Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

18. Sonntag nach Trinitatis, 19. Oktober 2003
Predigt übe
r Markus 12, 28-34, verfaßt von Ulrich Nembach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Größe der Liebe

I.

Liebe Gemeinde,
es ist schon einige Zeit her, da bekam ein junger Mann die Chance, auf einem wunderschönen Schiff mitfahren zu können. Er bekam die Chance buchstäblich in letzter Minute. Er ist ganz glücklich. Er kann sein Glück gar nicht fassen. Auf dem Schiff fährt ein junges Mädchen mit. Sie, genau genommen ihr Verlobter ist sehr reich. Der junge Mann ist arm. Die Fahrkarte für die Schiffsreise konnte er nicht bezahlen. Er gewann sie beim Kartenspiel. Der junge, arme Mann und die junge Verlobte des reichen Mann verlieben sich. Alles andere ist für sie fortan unwichtig. Sie fahren auf dem Schiff in getrennten Welten. Sie wohnt, speist bei den Reichen und er bei den Armen. Damals fuhren arm und reich streng getrennt. Die Trennung überwinden die beiden Liebenden. Das viele Geld ihres reichen Verlobten interessiert das Mädchen gar nicht. Ihre Mutter ist entsetzt.
Sie, liebe Gemeinde, haben längst gemerkt, dass ich von dem Film „Der Untergang der Titanic" spreche.

Früher, Jahrhunderte früher, spielt eine ähnliche Geschichte. Zwei Familien sind spinnefeind mit einander. Sie sind schon seit langem miteinander verfeindet. Da verlieben sich ein Mädchen aus der einen Familie und ein junger Mann aus der anderen Familie. Auch hier vergessen die Liebenden alles andere, auch die Feindschaft ihrer Familien, die ihren Eltern noch immer wichtig ist.
Auch hier haben Sie längst gemerkt, dass ich von einer bekannten Geschichte erzähle, von Romeo und Julia.

Bei beiden Geschichten hörten Sie mir zu, obwohl Sie die Geschichten kannten.
Von dem Roman von Hanns-Josef Ortheil, "die große Liebe" – er kam gerade bei der Buchmesse in Frankfurt/M groß heraus – bekennt ein Rezensent im Internet: „Habe es in einer Nacht durchgelesen. Konnte es nicht mehr weglegen.“ Am Schluss seiner Rezension schreibt er: „Lese es sicher bald wieder.“
Menschen begegnen sich, verlieben sich und alles andre wird unwichtig. Wer zuschaut, davon hört, davon liest, ist begeistert.

Die Liebe ist schon merk-würdig. Kein Wunder ist es darum, dass Jesus und ein Besucher sich daran einig sind, dass die Liebe das wichtigste Gebot unter allen 613 jüdischen Geboten ist.
Hören Sie unseren heutigen Predigttext:

Markus 12,28 – 34:
"Es trat zu ihm der Schriftgelehrten einer, der ihnen zugehört hatte, wie sie sich miteinander befragten, und sah, dass er ihnen fein geantwortet hatte, und fragte ihn: Welches ist das vornehmste Gebot vor allen ?
29 Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste Gebot vor allen Geboten ist das: "Höre Israel, der HERR, unser Gott, ist ein einiger Gott;
30 und du sollst Gott, deinen HERRN, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften." Das ist das vornehmste Gebot.
31 Und das andere ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Es ist kein anderes Gebot größer denn diese.
32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrlich recht geredet; denn es ist ein Gott und ist kein anderer außer ihm.
33 Und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele, und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten wie sich selbst, das ist mehr denn Brandopfer und alle Opfer.
34 Da Jesus aber sah, dass er vernünftig antwortete, sprach er zu ihm: "Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes." Und es wagte ihn niemand weiter zu fragen."

II.

Was macht eigentlich die Liebe zur Liebe? Ein Gebot – sagt der Predigttext. Gut, fragen wir weiter: Was macht die Liebe zum vornehmsten Gebot?
Als ich über diese Frage nachdachte, kam mir eine Idee: Wenn viele Israelis und Araber sich ineinander verliebten, wären Dschihad, Hamas, Panzer, Hubschrauber usw. vergessen. Liebe lässt Hass, Streit, ja selbst Krieg vergessen. Liebe ist die Abwesenheit von Hass und Streit. Liebe ist grenzenlose Zuwendung zum anderen. Liebe ist darum schön – so schön, dass wir gern, ja fasziniert zuhören, die ganze Nacht durchlesen.
Liebe ist die Umwertung aller Werte. Liebe ist die Neubestimmung von Prioritäten. Nur noch eine bzw. einer zählt: Julia bzw. Romeo.

Im großen Meyerschen Lexikon wird Liebe beschrieben als „starke Zuneigung, intensive Liebeserklärung“. Ich finde, wer so schreibt, hat noch nie geliebt. Wir können Liebe gar nicht definieren. Sie ist dafür viel zu groß. Ich habe darum eben eine ganze Aufzählung gegeben, was Liebe alles ist. Sie ist so groß, dass uns dafür die Worte fehlen. Unsere Sprache ist am Alltag orientiert. Liebe findet im Alltag statt, aber verändert, ja sprengt ihn. Wir müssen darum, wenn wir von der Liebe sprechen, auf Begriffe ausweichen, die viel zu klein, zu blass sind, um das auszudrücken, was gesagt werden muss. Wir müssen darum einen Roman oder ein Theaterstück schreiben, einen Film drehen. Vielleicht schreiben deshalb unsere Zeitungen so viel über Krieg, Hass, Gewalt, weil sie die beschreiben können. Aber wir lassen uns damit nicht abspeisen. Trotz Kriegsberichte laufen wir in den Film "der Untergang der Titanic". Ja, merkwürdig eine Schiffskatastrophe wird zum Rahmen für eine große Liebe.

Was für die Liebe zwischen Mann und Frau gilt, trifft auch auf die Liebe generell zu. Die Liebe zum Nächsten lässt einen Geschäftsmann sein Geschäft vergessen und einem Armen, am Straßenrand Liegenden zu helfen. Die Geschichte ist so packend, dass sie rund um die Welt geht, zu den bekanntesten Geschichten der Bibel wurde, die Geschichte von dem Geschäftsmann aus Samaria, dem barmherzigen Samariter, wie wir ihn auch nennen. Ja, dieser Geschäftsmann vergisst vor lauter Mitgefühl seine Furcht. Er sorgt sich nicht um seine Gesundheit, um seine Waren, obwohl Räuber hier waren. Was sie hinterlassen haben, spricht eine eindeutige Sprache und die heißt eigentlich: Nichts wie weg! Aber die Liebe spricht lauter, stärker, lässt ihn bleiben. Heute helfen Männer im Irak, eine Schule an einem Ort aufzubauen, wo alle anderen Helfer abgereist sind, weil die Sicherheitslage dort so schlimm ist.

Ebenso stark ist die Liebe von Menschen zu Gott. Menschen bekannten sich zu Gott unter Hitler, unter Stalin, in der DDR und anderswo. Sie bekannten, obwohl das Bekennen für sie gefährlich werden konnte und für manche gefährlich wurde. Ihre Liste ist lang. Wir haben eine eigene Bezeichnung für diese Menschen seit den Anfängen der Kirche: Märtyrer.

Diese Liebe von Mensch zu Mensch wie die von Mensch zu Gott hat auch einen Gegensatz. Haben Romeo und Julia als Gegensatz zu ihrer Liebe die Feindschaft ihrer Familien, so steht der Liebe von Mensch zu Mensch die Habgier gegenüber. Der Gegensatz zur Liebe von Menschen zu Gott ist Ablehnung oder Interesselosigkeit, die heute verbreiteste Form der Antiliebe zu Gott.

Zu dieser Antiliebe des Menschen zu Gott steht im Gegensatz Gottes Liebe zum Menschen. Ja, wer von der Liebe spricht, kann nur in Gegensätzen reden. Liebe ebnet Gegensätze ein. Wo ihr das nicht gelingt, wird der Gegensatz zum so größer. Warum sind Menschen gegen Gott, wo Gott für sie ist, sie liebt? Wie groß diese Liebe Gottes ist, wird in der Bibel immer wieder deutlich. Darum stehen die schönsten Liebesgeschichten in der Bibel. Die Bibel hat die meisten Erfahrungen mit der Liebe.

III.

Die Bibel kennt viele Liebesgeschichten. Sie fängt gleich mit einer an, mit der von Adam und Eva. Die schönste von allen diesen Liebesgeschichten steht fast am Schluss der Bibel. Es wird dort beschrieben, nicht definiert. Gott wendet sich ganz dem Menschen zu. Er tut das in einer Art und Weise, wie eine Mutter ihrem kleinen Kind hilft. Das Kleine kommt angelaufen. Das Gesicht ist ganz mit Tränen verschmiert. Die Mutter tröstet; sie wischt die Tränen ab. Die Kinderwelt ist wieder in Ordnung.

Ich lese die Geschichte, wie Gott uns tröstet ( Offenb. 21,3f):
"Und ich hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen
Ulrich.Nembach@Theologie.Uni-Goettingen.de

 


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