Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

19. Sonntag nach Trinitatis, 26. Oktober 2003
Predigt übe
r Markus 2, 1-12, verfaßt von Peter Maser
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Predigt in der Universitätskirche Münster

Liebe Gemeinde,
liebe Schwestern und Brüder!

Im Winter 1931/32 entdeckten die Archäologen in Dura Europos eine kleine Hauskirche, die in der Zeit um 230 n. Chr. entstanden ist. Dura Europos liegt im östlichen Syrien und war einst eine römische Garnisonstadt an den äußersten Grenzen des Imperiums im Osten. Die Soldaten und ihre Familien hatten alle möglichen Religionen und Kulte mit an ihren entlegenen Einsatzort am Ufer des Euphrat mitgebracht. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts gab es dann auch so viele Juden und Christen in diesem Außenposten der römischen Zivilisation, daß sie sich bescheidene gottesdienstliche Stätten in zu diesem Zweck umgebauten Wohnhäusern direkt an der Stadtmauer errichten konnten. Das war wahrlich keine 1A-Lage. Die damals mächtigen Kulte bauten ihre prächtigen Tempel selbstverständlich im Stadtzentrum. Die Entdeckung der Hauskirche in Dura Europos bedeutete aber eine archäologische und kirchengeschichtliche Sensation erster Klasse, hatte man doch damit die älteste bisher bekannte Hauskirche überhaupt freigelegt. Rund 80 Jahre vor der Konstantinischen Wende war in Dura Europas ein Kirchenbau entstanden, dessen Entdeckung noch spektakulärer wurde durch die Tatsache, daß dieses frühchristliche Gemeindezentrum in einem Raum ausgemalt worden war. Hier waren keine großen Künstler am Werk, vielmehr erinnern ihre Malereien durchaus an Kinderzeichnungen. Trotzdem sind diese Fresken in einem Kirchenraum der vorkonstantinischen Zeit für die Christliche Archäologie von höchsten Wert, sind sie doch etwa zeitgleich mit der frühen Katakombenkunst Roms.

Unter den Szenen, die die Christen von Dura Europos für wichtig genug hielten, sie sich dauerhaft vor Augen zu stellen, finden wir den Guten Hirten, Adam und Eva, die Frauen am Grabe, das samaritanische Weib, Jesu Meerwandel mit dem sinkenden Petrus, David und Goliath und eben die Illustration jener Wundergeschichte, die wir heute in der Predigt zu bedenken haben: die seltsame Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen. Da sieht man zunächst den Schwerkranken bewegungsunfähig auf seinem Bett liegen und dann – wie in einem Comic-Strip - den gleichen Mann, wie er aufrecht, mit weitausholendem Schritt sein kühn geschultertes Bett davonträgt.

Ich bekenne gerne, daß mir die Erzählungen über die Heilungswunder Jesu immer etwas unbehaglich sind. Ich weiß doch genau so gut wie Sie, wieviel ungeheilte Krankheiten in dieser Welt sind. Ich weiß doch wie Sie, wie viele Gebete Tag für Tag offensichtlich ergebnislos um Heilung für sich selbst oder für geliebte Menschen zum Himmel aufsteigen. Ich weiß doch wie Sie von den bitteren Fragen: Warum gerade mir oder dieser oder jenem dieses böse Geschick einer unheilbaren Krankheit? Ich weiß doch wie Sie um das bedrückende Sinnieren: Ist diese Krankheit die Strafe für mein bisheriges Leben? Und dann die Berichte, daß Jesus hin und wieder Menschen geholfen hat. Warum wird er dann nicht in dem für mich so aktuellen Fall aktiv?

Ich kann mir vorstellen, daß solche und ähnliche Fragen auch schon die Christinnen und Christen von Dura Europos gepeinigt haben. Und ich frage mich: Weshalb haben sie sich gerade die Illustration der Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen an die Wände ihres gottesdienstlichen Raumes malen lassen? Vielleicht wollten sie damit genau das erreichen, was unser Predigttext auch heute von uns fordert. Vielleicht wollten sie dazu auffordern, sich der einzelnen Elemente dieser Erzählung immer wieder so zu erinnern, damit sie allmählich zu erahnen beginnen, wie Gott durch Jesus an seinen Menschen handelt.
Schauen wir deshalb noch einmal genauer auf unseren Predigttext hin.

1. Der Gichtbrüchige ist wirklich ein Schwerstkranker, der in einer Welt, die noch keine ausgebauten Pflegeeinrichtungen und keine Pflegeversicherung kannte, auch sozial ein hoffnungsloser Fall war. Er kann sich in seinen Leibesnöten nicht mehr helfen, er kann aber auch nichts mehr für den eigen Unterhalt und den seiner Familie tun.

2. Dieser Gichtbrüchige hat aber Freunde. Die kümmern sich um ihn, die besuchen ihn und die kommen, als sie hören, daß da dieser Jesus, von dem so Erstaunliches zu hören ist, nach Kapernaum kommt, auf die Idee: Versuchen wir doch auch noch das. Schaden kann es ja nichts. Diese Freunde tragen den Kranken mitsamt seinem Bett quer durch den ganzen Ort hin zu dem Haus, in dem Jesus Quartier genommen hat. Ich kann mir vorstellen, wieviel Hohn und Spott sie schon auf dem Weg dorthin ertragen mußten: Was soll das mit diesem Krüppel? Dem kann doch niemand mehr helfen. Aber die Freunde halten das aus und kommen vor das Haus, in dem Jesus sich aufhält. Und schon sind sie mit der nächsten Schwierigkeit konfrontiert: Das Haus ist wegen Überfüllung geschlossen. Da führt kein Weg hinein. Echte Freunde wagen in solcher Situation aber auch das eigentlich Unmögliche. Die Freunde des Gichtbrüchigen decken das Dach des Hauses ab und lassen das Bett mit dem Kranken von oben her in den überfüllten Raum, in dem Jesus predigt. Es ist diesen Freunden ganz egal, daß sie stören. Sie wollen dem Kranken helfen.

3. Wir brauchen nicht viel Phantasie, um uns vorzustellen, welchen Aufruhr diese Aktion produzierte. Jesus aber reagiert sofort und das ist einer doppelten Weise. Er sieht die gläubige Entschlossenheit der Freunde, denen nichts zu aufwendig ist, um ihrem Kameraden zu helfen. Und damit beginnt eigentlich schon das Wunder: Jesus hinterfragt den Glauben dieser Menschen nicht kritisch. Er fordert keine Bekenntnisse irgendwelcher Art von ihnen. Er schaut auf das aberwitzige Vertrauen dieser Männer, unterbricht seine Predigt und wendet sich dem Kranken ganz persönlich zu.

4. Jesus tut nun aber zunächst etwas ganz Unerwartetes: Er betätigt sich nicht sogleich als der große Wunderheiler, sondern er sagt zu dem Kranken: Deine Sünden sind dir vergeben! Da gibt es keine Diskussionen darüber, von welcher Art die Sünden des Kranken gewesen sein mögen, sondern die schlichte Zusage: Alles, was in deinem bisherigen Leben falsch gewesen ist, womit du dich gegen Gott, deine Mitmenschen und auch gegen dich selbst vergangen hast, das ist nun Vergangenheit. Das ist abgetan, das muß auch nicht mehr aufgearbeitet werden. Ich mache dich frei davon. Du darfst einen völligen Neuanfang machen. Ich ändere durch dieses mein Wort das Vorzeichen vor deinem Leben von einem großen Minus in ein ganz großes und umfassendes Plus!

5. Für die anwesenden Theologen ist diese Zusage Jesu ein eindeutiger Eklat. Wie kommt dieser Jesus dazu, etwas zu tun, was doch Gott alleine zusteht? Wer so handelt, der lästert Gott! Ihre Empörung laut auszusprechen wagen diese Gottesgelehrten allerdings nicht, merken sie doch, wieviel Zustimmung Jesus bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern findet. Aber Jesus spürt, wie sie da vor sich hin mosern und sich bedeutungsvoll anschauen. Und er geht diese Kritiker mit brutaler Offenheit mit der Frage an: Was ist eigentlich einfacher? Diesem Menschen einen Ausweg aus seinem verfehlten Leben zu eröffnen oder diesen hoffnungslosen Krüppel zu heilen? Wenn es den Theologen nicht die Sprache verschlagen hätte, würden sie wahrscheinlich gesagt haben: Worte sind billig, natürlich ist es schwieriger, ja sogar unmöglich, diesen Invaliden wieder auf die Füße zu stellen.

6. Jesus aber wartet diese Antwort nicht ab, sondern er handelt. Der Gichtbrüchige erhält die knappe Weisung: Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim! Und der, der sich nun schon seit Jahren schon kaum noch selbständig regen konnte, steht auf, schultert seine Bettstatt und geht davon als wäre das völlig selbstverständlich. Genau diese Situation hat sich die Gemeinde von Dura Europas an die Wände ihrer Kirche malen lassen. Die Christinnen und Christen dieser Stadt in der tiefsten Provinz hatten begriffen: Hier ist Entscheidendes, auch für sie selber Entscheidendes passiert. Die große Möglichkeit, die in dem Geschehen in Kapernaum aufleuchtete, gilt auch uns. Daran wollen wir uns Sonntag für Sonntag erinnern lassen.

7. Die Menschen in Kapernaum reagierten auf die Ereignisse auf eine doppelte Weise. Einerseits sind sie entsetzt. Sie begriffen nämlich, was hier passierte. Da wurden einem Menschen ganz neue Lebenschancen eröffnet, indem ihm die Vergebung seiner Sünde wirkungsmächtig zugesprochen. Und da wurde eine wunderbare Heilung Ereignis, die sich medizinischen Erklärungsversuchen entzieht. Wahrscheinlich würden wir auch zunächst so reagieren, wenn wir Zeugen eines Ereignisses werden, in dem Gott selber ganz offensichtlich wirkt. Daß die Gottheiten in ihren Tempeln aktiv sind, das gehörte sozusagen noch in den normalen Vorstellungshorizont hinein. Daß Gott nun aber so sichtbar im Alltag wirkt, das muß Angst und Schrecken auslösen. So nahe kann uns Gott in seiner Gnade kommen. So konkret kann das Handeln Gottes an uns werden. Diese Erkenntnis muß erst verarbeitet werden, bevor das Lob dieses Gottes möglich wird.

Liebe Schwestern und Brüder, die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen behält ihre Anstößigkeit auch dann, wenn wir sehr genau auf sie hinhören. Und machen wir es uns in frommer Selbstgenügsamkeit da auch nicht zu einfach. Daran, daß uns die Vergebung unserer Sünden zugesprochen wird, haben wir uns gewissermaßen gewöhnt. Das erleben wir bei jeder Abendmahlsfeier. Aber ist denn die Vergebung der Sünden wirklich selbstverständlicher als die Heilung eines unheilbar Kranken? Geschieht Vergebung der Sünden praktisch automatisch, wenn die liturgischen Rahmenbedingungen stimmen? Vielleicht könnte zunächst das die Botschaft unseres Predigttextes heute an uns sein, daß er uns neu bedenken lehrt, welches Wunder da geschieht, wo Gott Sünde vergibt, wo er verfehltes Leben heilt und das Vorzeichen unseres Lebens von Minus auf Plus umstellt. Nichts ist da selbstverständlich! Die frohe Botschaft davon, daß Sündenvergebung möglich ist, sollte uns immer wieder neu in Bewegung bringen: Gott macht mich tatsächlich frei von den Lasten der Vergangenheit. Da wird Schuld nicht abgeschrieben, da wird nichts zugekleistert oder verdrängt, da gibt es aber die fröhliche Gewißheit: Ich darf noch einmal neu anfangen, weil Gott zu mir steht. Wer so etwas einmal erfahren hat, weiß: Da wird ein neuer Mensch geboren!

Der russische Dichter Dostojewski hat uns auf mehreren hundert Seiten die grausame Geschichte des Mörders Raskolnikow erzählt. Für den Bericht darüber, wie diese zerstörte Seele die Vergebung der Sünde erfährt, brauchte der Dichter am Schluß seines großen Romans aber nur noch ganz wenige Zeilen: „Hier beginnt bereits eine neue Geschichte, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Sinneswandlung, des allmählichen Überganges aus einer Welt in eine andere, des Bekanntwerdens mit einer neuen, ihm bis dahin völlig unbekannten Wirklichkeit.“ Die Wortkargheit des großen Epikers an dieser Stelle ist mir immer sehr eindrücklich gewesen. Das ist die Geschichte von der wundersamen Heilung zerstörten Lebens. Wo solches Wunder möglich ist, da mag es dann auch hin und wieder das Wunder körperlicher Heilung geben.

Die Christenmenschen in Dura Europas und wir sollen gewiß sein: Wir dürfen um die Vergebung unserer Sünden bitten. Wir dürfen auch um körperliche Heilung bitten. Auf welche Weise Gott diese Gebete erhört, das werden wir erfahren – ganz persönlich und oft so, daß Außenstehende überhaupt nicht begreifen können, was da eigentlich geschieht zwischen Gott und uns. Nur das sollen wir wissen: Es geschieht und es betrifft immer den ganzen Menschen. Darauf dürfen wir uns verlassen, welche Wege auch immer wir geführt werden durch Schuld und durch Krankheit hin zu jenem Leben im Vollsinne des Wortes, das Gott für uns bereitet hat. Amen.

Prof. Dr. Peter Maser, Münster
Peter.Maser@t-online.de

 


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