Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

18. Sonntag nach Trinitatis, 19. Oktober 2003
Predigt übe
r Markus 12, 28-34, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
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Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und all deinen Kräften, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Dieses doppelte Liebesgebot ist wohl die Summe des Christentums. Darum geht es in unserem Leben, wie es Jesus dem Schriftgelehrten gegenüber ausdrückt.

Aber dieses Sowohl als auch: Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt und den Nächsten wie sich selbst - da werden viele sagen, daß für sie das Christentum nur im zweiten Gebot enthalten ist, dem Gebot der Nächstenliebe. Das ist das Entscheidende, sagen sie, daran müssen wir heute festhalten. Der Glaube an Gott aber ist eher als ein mythologischer Rest zu betrachten oder eine religiöse Auffassung, die wir nicht mehr in der gleichen Weise teilen können. Also: Wir sollen einander ordentlich behandeln. Wir sollen unserm Mitmenschen Respekt entgegenbringen. Aber die Sache mit Gott ist Privatsache. Das ist ein Wort, mit dem wir möglicherweise etwas anfangen können, vielleicht aber auch nicht.

Dieses humanistische, wenn auch vom Christentum geprägte Denken ist mir oft begegnet - bei Konfirmanden, Taufeltern, Brautleuten und vielen anderen, denen ich begegnet bin.

Aber ich glaube, und darüber möchte ich heute etwas sagen, daß die beiden Gebote eng miteinander zusammenhängen. Ich glaube, daß unsere Auffassung vom Menschen ganz von unserem Gottesbild abhängt. Und deshalb ist es auch nicht möglich, das Verhältnis zu Gott vom Verhältnis zum Nächsten zu trennen.

Zunächst: Können wir überhaupt verstehen, wer unser Mitmensch ist - ohne Gott? Es ist ja klar, daß wir heute viele biologische und psychologische Theorien haben, die je in ihrer Weise den Menschen beschreiben. Aber verstehen wir deshalb, was der Mensch für ein Wesen ist? Sind das nicht eben nur Theorien, Beschreibungen, bei denen es uns nie in den Sinn kommt, sie auf Menschen anzuwenden, die wir liebhaben? Wir werden in einer biologischen Theorie nie etwas Entscheidendes darüber sagen können, wer der ist, den wir lieben. Da müssen wir uns einer Sprache bedienen, die in irgendeiner Weise religiös ist.

Und man könnte sich ja auch die Frage stellen: Wie würden wir einander sehen, wenn wir uns nun vorstellten, daß wir kein Christentum hätten oder eine andere Religion? Wenn alle Kirchtürme verschwunden wären und alle religiöse Traditionen, auch die Kritik an ihnen, nicht mehr da wären?

Der verstorbene dänische Theologe Helmut Friis hat einmal ein Essay mit dem Titel "Gott" geschrieben, und dort stellt er sich vor, daß einige Menschen auf dem Mond sitzen, ohne von Gott zu wissen oder ohne zu wissen, was Glaube oder Atheismus ist. Er fragt: Wie würden sie die Erde sehen? Da würden, sagt er, Untertöne auftauchen. Wenn sie eines Tages mit ihrem Fernglas den blauen Planeten sehen würden, die Erde, würden sie sich wundern. Sie würden damit anfangen, die Erde zu verehren. Sie würden allmählich ihr Leben im Lichte des blauen Planeten sehen, mit Augen, die gefärbt sind von seinen gesättigten, auratischen Nuancen. Die Erde würde ihnen als ein lebendiges Wesen erscheinen im Verhältnis zum toten Mond, wie ein Auge im Gegensatz zur Blindheit des Mondes, das sie ansieht. Jeden Abend, wenn die Sonne untergegangen war und der blaue Planet den leeren Raum erleuchtete, würden sie Loblieder auf ihn singen, ja ihre Hoffnung auf ihn richten. Und sie würden allmählich ihren Mond als den Ort erleben, der nur ein wenig von dem blaugrünen Wesen in sich hat. Er würde ein schwacher Abglanz dessen sein, was auf dem blauen Planeten ist, wo ein Stein nicht nur ein Stein ist und ein Gesicht nicht nur ein hautbedeckter Schädel, sondern ein Bild von etwas, was anderswo noch blauer und lebendiger ist. Sie würden jede Freude, die sie spürten, als Vorfreude zur eigentlichen Freude draußen im Raum erfahren. Sie würden sich fühlen, als hebe sich die Schwerkraft auf, die Haare erheben sich, sie werden leichter, durchsichtig, bläulich. Und als sich einer von ihnen verliebt, stellt sich Helmut Friis schließlich vor, flimmert es athmosphärisch vor seinen Augen, er sieht das Blau in ihren Augen und sagt: "Du kommst von dem blauen Planeten".

Das ist natürlich ein kurioses Gedankenspiel, sich denkende Bewußtsein auf dem Mond vorzustellen, die unser Leben hier auf Erden nicht kennen. Aber das, was Helmut Friis damit sagen will, ist ja, daß wir uns selbst und einander ganz natürlich als Spiegelungen von etwas erleben, das größer ist. Auf dem Mond sind wir gleichsam von blauen Planeten gesandt. Hier auf Erden sind wir himmlische Wesen, Kinder unseres himmlischen Vaters, oder wir sind im Bilde Gottes geschaffen - alles Formulierungen, die zeigen, daß wir an einer Wirklichkeit teilhaben, die größer ist als wir. Nur auf einem sehr intellektuellen und theoretischen Niveau, sagt Helmuth Friis, können wir den Menschen auf einen biologischen Organismus reduzieren, ganz gleich wie kompliziert dieser Organismus auch sein mag. Denn von Angesicht zu Angesicht erleben wir im anderen Menschen stets eine Heiligkeit, etwas, was uns göttlich gegeben ist. Schon in unserer Wahrnehmung erhält der Andere eine Bedeutung, die nicht von uns stammt.

Wir können den Menschen von unten betrachten, mit reduzierten biologischen Theorien. Wir können den Menschen andererseits als ein sehr hoch entwickeltes Bewußtsein sehen. Aber wir erfassen so nicht das Entscheidende, das, was der Andere in mir sieht.

Aber wir können den Menschen auch von oben betrachten, als Gottes Geschöpf, und dann ist Raum da, um das Rätselhafte, das Unerklärliche zu verstehen, daß der Mensch Ansätze aufweist, die über uns hinausreichen. Dann verstehen wir die Würde des Menschen auch in einem kleinen Kind.

Wenn wir mit einem neugeborenen Kind in den Armen dastehen, dann wissen wir: Wir stehen mit einem himmlischen Wunder da, nicht weniger. Es ist uns gegeben, aber es ist nicht unser Eigentum. Es ist etwas ganz Besonderes. Es gehört Gott. Und das kommt u.a. auch in der Taufe zum Ausdruck.

Und wenn wir in das Gesicht eines anderen Menschen schauen, wissen wir: Der Mensch ist ein Rätsel, eine Tiefe, die wir nicht ergründen können, ein Spiegel der unerklärlichen Welt Gottes.

Der andere Mensch gehört Gott, so wie ich auch. Und das Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, bedeutet also: Du sollst den von Gott geschaffenen Menschen lieben! Du hast etwas vor dir, das größer ist als wir, etwas Heiliges, etwas, worüber wir nicht bloß verfügen können oder mit dem wir machen können, was wir wollen. Das heißt Gott im Anderen sehen und so dem Anderen Raum geben, so zu sein wie er ist.

In dieser Weise hängen die Gebote unlösbar zusammen. Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Trotz aller Schwächen und Unvollkommenheiten, die wir natürlich bei einander sehen können, haben wir die wunderbare Wirklichkeit Gottes im Anderen wie in uns selbst vor uns. Und deshalb geht es eigentlich auch nicht in erster Linie darum, nur den Schwachen Gutes zu tun, die in den Augen vieler nichts wert sind, sondern darum, den Anderen, wer es auch immer sein mag, als ein Wunder Gottes zu sehen, das ich, so gut wie möglich, schützen soll und dem ich Raum geben soll.

Du sollst deinen Nächsten lieben: Das heißt den Menschen lieben, in dem dir Gott begegnet und den Gott dir begegnen läßt. Und du sollst den Herrn deinen Gott lieben: Das bedeutet, daß du dich getragen weißt von seiner Liebe wie auch dein Nächster. Der Gott, den du liebst, begegnet dir eben im Gegenwärtigen, in dieser Welt, in den Menschen, mit denen du nun einmal lebst. Gott lieben, ohne den Menschen zu lieben, das wäre luftige Träumerei und oft auch Gefühlsduselei.

Deshalb kann es nie um ein Entweder oder gehen, so als liebe man entweder Gott oder den Menschen. Es ist ein Sowohl als auch. Wenn wir Gott im Nächsten lieben, wenn wir unseren Nächsten als den geheiligten, von Gott geschaffenen Menschen lieben, der er stets ist, dann handelt es sich um dieselbe Liebe. Gott und meinen Nächsten lieben, das heißt sich einer Nähe und Gegenwart hingeben, einer Wirklichkeit, die größer ist als wir und wo man eigentlich nicht trennen kann zwischen Gott und Mensch.

Und nirgendwo wird das deutlicher als in Christus, in Jesus von Nazareth, der in den Evangelien als der eingeborene Sohn Gottes verkündigt wird. Wer ist er? Was denkt ihr von dem Christus? So lauten die Fragen im Matthäusevangelium. Ist er der Sohn Davids, ist er aus dem Geschlecht Davids und in diesem Sinne ein Mensch wie wir? Oder ist er der Herr König Davids, also Gott? Ist er die Manifestation Gottes, der Sohn Gottes?

Er ist nicht nur himmlischer Herkunft wie wir, nicht nur im Bilde Gottes geschaffen, wie wir. Er ist das leuchtende und klare Bild Gottes, all das, was Gott wohl als Möglichkeit in uns allen sieht, was aber nur in Christus voll und ganz da ist. Er ist Offenbarung Gottes, Angesicht Gottes und zugleich Mensch, mehr menschlich als wir.

Deshalb geschieht es auch, daß die Gegenwart Gottes, die Liebe Gottes deutlicher wird als irgendwo sonst. Und man sieht, wie die Menschen, denen er begegnet, zu sich selber kommen und zu lebendigen Personen werden, die sie zuvor nicht gewesen sind. Man sieht, daß geplagte, niedergedrückte Menschen sich erheben mit Würde, frei und himmlisch wie nie zuvor. So als hätten sie nicht gewußt, wer sie sind - nun aber wissen sie es.

Jesus umgibt sich vor allem mit Menschen, die in irgendeiner Weise unterdrückt sind und ausgeschlossen. Im Licht von oben, im Licht der Liebe aber wachsen sie zu ihrer wahren Größe. Sie können nun leben und sein als die, die sie sind. Nun wissen sie durch die Begegnung mit ihm, daß ihr Leben kostbar ist, wunderbar geschenkt von Gott. Nun wissen sie, trotz allem anderen, trotz Sünde und Schande und Elend, daß sie jeden Tag in der Liebe Gottes leben und Großes vor Augen haben. In der Liebe Gottes sehen sie mehr als vorher. Sie sehen, daß sie und jeder von uns Gott gehören.

Gott lieben oder den Nächsten lieben - wo Christus ist, ist das niemals eine Alternative oder eine Frage, ob man das eine soll oder das andere. Den der Andere erscheint stets im Lichte Gottes, und man Gott im anderen Menschen. Das Reich Gottes ist darum auch nicht so, sagt Jesus, daß man es zeigen kann und sagen kann: Hier ist es! Das Reich Gottes ist mitten unter euch. In dem Reich, hier unter all den anderen Menschen, sollt ihr im Lichte der göttlichen Liebe leben und sein, lieben und sehen.

Also: Liebe deinen Nächsten, und dann bist du bei Gott! Und liebe deinen Gott, alles, was er dir in seiner Liebe gibt, und du bist bei deinem Nächsten. An diesem doppelten Gebot hängt, sagt Jesus, das ganze Gesetz und die Propheten. Alles, was in Wahrheit gesagt und geschrieben ist, beruht darauf. Amen.

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk


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