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17. Sonntag
nach Trinitatis, 12. Oktober 2003 |
Liebe Gemeinde! Jesus zog sich zurück. So beginnt diese Geschichte. Das kennt man ja von ihm. Wenn das Gedränge um ihn herum zu arg wurde, suchte er einen Ort, wo er allein war. Allein mit sich und allein mit Gott. Gewiß, die Not der Menschen um ihn herum ging ihm nahe. Doch auffressen ließ er sich nicht davon. Er brauchte Abstand und Selbstvergewisserung im Gebet, um sich seiner Aufgabe an anderer Stelle von neuem widmen zu können. Hier geht es um einen längeren Rückzug. Nicht nur für einige Stunden sucht er die Einsamkeit. Nein, er geht außer Landes. So wie wir das auch gerne tun, wenn wir in Urlaub gehen. Sehr weit braucht er nicht zu wandern, um die Grenze zu überschreiten, die das Land seines Volkes vom heidnischen Ausland trennt. Im Unterschied zu seinen sonstigen Rückzugsgewohnheiten hat er seine Jünger mitgenommen. Offenbar will er auch ihnen einige Tage der Entspannung gönnen. Wie gesagt, sehr weit war die Reise nicht. Aber die Grenze, die einen davor schützte, ständig angesprochen und in Anspruch genommen zu werden, hatte man hinter sich. Hier unter den nichtjüdischen Bewohnern Palästinas - den Kanaanäern, wie man sie damals nannte, oder unter Palästinensern, wie wir heute sagen - waren sie Fremde. Und Juden wie sie würden hier auch Fremde bleiben. Denn die Einheimischen mochten sie nicht, die Juden, die in früheren Zeiten das ganze Land beherrscht und die Einheimischen immer als Menschen zweiter Klasse behandelt hatten. Weil sie andere Götter hatten, die die Juden verächtlich als "Götzen" abtaten. Nein, mit diesen unduldsamen und arroganten Brüdern wollten die
Kanaanäer nichts zu tun haben. Doch plötzlich war es vorbei
mit der Ruhe. Eine einheimische Frau näherte sich der jüdischen
Männergruppe. War die denn von Sinnen? Wie konnte sie einen Juden als Herrn anreden und dann auch noch als Sohn Davids! Auf den warteten die ja wie auf einen Erlöser. Für Kanaanäer aber stand der Großkönig David für demütigende jüdische Vorherrschaft. Das alles war der Frau jetzt egal. Wenn dieser Mann den Juden helfen könnte, dann auch ihr. "Hab Erbarmen mit mir. Denn meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt." Was für eine Not, ein Kind zu haben, das von Mächten beherrscht wird, auf die man als Mutter und Vater keinen Einfluß hat. Wie alle anderen auch möchte man sein Kind fördern, ihm helfen, seine Gaben zu entfalten und seinen eigenen Platz im Leben zu finden. Und dann erleben zu müssen, wie sich das alles ins Gegenteil verkehrt, wie alle Hilfen abgewehrt werden, die Gaben verkümmern und das Kind mit den Jahren immer weiter zurückgeworfen wird und die Unselbständigkeit zunimmt. Warum das uns? Und warum das diesem Kind, das doch nun wirklich nichts dazu kann! Wer das erlebt, der pfeift auf Schicklichkeit und Konventionen, geht jedes Risiko ein, wenn es eine Aussicht auf Hilfe gibt. Doch Jesus reagierte überhaupt nicht, würdigte die Frau, die beherzt alles auf eine Karte setzte, auch nicht eines einzigen Wortes. So viel Unnahbarkeit ging sogar den Jüngern, die ihn sonst ja gerne
abschirmten, gegen den Strich: Endlich kommt eine Reaktion von Jesus. Doch sie macht ihn noch unnahbarer,
als er ohnehin schon erschien: Das wars dann ja wohl. Wenn Gott sich bei seinem Erwählungshandeln selbst begrenzt hat, was will und kann sein Gesandter dagegen ausrichten? Gegenüber der Forderung von Mitmenschlichkeit werden von Jesus theologische Schranken aktiviert. Ob die Frau das mitgekriegt hat? Aber von einem jüdischen Erlöser hätte sie ohnehin nicht erwarten können, daß er die von Gott gesetzte Grenze überschreitet. Doch, sie
erwartet mehr, geht weiter, wirft sich ihm zu Füßen: Wer hätte hier noch widerstehen können? Er, dem Not und Leiden sonst an die Nieren gehen, zeigt sich völlig
ungerührt. Mehr noch: Der Erwählungslehre, die ihn gefangenhält
und ihm das Herz verschließt, gibt er gegenüber der Frau am
Boden sogar noch eine verletzende Spitze: Es ist erschreckend, wie lieblos, wie aggressiv Theologie machen kann, die im "Gott-für-uns-Denken" wurzelt. Auch Jesus war in diesem Denken zu Hause. Wer mag sich da einbilden, frei davon zu sein? Unsere Bekenntnisse sprechen zwar von der grenzenlosen Liebe Gottes und von der Rechtfertigung des Gottlosen. Und doch fühlen wir uns ständig gezwungen, bei der Umsetzung zu differenzieren ud zu unterscheiden. Schließlich leben wir noch nicht im Reich Gottes, sondern in einer Welt, die ihre eigenen Gesetze hat und die auch für Christen gelten. Und die Notleidenden, die nicht warten können, uns aber beim Differenzieren und Herumeiern erleben - was müssen die für ein Bild von Gott bekommen? Wie glaubwürdig ist eine Kirche, die predigt, daß die Liebe Gottes nicht an der Leistung von Menschen hängt, die gleichwohl im Umgang mit den ihr anvertrauten Geldern nach dem Prinzip verfährt: Je mehr Verantwortung einer bei uns hat, desto besser wird er und sie auch bezahlt und - im Falle der Ehrenamtlichen - desto großzügiger fallen die Spesen aus. Wer in der Not auch noch auf theologisch begründete und ein gutes Gewissen machende Abwehr und auf Zurücksetzung stößt - was bleibt ihm, was bleibt ihr? Der Blick auf eine Frau, die sich das Bitten und Flehen theologisch
nicht verbieten läßt. Im Gegenteil: Theologischer Borniertheit
gegenüber legt sie Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit an den
Tag: Und damit ist Jesus geschlagen. was will er der Frau jetzt noch entgegensetzen? Und was sagt uns der Blick auf die Frau mit dem großen Glauben? Und noch eins: Superintendent Rudolf Rengstorf, Stade
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