das alles an den Rand zu drängen versucht; die Erinnerung an die Vernichtung eines Volkes, die mit planvoller Propaganda begann und sich schrittweise zum erkennbaren Verbrechen steigerte, und die ganz normale Sehnsucht nach einem glücklichen, erfüllten Leben und einer heilen Welt?

Wie kriege ich nur beides zusammen? Wenn es sich überhaupt zusammenkriegen lässt. Wenn nicht beides einfach unverbunden nebeneinander stehen bleiben muss als Zeichen dafür, dass das Leben zwiespältig ist und seine Spannungen nicht ausgeglichen werden können.

Haben nicht die recht, die sagen: So ist die Welt, voller Sehnsucht und voller Grausamkeit, daran ändert sich nichts, so lange sie besteht? Menschen suchen nach Glück, und Menschen quälen einander, auch deshalb, weil sie das Glück für sich selbst reservieren möchten, es nicht teilen möchten mit anderen. Das muss man hinnehmen?

Da bleibt kaum anderes als den Kopf einzuziehen, damit das Elend wenigstens einen selbst nicht trifft. Durchkommen, überleben, das Beste daraus machen, irgendwie wird's schon weitergehen, es wird schon wieder werden, das wird zur Lebensmaxime.

So ist die Welt. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist , und sich aufs eigene Leben konzentriert und zusieht, dass es einigermaßen gut geht. Das scheint die Regel zu sein, nach der wir leben. Vergessen, verdrängen, sich drüber weghelfen, irgendwie weiterwursteln, es wird schon weitergehen.

Doch selbst in diesem Weiterwursteln, ein bisschen resigniert, auch wenn sich die Resignation als Lebensklugheit gibt, bleibt doch eine Sehnsucht wach: Die Sehnsucht nach einem Leben, das gelingt. Nach Liebe und Geborgenheit, nach Sinn, den man entdecken möchte im Leben, einem Stück Sinn wenigstens, wenn schon das Ganze nicht zu finden ist. Etwas Sinnvolles tun, einen Beruf finden oder haben und behalten, eine Partnerschaft erleben, die Geborgenheit gibt und Glück, Erfolg haben und vielleicht eine Familie, wenigstens zu bestimmten Zeiten ein glückliches Leben genießen, im Urlaub, an den Wochenenden, in der Freizeit, mit den Schwierigkeiten zurechtkommen, vor die das Leben stellt. Die kleine Münze für die große Suche nach Sinn und Erfüllung, nach Glück.

Von da ist so weit gar nicht zu der Frage dieses Bibelabschnitts: Wann kommt das Reich Gottes? Wann werden wir den guten Zustand der Welt erreichen? Dieses Bild, das Reich Gottes, steht ja für die Erwartung auf Glück, die wir haben, vollkommenes, unendliches Glück, und nichts fehlt mehr daran. Ob es sich lohnt, auf die Antwort hinzuschauen, die Jesu auf die Frage nach dem Reich Gottes gibt?

Drei oder vier Dinge sind mir wichtig geworden beim Nachdenken darüber.

(1) Noch vor der Frage, wann das Reich kommt, die andere Frage: Was ist das denn, das Reich Gottes? Klingt ein bisschen fremd, auch wenn wir's im Vaterunser immerzu beten, gleich zweimal in diesem Gebet: Dein Reich komme. Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Reich Gottes, Herrschaft Gottes, das sind Begriffe, die in der jüdischen Tradition so schwer gar nicht zu verstehen sind.

Die Geschichte ist ja einfach: Gott hat die Welt geschaffen, und siehe, sie war sehr gut . Bis dann die Freiheit des Menschen diese gute Welt aufs Spiel gesetzt hat. Die Arbeit wird zur Mühe, im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Und mit dem Neid kommen Mord und Totschlag in die Welt, sichtbar an Kain, der den Abel erschlägt, Verderbtheit bis hin zu Zuständen wie in Sodom und Gomorra.

Dieser Geschichte des Verderbens will Gott Einhalt gebieten, sie umkehren. Er erwählt sich sein Volk, Israel, mit Abraham, Isaak und Jakob, Mose und Aaron, gibt ihm Gebote für ein gutes Zusammenleben und sorgt durch seine Propheten dafür, das Volk immer wieder auf den Weg zu Frieden und Gerechtigkeit zu rufen. Sein Gesetz soll gelten: Leben und Gerechtigkeit für alle; im Kult die Vergewisserung über die Ordnung der Welt, in der wir leben, im Recht die Regelung des Zusammenlebens und im Erbarmen der Ausgleich für die Armen und Schwachen, denen das Leben nicht von allein das bietet, was sie brauchen. Ein komplexes System, dieses System von Recht und Kult und Erbarmen, das ein einziges Ziel hat: Der gute Gott soll in der Welt herrschen, sein Wille, sein Gesetz soll die Welt ordnen, damit alle leben.

Herrschaft Gottes, Reich Gottes – Ausgang und Ziel der Weltgeschichte, Anfang und Ende und Richtschnur für das Leben dazwischen.

(2) Wenn das das Reich Gottes ist, dann bleibt die Frage, wo es jetzt, in der Zeit zwischen Anfang und Ende, zu erfahren ist.

20 Als er von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.

Was im griechischen Neuen Testament steht, ist doppeldeutig. Das zeigen schon die Übersetzungen, die die Lutherbibel über die Jahrhunderte hinweg bietet. Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Und: Das Reich Gottes ist mitten unter euch.

Beides scheint einander zu widersprechen: Innerlich oder äußerlich, aber doch nicht beides zugleich. Eine Sache des Gefühls, des Vertrauens, der Verinnerlichung, der Religiosität – oder eine Sache der Weltgestaltung, der Aktion, der erfahrbaren Gerechtigkeit und Liebe. Was denn nun?

(2.1) Unbestritten: Religion hat mit Innerlichkeit zu tun. Es geht um Gefühle, um Vertrauen, um das Wissen, dass wir kleine Menschen eingebettet sind in den großen Zusammenhang der Welt, dass ein Größerer uns trägt, Gott, der die Welt geschaffen hat und vollenden will.

Aber Innerlichkeit nicht im Sinn einer Erleuchtung, über die man kaum mehr sprechen kann, einem geheimen Wissen, das einen zum Rückzug von der Welt treibt, ins Kämmerlein mit dem Buch, in den Zirkel von Gleichgesinnten, esoterisch-solipsistisch oder dogmatisch-fanatisch ins Aus der Gesellschaft.

Innerlichkeit eher als der Halt, den ich erfahre, wo ich weiß, woher meine Welt kommt und wohin sie geht. Als Vergewisserung meines Stands in der Welt, der mir Gelassenheit gibt und mich freimacht zum Tun.

(2.2) Das nämlich gehört für jeden Glauben, der sich auf die Bibel beruft, den jüdischen wie den christlichen, zum Heiligen, zur Religion hinzu: das Tun des Gerechten, die Ethik, die Moral, die Gebote, der Einsatz für die Nächsten. Ohne Tun ist der Glaube tot. Und wenn tausendmal das Rechte geglaubt wird. Oder besser: Das Rechte wird halt nicht geglaubt, wo es nicht zum Einsatz füreinander freimacht.

So einfach ist die Brücke zwischen beiden Möglichkeiten, diesen Satz zu verstehen: Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Was inwendig in mir ist, drängt nach außen. Und was nach außen hin geschieht, ist die einzige Möglichkeit, dass sich sichtbar zeigt, was ich innen empfinde und weiß. Die Verinnerlichung des Glaubens führt unmittelbar zur Verwirklichung des Glaubens.

Damit ist ein großes Thema der jüdisch-christlichen Religion angesprochen. Die Sicht einer Welt, die Gott gut geschaffen hat und nach all den Katastrophen, die in ihr geschehen, die weitaus meisten durch Menschenschuld, gut werden lassen will. In einem Prozess, der lange schon begonnen hat und uns zur Mitarbeit braucht. Das Reich Gottes kommt, weil es inwendig in uns und mitten unter uns ist, weil wir andere werden und anders handeln.

Nach der Entstehung der Welt, der kosmischen Evolution , der Entwicklung der Elemente, der chemischen Evolution , und der Entfaltung des Lebens, der biologischen Evolution , steht der vierte Abschnitt der Evolution noch aus: die kulturelle Evolution . Wir müssen lernen, miteinander zu leben, eine Kultur zu entfalten, die über den Urzustand des Kampfes um das Leben ( struggle for life , Charles Darwin) und des Überlebens der Tüchtigsten ( survival of the fittest ) hinausführt. Eine Motivation braucht das, Regeln, Gebote vielleicht, die Normen setzen. Eine ganze Kultur der Werte muss sich entfalten, und das braucht viele, braucht alle, die mittun.

In dieses Szenario ist das eingebunden, wovon die Bibel spricht: die Zusage Gottes und die Hoffnung der Menschen, die Erwartung des Reiches Gottes und die Mühe um Regeln des Zusammenlebens. Wir haben nur in den letzten Jahrzehnten im Rausch der Selbständigkeit, mit dem wir unsere Mündigkeit gefeiert haben, die tragenden Strukturen des Lebens vergessen. Wir haben die Autonomie der einzelnen zelebriert und gemeint, alle Schranken hinter uns lassen zu können.

Wir haben verbraucht, was uns tragen kann: Kultur, Moral, Ethik, Werte. Und wir kommen in diesen Tagen manchmal ans Erschrecken und fragen verzweifelt, woher wir die Kraft finden, etwas davon wieder zu restaurieren. Wir entdecken, dass wir diesen Prozess nicht fortsetzen dürfen, dass wir umkehren und uns neu orientieren müssen.

Dazu lädt dieser doppelte Satz ein. Die Wurzeln des Ethos neu finden. In dem Prozess, in dem Gott die Welt verändert. Und dann mittun an unserer Stelle. Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Beides, innen und außen. Die Welt gestaltet sich um, und das ist schon da, in uns und um uns, unter uns.

[(3) Und wann kommt dieses Reich Gottes, am Ende, wenn es kommt?

22 Er sprach zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! 24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

Das kennen wir, die Aufgeregtheit derer, die das Weltende erwarten. Sie versuchen die Zeichen der Zeit zu deuten, meinen Schlimmes zu sehen und machen manchmal Angst. Wir nehmen sie nicht ernst. Das ist uns alles zu abenteuerlich, zu verschroben. Siehe, hier! Siehe, da! Das nehmen wir ihnen nicht ab.

Zum Glück gibt Jesus uns recht darin. Obwohl wir gerade ihm solche Weltuntergangserwartungen doch auch zugetraut hätten. Es gefällt uns, wenn er hier zur Nüchternheit mahnt, nicht den falschen Propheten hinterherzulaufen.

Er wird uns allerdings unbequem, wenn wir weiter drüber nachdenken. Siehe, da! Siehe, hier! Das ist doch unsere Art, mit den Phantasien vom Glück, der Erwartung der besseren Welt umzugehen. Das noch haben, jenes kaufen, Weihnachten steht vor der Tür. Die Zahl der Prospekte, die ins Haus flattern, zeigt's deutlich. Sie suggerieren, das Heil sei im Konsum zu finden, die Unendlichkeit im Irdischen.

Ein guter Teil unseres Lebens ist auf dieser Erwartung aufgebaut. Unser Lebensplan, unsere Arbeit, mit den allerbesten Absichten, unsere Freizeitgewohnheiten, nahezu alles.

Dem erteilt Jesus eine Abfuhr. So ist's nicht. Lauft dem nicht nach. Das ist trügerisch. Das wahre Glück, das Reich Gottes, liegt jenseits des Sichtbaren. Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Es ist so total anders, dass die stärksten Bilder nur ausreichen, es auch nur annähernd zu beschreiben.]

(4) Aber/Und wie kommt's dann zu uns?

24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. 25 Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.

Plötzlich, überraschend. Richtig beschreiben lässt sich da nichts. Wo doch soviel Sehnsüchte und Erwartungen, enttäuschte Hoffnungen und erlittene Enttäuschungen in diesem Hoffnungsziel aufgehoben sind: Reich Gottes. Es kommt wie ein Blitz, plötzlich, unvermittelt. Es leuchtet auf. Und – wenn das Bild vom Blitz stimmt: dann ist es auch schon wieder unsichtbar. So ist das mit dem Reich Gottes.

Dass das Reich Gottes aufbricht, mitten im Alltäglichen, das haben wir immer schon erlebt. All die Liebe und Barmherzigkeit, die uns begegnen. Ein ermutigendes Wort, wo wir es nicht erwartet haben. Verlässliche Freundschaft, die Krisen übersteht. Das Erstaunen, die Kraft zu finden, über den eigenen Schatten zu springen, großzügig zu sein, verzeihend, offen und freundlich. Der heilige Zorn, der in uns aufsteigt, wenn wir sehen, dass in unserem reichen Land die sozialen Probleme eher immer schlimmer werden. Reich Gottes, das aufblitzt, mitten im Alltag. Die Zeit bleibt stehen, eine andere Wirklichkeit bricht in sie ein.

Allerdings nicht ohne Leiden. Das gehört hinzu. Das Leiden. Die Hoffnung auf Gottes Reich schließt das Leiden, die Angst nicht aus. Denn das ist Gottes Weg. Nicht auf den Gipfeln entlang, nicht mit den Arrivierten und Tüchtigen, den Leistungsträgern und Hochmögenden. Sondern unten, wo die Schwachen leben, die Kleinen. All die, deren Leben verkümmert, die getreten werden und schon abgestumpft sind. Mit denen ist er.

Der Weg Gottes ist nicht der Königsweg der menschlichen Herrschaft und Macht. Mein Reich ist nicht von dieser Welt . Sein Herrschaftsprinzip heißt Sorge füreinander, Liebe, Erbarmen, Solidarität, Hilfe für die Schwachen. Weil die Welt erst dann gut und das Leben erst dann erfüllt ist, wenn alle am Leben teilhaben, wenn alle haben, was sie brauchen, und keine und keiner leer ausgeht.

In den Spitzenzeiten unseres Lebens kommt uns eine Ahnung davon an: Das Leben gelingt, wo wir teilen, wo wir uns füreinander einsetzen, miteinander an dem Ziel arbeiten, dass die Welt schön und das Leben menschlich wird.

Eine große Hoffnung, diese Hoffnung auf das Reich Gottes. Und eine große Aufgabe, dafür tätig zu sein. Aber eben auch die Zusage, im Gleichklang mit der Kraft Gottes zu leben und zu arbeiten, die in dieser Welt am Werk ist. Eine Perspektive, in der wir leben können. Mit dem großen Ziel vor Augen, in den kleinen Schritten unseres Alltags.

Mit der Last unseres Lebens, all dem Verkorksten, das es auch gibt, all den Verletzungen, die wir haben hinnehmen müssen und die wir anderen zugefügt haben. Mit der Last der Geschichte, ihren Greueln, die das Leben vergiften, auf Jahrzehnte hinaus.

Doch wir haben die Chance, das Leben neu zu sehen und in dieser Sphäre zu leben: Das Reich Gottes bricht an. Das feiern wir ja auch, wenn wir Abendmahl feiern. Wir bitten um Vergebung für die Schuld, die wir alle auf uns geladen haben, kleine und große Schuld. Wir feiern die Liebe Gottes, die diese Welt erlösen will. Und wir lassen uns stärken für den Weg, den wir gehen, in der Spur, die er vorzeichnet, in der Hoffnung auf sein Reich, inwendig in uns, mitten unter uns. Amen.

Pfarrer Dr. Werner Schwartz, Vorsteher
Evangelische Diakonissenanstalt, 67343 Speyer am Rhein
Telefon 06232 - 22 1202, Fax 22 1587, eMail w.schwartz@diakonissen-speyer.de
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