Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

19. Sonntag nach Trinitatis, 26. Oktober 2003
Predigt übe
r Markus 2, 1-12, verfaßt von Dörte Gebhard
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,
heute hören wir als Predigttext eine Geschichte voller Wunder. Sie fängt damit an, daß es bei Jesus mehr als überfüllt war, weil unglaublich viele Leute sehen wollten, was es mit dem neuen Wort Gottes auf sich hat. Aus dem 2. Kapitel bei Markus lese ich die Verse 1 bis 12:

„Und nach einigen Tagen ging [Jesus] wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, daß er im Hause war.
Und es versammelten sich viele, so daß sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür, und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten:
Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, daß sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh’ auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wißt, daß der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so daß sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.“

Liebe Gemeinde,
so ist es auch heutzutage: bei Jesus ist es mehr als voll, die Menge ist so groß, daß für manche kein Raum bleibt, nicht einmal draußen vor der Tür.
Und das nicht nur zur Weihnachtszeit! Bei Jesus sammeln sich die Massen, mit allen Vor- und Nachteilen, die damit verbunden sind.
Das glauben Sie nicht? Sie kennen keine überfüllten Kirchen?
Trotzdem ist es so, gerade gegenwärtig: Unglaublich viele drängen sich um Jesus, noch vielmehr als seinerzeit in Kapernaum.
Denn immer wieder erzählen mir einzelne Menschen, daß es ihnen ergeht wie dem Gelähmten: Sie können nicht zu Jesus Christus durchdringen, sie gelangen nicht zu ihm. Sie wollten gerne an Gott glauben können, aber sie bringen es nicht fertig, sie schaffen es nicht mehr.
Warum? Dafür gibt es ungefähr so viele Gründe wie andere Leute. Es ist tragisch, aber wahr: Menschen können einander den Glauben an Gott unmöglich machen.
Denen, die etwas tun wollen, die um Gottes Willen die Zustände nicht lassen können, wie sie sind, sind es viel zu viele, die sich unpolitisch, mutlos und viel zu kompromißbereit verhalten.
Aber denen, die Vergewisserung und geistliche Erbauung suchen im Hören auf Gottes Wort, die angewiesen sind auf Ruhe und Meditation inmitten einer hektisch-oberflächlichen Welt, sind es viel zu viele Aktivisten, viel zu viele Weltverbesserer. Den Experimentierfreudigen gibt es viel zu viele, die an den Traditionen hängen, den Konservativen viel zu viele spontane Chaoten.

Den einen gibt es immer viel zu viele von den anderen, die so anders sind, daß sie nicht nur den Weg zum Glauben, sondern schon die Aussicht auf Jesus Christus verstellen und damit auch unhörbar machen, was er zu sagen hat.
Der Gelähmte damals konnte von sich aus auch nicht zu Jesus vordringen:
„ Und es kamen einige zu Jesus, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und sie konnten ihn nicht zu ihm bringen wegen der Menge ...“
Denn viel zu viele Menschen mit zwei gesunden Füßen drängelten sich um Jesus. Da hatte er mit seiner Trage keine Chance, obwohl sie doch eigentlich ganz leicht zu transportieren war. Aber dazu brauchte er Leute, die nicht nur zwei heile Füße haben, sondern auch mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Im Gegensatz zu ersteren sind letztere seltener. Das ganze Dorf Kapernaum ist auf den Beinen und vier denken an den Gelähmten und nehmen ihn mit. Immerhin vier!

Diese vier gehören zu den Wundern dieser Geschichte, denn sie tragen den Gelähmten mit Leichtigkeit. Alles, was die Sache irgendwie erschweren könnte, ist glücklicherweise nicht überliefert:
- nicht, ob sie geächzt und gestöhnt haben,
- ob der Gelähmte bitten und betteln mußte, um von ihnen getragen zu werden oder ob er sie gar herumkommandiert hat,
- ob sie es anfänglich widerwillig taten oder aus irgendeinem Pflichtgefühl,
- wer die Idee mit dem Dach hatte, ob er erst ausgelacht wurde, später dann eingebildet und stolz war ...
Das alles ist unwichtig und daher wundervoll: Die vier sind einfach da und rücken mit dem fünften auf. Von solchen Menschen mag man gern abhängig sein. Denn das sind wir ja alle: Abhängig voneinander wie der Gelähmte von seinen Trägern; von Geburt an und ein ganzes Leben lang.

Selbständigkeit ist seit einiger Zeit ein hoher Wert. Jeder möchte eigentlich allein zurechtkommen. Das verbindet sogar die fast 18jährigen mit den Senioren; der eine erwartet ungeduldig seinen Geburtstag und die andere will möglichst lang in ihren eigenen vier Wänden bleiben, aber beide wollen sie selbständig sein.
Aber wir sind es nie ganz, weder nach dem 18. Geburtstag, noch, wenn wir niemals ins Altersheim ziehen.

Wir sind und bleiben abhängig, erst recht in Glaubensfragen. Wir sind von klein auf und auch noch, wenn wir schon längst erwachsen sind, angewiesen auf die, die uns in die Nähe Jesu bringen, die uns Überliefertes weitersagen. In die Nähe Jesu müssen wir gebracht werden, getragen wie der Gelähmte, wir können nicht selbständig und aus eigener Kraft zu ihm gelangen, alles selbst erschließen, wir müssen zurückfragen, die alten Texte hören; brauchen jemanden, der mit uns betet.

Einerseits ist es tragisch, aber wahr: Menschen können einander den Glauben an Gott unmöglich machen.
Aber andererseits ist es wundervoll und ebenso wahr: Menschen können einander in die Nähe Jesu bringen.
Aber dazu braucht es nicht einfach Leute, die sich um Jesus herumdrängeln, alles ganz interessant und spannend finden, sondern solche Träger wie die vier, die das Dach aufgraben und damit einen neuen Zugang eröffnen, wo sonst zu viele andere davor sind. Es ist paradox: Die Vielen sind interessiert, sogar begeistert, aber sie stehen doch im Wege, weil sie nicht selbst aktiv werden. Aber genau da ist unsere Selbständigkeit gefragt und gefordert, unsere Kreativität und Aktivität.

Auch Kirchen können bis oben hin zugemauert sein und den Blick auf Jesus hoffnungslos verstellen für alle, die nicht ohne Hilfe kommen können.
Regelmäßig, immer, wenn es wieder zu viele geworden sind, muß das Dach aufgegraben werden, damit der Himmel wieder zu sehen ist.
Denn der Himmel steht offen durch die Tat der vier.
Ebenso muß das Evangelium heute vermittelt werden, aber nicht von Herumstehenden, sondern von Menschen, die selbständig aktiv werden, die einen Zugang finden, neu und unverbraucht. Denn wir müssen nicht nur alle in die Nähe Jesu getragen werden, wir können alle auch selbst Träger sein. Der ehemals Gelähmte kann dann ja nicht nur sein Bett tragen, sondern fortan mit drei anderen zupacken und, wo nötig, auf’s Dach steigen.

Wesentlich ist für die Träger nur eines: ihr Glaube. „Als nun Jesus den Glauben [der vier] sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Die Träger haben Glauben nötig, stellvertretenden Glauben.
Diesem stellvertretenden und entscheidenden Glauben der Träger lohnt es sich, noch etwas nachzugehen. Die Frage ist, nicht nur für den Gelähmten: Was trägt die Träger?
Die vier glauben so fest daran, daß ihr Tun etwas nützt, daß es Jesus sofort auffällt. Vielleicht ist ihr Glaube nichts anderes als Liebe zu dem Bettlägerigen oder ihr Glaube ist eine unbändige Hoffnung, daß der Gelähmte diesmal endlich gesund wird.
Jedenfalls glauben die vier für den fünften und tun stellvertretend, was dieser nicht kann: Sie kommen – alle miteinander – in die Nähe Jesu.

Nun mögen Sie freilich einwenden: Die Momente, in denen ich stellvertretend geglaubt habe und handeln mußte, sind sehr selten, wenn nicht gar einzigartig. Auch die vier haben ja nicht alle Tage Dächer abgedeckt. Vielleicht denken Sie bei stellvertretenden Entscheidungen an extreme Situationen, etwa, wenn die Frage der Organspende für einen eben Verstorbenen zu klären ist, der seinen letzten Willen nicht kundgetan hat.
Dietrich Bonhoeffer erklärt das stellvertretende Handeln für andere an Eltern, die ihre Kinder ins Leben tragen. Aber das ist nur ein besonders einleuchtendes Beispiel für den allgemeinen Grundsatz, daß wir alle, weil wir Verantwortung füreinander haben, auch stellvertretend handeln müssen. Noch der einsamste Mensch handelt stellvertretend – für nachfolgende Generationen; auch von seinem verantwortungsbewußten oder unverantwortlichen Lebensstil hängt das Wohl und Wehe der zukünftig Lebenden ab.
Verantwortung hat nie ein isolierter Einzelner, auch nicht eine namenlose, große Masse, wie sie sich nach der Überlieferung bei Jesus in Kapernaum versammelt, sondern immer Menschen, die Verantwortung füreinander haben wie der Gelähmte und seine Träger.
Ohne eine kompliziertes System von stellvertretenden Institutionen könnte z.B. unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Genau um die Grundlagen und Grenzen der Stellvertretung drehen sich derzeit die politischen Debatten: wer für wen wieviel Krankenkassenbeiträge zahlt und zahlen müßte, wieviele für wieviele wann noch welche Rente erarbeiten können.
Ohne die Solidarität stellvertretenden Handelns ginge es nicht schlechter – es ginge gar nicht.

Aber ist Stellvertretung nicht eine heillose Überforderung? Kann man stellvertretendes Handeln überhaupt verlangen oder gar fordern? Ist nicht für sich selbst sorgen schon schwer genug? Schon die Entscheidungen, die man für sein eigenes Leben trifft, sind unabsehbar!
Lohnt es sich, für einen vorläufig Unbekannten auf’s Dach zu steigen? Wird die Enttäuschung nachher nicht maßlos sein?
Das tragende Prinzip der Stellvertretung steht bei Paulus: „Einer trage des anderen Last.„

Das klingt zuerst verlockend, aber ein bißchen zu einfach und daher ein wenig weltfremd. Durch den Nachsatz wird es ein realistisches Wort: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gebot Christi erfüllen.“
Das Paradies auf Erden erscheint nicht, auch wird nicht versprochen, daß man selbst dann auch immer getragen wird. Auch wird nicht die Illusion verkündet, daß es nachher allen wunderbar geht. Lasten müssen nach wie vor getragen werden! Und immer noch unterschiedlich schwere, nicht alle genau gleich viel.
Aber füreinander dasein, stellvertretend glauben und handeln ist uns von Christus geboten und dient der Liebe Gottes unter den Menschen. Im Lichte dieser langmütigen und freundlichen Liebe, die alles trägt, alles glaubt und alles hofft, haben wir eingangs unsere Sünde bekannt. Ich bin gewiß: Stellvertretendes Tun läßt mich unentwegt schuldig werden. Statt anzufassen, habe ich keine Lust. Um loszugehen, müßte ich mehr Zeit haben. Wenn der Weg aber länger dauert, werde ich ungeduldig. Statt anderer Menschen Last zu tragen, bin ich nachtragend und belaste mich mit dem Ärger von vorgestern. Wenn ich mitmache, frage ich, was es mir bringt. Vor allem aber: Ich steige viel zu selten auf’s Dach, damit andere den Himmel sehen können.

Daher ist das größte Wunder der Geschichte nicht, daß aus dem Getragenen einer wird, der selbst tragen kann, sondern die Sündenvergebung. Die Schriftgelehrten wissen genau, daß es allein darauf ankommt.
„ Einige Schriftgelehrte dachten in ihren Herzen:
Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“
Jesus fragt sie:
„ Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh’ auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wißt, daß der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“

Das Wunder tut Gottes Sohn allein.
Es ist wahr: Menschen können einander durch ihren Glauben in die Nähe Jesu bringen. In die Nähe, nicht mehr und nicht weniger. Aber was dort geschieht, steht allein in Gottes Hand. All unserem stellvertretenden Glauben und Tun ist durch Gottes große Güte eine Grenze gesetzt: Auch wenn wir uns noch so sehr abmühen wie die vier Träger, die im Schweiße ihres Angesichts das Dach aufdecken und es wirklich weit bringen: Über das Wohl und Wehe des Gelähmten und aller Menschen entscheidet zuletzt Gott.
Gott vergebe uns unsere Sünde und sein Friede, der höher ist als all unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

Dr. Dörte Gebhard
Oberaustr. 2A
53179 Bonn
doerte.gebhard@web.de


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