Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

20. Sonntag nach Trinitatis, 2. November 2003
Predigt übe
r Markus 10, 13-16, verfaßt von Jan Ulrik Dyrkjøb (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Zu allen Zeiten hat man Grenzen gesetzt um das Heilige. Heilige Stätten, Opferstätten, eingegrenzte Bereiche, wo Rituale und Prozessionen stattfanden, heilige Berge, heilige Steine, heilige Bäume, heilige Quellen, Stätten, an denen Mirakulöses geschehen ist, Tempel, Synagogen, Moscheen, Kirchen. Alles abgegrenzte Stätten, Bereiche und Räume.

Wir wissen auch von heiligen Stätten oder heiligen Räumen oder Bereichen, die besonders heilig sind. Wir kennen den allerheiligsten Tempel in Jerusalem im alten Israel. Und wir haben den Altar und den Chorraum als einen besonderen Teil des Raumes in unseren alten Kirchen.

Wir kennen auch heilige Zeiten. Das Leben besteht aus Alltagen, aber es gibt auch die besonderen Tage. Einige von ihnen nennen wir noch immer "Feiertage", in der dänischen Sprache "heilige" Tage, im Deutschen z.B. "Heiligabend"! Das sind die kirchlichen Feiertage, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und andere Feiertage im Laufe des Jahres.

Und dann gibt es Feiertage und Gedenktage in unserem Leben - nicht zuletzt in unserem Familienleben. Auch das sind besondere Tage. Die Reihe von Alltagen wird unterbrochen. Wir halten ein. Etwas Besonderes tut sich, etwas Besonderes, das unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Etwas ist anders, etwas, das in irgendeinem Sinne heilig ist.

Warum gibt es Grenzen um das Heilige? Warum muß das Heilige etwas Besonderes sein in bezug auf das Gewöhnliche?

Die einfachste Erklärung ist natürlich die, daß das Heilige eben immer etwas Besonderes ist. Das Heilige unterscheidet sich von allem anderen und ist anders. Wir brauchen das Heilige, aber das Heilige ist nicht dasselbe wie die allgemeine Welt und das allgemeine alltägliche Leben. Es existiert und geschieht in der Welt, aber es gehört in einer gewissen Weise nicht in die Welt.

Wenn wir dem Heiligen begegnen, werden wir daran erinnert, was der Sinn des Lebens ist. Dann holen wir Kraft, um das Leben weiterzuleben. Dann werden wir mit den dunklen Seiten des Daseins versöhnt - mit Schuld, Unglück und Tod. Und wenn wir mit dem Heiligen in Berührung gekommen sind und aus ihm Stärke empfangen haben, können wir in das alltägliche Leben zurückkehren.

Es gibt aber auch eine andere Pointe. Das Heilige unterscheidet sich vom alltäglichen Leben und wird von ihm abgesondert, weil wir es in gewisser Weise nicht ertragen können, immer mit dem Heiligen zu tun zu haben. Es ist zu anders. Es ist zu stark. Es ist zu herausfordernd. Vom Heiligen geht eine Kraft und eine Orientierung für unser Leben aus, die wir nicht entbehren können, die wir aber auch aus Distanz halten müssen. Wenn wir immer ganz eng am Heiligen wären, würde uns das zu viel.

Es liegt tief in uns Menschen, daß wir meistens gewöhnliche Menschen sein wollen, die in der Welt leben. Wir brauchen den Alltag und das Leben in der Welt. Wir brauche die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens, die Arbeit, die gemacht werden muß, die Mahlzeiten, das Zusammensein, das Gespräch um alltägliche Dinge, Stille, Spiel, Lachen, die einfache und bunte Mischung des Daseins, das Licht am Morgen, das wirksame Leben des Tages, die nachdenkliche Ruhe des Abends.

All das ist in gewisser Weise weit weg von dem Besonderen, dem Feierlichen, Gewaltigen, das wir nicht fassen können, den Idealen, Visionen, dem Wort Gottes, der Rede Gottes, der unbedingten Forderung Gottes, dem Segen Gottes.

Wir können etwas von dem sehr konkret veranschaulichen, wenn wir auf die Geschichte der Kulturen und Religionen zurückblicken. Man hat heilige Stätten gehabt, wo sich die Leute versammelten, um ihren Göttern zu opfern und sie anzubeten und ihre Feste zu feiern. Und oft waren diese "Stätten" verbotene Stätten.

Das bedeutete: Wenn man sich im Bereich des Heiligen befand, mußte man allen Streit hinter sich lassen. Wenn sich mehrere Stämme an einem Ort versammelten, mußten alle Stammesfehden für eine Weile ruhen. Das galt zum Beispiel für Mekka in der Zeit vor Mohammed. Hier war im heidnischen Arabien ein wichtiger Ort, die Götter anzubeten, ein Ort des Friedens für die Wüstenstämme. Man durfte nicht einmal Jagdbeute machen oder Pflanzen aus der Erde reißen. Der Heilige Ort war ein Bild des Paradieses.

Aber dort konnte man ja nicht leben! Dort konnte man hingehen und Segen empfangen und Versöhnung schaffen, aber man mußte ins Leben zurückkehren. Zurück zum Kampf ums Überleben. Es war notwendig, eine scharfe Grenze zu setzen zwischen dem heiligen Ort und dem Leben draußen - wegen der Heiligkeit - aber auch um des Lebens willen.

Das Heilige muß eingegrenzt werden, und der, der die Grenze überschreiten will, muß dafür gerüstet sein. Man muß vorbereitet sein. Man muß eingeweiht sein. Man muß Priester haben, die stellvertretend für alle anderen in den Bereich des Heiligen eintreten können. So ist es auch immer gewesen.

Von hier aus wollen wir uns nun dem Bericht zuwenden, den wir gehört haben und so gut kennen. Jesus sagt zu den Jüngern: "Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, den solcher ist das Reich Gottes".

Wir hören diese Worte bei jeder Taufe. Wir kennen die Worte so gut, daß wir leicht ihre wirkliche Reichweite übersehen. Man sagt nicht zu viel, wenn man sagt, daß diese Worte etwas vom Aufsehenerregendsten und Revolutionärsten sind, das jemals gesagt worden ist.

Man denke daran, was das, was Jesus hier sagt, eigentlich beinhaltet! Jeder kennt ja die Grenze zum Heiligen und weiß, daß das eine unverrückbare und undurchdringbare Grenze ist. Jeder weiß: Wenn wir eine Verbindung zum Heiligen benötigen, müssen wir aus dem Alltag hinaus in den Bereich des Heiligen.

Wir müssen den Segen an einem heiligen Ort holen, im Tempel, an einem Wallfahrtsort - oder wo wir den Segen und die Kraft sonst finden können. Und wir müssen vorbereitet und eingeweiht werden. Oder wir müssen eine heilige Person haben, die uns vertritt. Oder wir müssen zumindest das Gesetz kennen, das Gott gegeben hat, und es einhalten.

Aber Jesus sagt, daß diese kleinen Kinder, die nicht einmal so groß sind, daß sie selber gehen können, direkt Zugang zum Heiligen haben. Sie haben direkten Zugang zum Reich Gottes, ihnen gehört das Reich Gottes.

Sie sind keine Erwachsenen. Sie sind unmündig. Sie stehen außerhalb von Gesetzen und Regeln. Sie haben nichts von der Gesellschaft, der Religion und den Traditionen gelernt. Sie haben keine irgendwie geartete Einweihung erhalten.

Was Jesus sagt, ist ja dies: Wir brauchen keine besonderen heiligen Stätten. Wir brauchen keinen Tempel und keine Synagoge. Wir brauchen das Gesetz nicht zu erlernen und die heiligen Schriften nicht zu kennen. Wir brauchen keine besondere Einweihung oder einen besonderen Segen oder eine besondere Genehmigung.

Denn allein weil wir Menschen sind - so wie diese Kinder Menschen sind - wird und alles geschenkt, was Gott uns zu geben hat. Das Reich Gottes ist uns geschenkt. Es ist unser Erbe, es gehört uns wirklich. Das Heilige kennt keine Grenzen. Gott kennt keine Grenzen.

Ehe wir dazu gekommen sind, uns irgendwelche Gedanken darüber zu machen, wie wir Gott finden und mit dem Heiligen in Verbindung kommen sollen, hat Gott längst umfassend für uns gesorgt.

Er hat am Anfang Himmel und Erde geschaffen, er umfaßt alles. Wir können in keiner Weise etwas unternehmen, was uns Gott näher bringen kann als wir schon sind.

Und das, worüber Jesus spricht, ist nicht nur ein möglicher Weg zu Gott. Es ist der einzige Weg! "Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen".

Es bleibt nichts anderes als alle Grenzen zu vergessen und alle Rituale und Einweihungen abzuschaffen, alle heiligen Häuser einzureißen und alle heiligen Stätten zu beseitigen. Das sind ja alles Wege, auf denen wir glauben, in das Reich Gottes kommen zu können. Aber es nützt nichts. Es gibt nur einen Weg: Das Reich Gottes zu empfangen so wie ein kleines Kind das empfängt, was ihm Mutter oder Vater gibt.

Wir haben es eigentlich immer gewußt. "Herr unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!" (Ps. 8,2) So sagt der Psalmist. Wir haben es gehört. Es gibt keine Grenzen. Gott setzt keine Grenzen.

Wir haben es immer gewußt. Aber die Apostel und die Jünger müssen es neu lernen, und wir müssen es neu lernen. "Gehet hin und macht zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den namen des Vaters und des Sohnes und es heiligen Geistes" (Matth. 28,19).

Jesus spricht nicht von einem bestimmten Volk, sondern von allen Völkern. Er redet nicht von Kirchen und Pastoren und Systemen und Ordnungen. Er spricht allein von der Taufe: Du empfängst das Reich Gottes und die Kraft Gottes allein, weil du ein Mensch bist: "Er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie". So einfach war das, so einfach ist das.

Und was ist daraus geworden? Haben wir das Reich Gottes empfangen? Hat Gott seine Welt in Besitz genommen? Ja, Gott hat seine Welt in besitz genommen. Aber nein, wir haben vergessen, worum es geht. Wir haben den Gedanken an das Heilige vergessen. Wir rechnen nur damit, daß die Welt unsere Welt ist.

Die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Alltäglichen ist mit Jesus durchbrochen, aber mit der Zeit geschah dies, daß das Heilige fast ganz aus der Welt verschwunden ist. In unserem Teil der Welt haben wir einen enormen Abstand zu Gott geschaffen. Und das Anliegen hier ist ja gerade das Gegenteil!

Was Jesus verkündet, bedeutet ja nun, daß die Grenze des Heiligen an die Grenze der Welt verlegt ist. Die Grenze geht nicht mitten durch die Welt, sondern liegt außerhalb der Welt. Nun ist alles heilig. Nun umfaßt Gott alles. Nun leben wir mit Gott und für Gott - immer und überall. Nun gibt es nichts, das so gering ist und so alltäglich, daß es gleichgültig wäre für Gott. Nun sind wir unendlich gesegnet und unendlich verantwortlich. Das ist fast nicht zu ertragen!

Das ist nicht zu ertragen - aber eben das will das Evangelium.

Wir neigen immer dazu, das Evangelium zu reduzieren. Wir machen es zu etwas weniger, als es ist. Vergebung der Sünden. Zusage der Liebe Gottes. Daß der Vater Jesu im Himmel unser Vater im Himmel wird. All das ist richtig. Aber es ist zu wenig.

Das Evangelium ist eine Verwandlung unseres ganzen Wirklichkeit. Alles ist anders. Alle Stätten sind heilige Stätten. Alles Zeiten sind heilige Zeiten. Alle Menschen sind Menschen Gottes. Alles steht unter der Herrschaft Gottes in und mit Christus.

Wir hören in der Epistel: "Es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem und es besteht alles in ihm ... er, der der Anfang ist, der Erstgeborede von den Toten, auf daß er in allen Dingen der Erste sei. Denn es ist Gottes Wohlgefallen gewesen, daß in ihm alle Fülle wohnen sollte" (Kol. 1,17f.). Was ist das anderes als eine ganz andere Wirklichkeit als die, welche die Welt je gekannt hat! Amen.

Pfarrer Jan Ulrik Dyrkjøb
Knud Hjortsøvej 26
DK-3500 Værløse
Tel.: ++ 45 - 44 48 06 04
e-mail: jukd@vaerloesesogn.dk

 


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