Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

16. Sonntag nach Trinitatis (Erntedank), 5. Oktober 2003
Predigt über Lukas 12, 13-20
, verfaßt von Birte Andersen(Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Die Kirche ist eine alte, veraltete Institution, wo veraltete Sitten, die nicht mehr in die Zeit und in die Stadt passen, überwintern. Ich glaube, daß viele unwillkürlich so denken, wenn sie von Erntedankgottesdiensten hören. Eine schöne Sitte, vielleicht, aber nicht etwas, was unter die Haut geht.

Nein, machen wir doch lieber los, fangen wir den Herbst an mit all seinen Aktivitäten. Lange genug waren wir gebunden an die Hitze und das Licht des langen Sommers. Nun kann etwas Abwechslung nicht schaden. Wir wohnen ja nicht in südlichen Ländern.

So kann man empfinden - während andere von der Hitze und dem Licht nicht genug haben können, vor allem vielleicht vom Licht - und dementsprechend meinen, daß die Aktivitäten ruhig etwas warten können - wo wir gerade dabei waren, in eine andere Stimmung zu kommen, die wir lange Jahre lang nicht gekannt hatten. Der Geruch von Grillfleisch hat in uns den inneren Steinzeitmenschen geweckt, viele Kinder haben zum ersten Mal unter offenem Himmel geschlafen, lange Gespräche in hellen Nächten geführt.

Für die meisten ist diese Zeit dann ein Übergang - in diesem Jahr war er sehr markant, auch wenn er sich etwas verzögerte. Die Natur spielt ihre große Rolle beim Übergang. Schöne goldene Farben, aber in der Schönheit Verlust, Wehmut und Vergänglichkeit.

Wie Keile steht der milchweiße Dunst
an den Kronen der Bäume an der Allee.
Jetzt findet das wilde Frühjahr sein Ende
in den Farbtönen toter Fingerblätter.

Wir können die Sommerstimmung lange hinauszögern, aber der Gesang der Vögel ist längst verstummt. Wir können unter dem Himmel der Zugvögel stehen, aber wir können nicht deren Freude an uns binden, als sie ihr Nest zu Beginn des Jahres bauten.

Ja, es ist richtig: Mitten in diesem Übergang feiert die Kirche Erntedankfest. Nicht aus Nostalgie oder um Erinnerung an die gute alte Zeit der Landwirtschaft wachzuhalten.

Aber wenigstens einmal im Jahr ist es für jeden Menschen und jede Gesellschaft notwendig einzuhalten, bereit zu sein, darüber nachzudenken, was uns durch das Jahr trägt.

Was zeigt der Lauf des Jahres an? Verlust oder neue Erwartung? Je nach Temperament und Lebenslage antworten wir unterschiedlich. Aber dieser Raum enthält eine besondere Bedeutung.

Daß Ernte - ganz gleich ob sie gut war oder schlecht - ein Fest der Dankbarkeit ist. In diesem Raum lebt das Wissen, daß nichts so gering ist, daß es nicht unsere Dankbarkeit forderte.

Wir können unsere Gründe haben, sorgenvoll, ängstlich und verzagt zu sein - dennoch ist das Leben zweifellos eine Gabe, die wir empfangen haben.

Die Geschicke des Lebens und die Antwort unseres Handelns können so verschieden sein wie Sonne und Mond, aber das Leben selbst ist eine Gabe, die keiner sich selber geben kann.

Und hier bei der Neige des Sommers wissen wir etwas davon, was der Inhalt dieser Gabe war. Und wir begegnen ihr mit Dankbarkeit. Vielleicht sind wir uns nicht ganz klar darüber, was Dankbarkeit ist und wie wir uns zu ihr verhalten sollen. Dankbarkeit ist keine Forderung, den Schmerz zu vergessen. Auch keine Aufforderung, die Verluste und Katastrophen abzuschreiben, die uns vor Augen stehen.

Die Dankbarkeit der Ernte ist Nachdenken - sich klarmachen, was die Blüte des Jahres ergeben hat. Allen hat das Jahr einen wunderbaren Sommer beschert - einigen war er zu warm, anderen warm genug.

Ansonsten aber haben wir jeweils ganz Unterschiedliches geerntet. Aber ernten hat zu tun mit den Erfahrungen, die wir machen. Der Erntedankgottesdienst ist - unter anderem - eine Möglichkeit, das zu verdauen, was uns geschieht. Verdauen wir es nicht, kann es eine Last werden oder eine Parenthese. Aber die Fülle des Sommers darf nicht verloren gehen, sagt die Dankbarkeit.

Vielleicht könnte jeder von uns die nächsten paar Minuten dazu benutzen, wo Musik erklingt, nachzudenken über das, was das Beste war, was mir seit dem Frühjahr widerfahren ist - und dann - eines nach dem anderen: Was war das Schlimmste?

(Ein Stück Musik)

Vielleicht ist das schwerer als wir glauben - nicht weniger notwendig, aber schwieriger. Es kann schwer sein, eine Sache auszuwählen. Aber nicht nur das. Es kann auch schwer sein zu entscheiden, ob ein ernster Verlust dennoch eine Ernte gegeben hat, die wir nie erwartet hätten - oder ob eine Freude einen wehmütig und mißmutig machen konnte, weil man sie nicht teilen konnte. Denn wenn wir die Ernte und die Ergebnisse und die Erfahrungen aufzählen, dann ist es nicht gleichgültig, wie wir zählen.

Eine Amsel stiehlt die rote Vogelbeere
und erntet, was sie nicht gesät hat.
Ich berühre ihre langen Schwanzfedern
mit dem Blick aus einer Zeit, die bald vorbei ist.

Da breitet sie ihre blanken Flügel aus
und jubelt über den Schauer.
Sie ist mein Herbst, und Vogelgesang
soll überwintern in einem Glauben an das Licht.

In den letzten Jahren hat sich eine Zählweise verbreitet, daß Glück nur dort ist, wo kein Schmerz ist und kein Unbehagen. Das reine Glück - das perfekte, wo es keinen Schmerz gibt und keinen Verlust. Und melden sich Schmerz und Verlust dennoch, dann kann man vielleicht davon absehen, weggehen oder entfliehen und seinen eigenen Raum bilden, wo man unverwundbar ist und die leidige Welt einem nichts anhaben kann. Und dann sind Trauer und Schmerz umgekehrt ein Loch, in das man nicht zu sehen wagt und in das man andere nicht mit hineinläßt - Finsternis ohne Wege und Auswege und vielleicht letztlich Ausdruck dafür, daß man sein Leben falsch eingerichtet hat. Womit die Finsternis noch finsterer wird. Es mag sein, daß es deshalb vielen besonders schwer fällt, vom hellen Sommer Abschied zu nehmen.

Der wichtigste Ausdruck für Dankbarkeit, den ich heute nennen möchte, ist der doppelte Blick auf die Gaben, die wir sammeln. Das Tor zum Leben, das Christus mit seinem Leben und Tod öffnete - das war nicht das reine paradiesische Glück und nicht die reine Finsternis. Die Freude, die er uns reicht und in der wir stehen, ist dort, wo in der Freude Platz ist für Trauer und Verlust, Sehnsucht und Wehmut - und wo die Freude dennoch ungeteilt ist.

Und die Trauer, von der er uns nicht verschont und an der wir uns fast unausweichlich stoßen, an der will er uns nicht verbluten lassen. Er schenkt und die Möglichkeit, einen Weg in der Finsternis im Schatten des Todes zu sehen. Er ist selbst der Weg, und er reicht uns seine Erfahrung, daß selbst Tod und Finsternis und Verlust Leben und Möglichkeit enthalten. Die Hoffnung "die nichts verändert", ist dennoch Leben. Deshalb ist die Finsternis nicht nur ein schwarzes Loch, sondern vielmehr ein Tal, durch das sich ein Weg bahnt. Ein finsteres Tal des Todes, vor dem wir immer Angst haben, in dem wir aber auch unsere Hoffnung haben. Reife muß notwendigerweise auch Verlust und Trauer in sich tragen.

Diese Doppelheit ist die Gabe des Christentums und das Festhalten an dieser Doppelheit ist unsere Dankbarkeit.

Denn dann wird die Welt so, wie sie Gott gedacht hat, und Gut und Böse kommen nicht so weit von einander weg, als daß sie nicht einander erreichen könnten.

Daß es möglich ist, mit dieser Doppelheit zu leben, das haben wir gewiß auch im Sommer gewußt, als wir den südländischen Sommer genossen - ohne zu vergessen, daß Frankreich und Spanien und Italien den Preis bezahlten in der Form von Bränden und vielen Todesfällen.

Aber es gäbe nicht weniger Brände im Sünden, wenn wir uns weigerten, uns über unseren Sommer zu freuen. Aber unsere Freude sollte uns veranlassen, daran zu arbeiten, den Ausstoß von CO2 zu verringern, der in dieser Sache die Schuld trägt. Es macht einen Unterschied, ob wir entweder genießen oder trauern - oder ob wir den Doppelblick ertragen können, den Blick Gottes auf uns. Für die Welt und für uns macht das einen Unterschied.

Wenn wir unsere Ernte als das Beste und das Schlimmste, das uns widerfuhr, zum Ausdruck bringen sollen, dann ist es von großer Bedeutung, Worte zu finden, die passen. Für das Wichtigste aber fehlen uns zuweilen Worte, und wir müssen uns an Symbole halten. Das Gedicht, das uns heute durch die Predigt begleitet hat, gebraucht die Amsel und das Brot als Symbole:

Ich gehöre dahin, wo das Leben Frucht bringt,
ich pflücke, Gott, von der reifen Frucht der Ernte.
Und wenn ich ihre (der Amsel) königliche Flucht sehe,
habe ich Deine Hoffnung aus dem garten des Paradieses.

Die legst Du als Brot, das weiß leuchtet,
in die Hand eines müden und hungrigen Wanderer.
Im Brot sind Spuren der Schritte des Jahres
und der Hoffnung, die nichts verändert.

(nach Jens Simsen: Lyset kommer til tiden. Salmer-"Das Licht kommt zu seiner Zeit, Lieder", hier in einer Prosaübersetzung wiedergegeben)

Das Wintergurren und die blanke, schwarze Flucht der Amsel bringen Botschaft aus dem Garten des Paradieses. Und bringen eine Hoffnung, die nichts verändert und dennoch eine Hoffnung ist. Die Hoffnung ist nun als ein Brot auf den Altar gelegt. Sie trägt Spuren vom Lauf des Jahres - das Brot ist selbst das einfache wie auch unendlich komplizierte Ergebnis der Ernte. Und es trägt Spuren chemischer Prozesse, von viel Regen und von wenig Regen, harten und weichen Händen, Maschinen und Säcken, und zugleich etwas weit Tieferes, etwas, was wir in Dankbarkeit die Neuschöpfung Gottes nennen. Für den, der wandert und der allzu schnell den Sommer vergißt, ist das Brot eine aufdringliche Erinnerung. Eine Liebesgabe, die in unseren Leib und Körper eingehen will, mit einer Hoffnung, die den Tod in unsrer Brust beseitigt und uns dem Herbst erwartungsvoll entgegengehen läßt - selbst mitten im Verlust des Sommers.

Du deckst den Tisch mit der Ernte des Herbstes
und trennst mich von all meinen Sünden.
Laß die Hoffnung den Tod in meiner Brust beseitigen,
wie die Sonne den Dunst beseitigt, wenn der Tag beginnt.

Amen.

Pfarrerin Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk


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