Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Tag des Erzengels Michael und aller Engel, 29. September 2003
Predigt über Psalm 34,8, verfaßt von Dorothea Zager
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

WOCHENSPRUCH:
Denn der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen heraus.
(Psalm 34,8)

I. ENGEL SIND „IN“

Liebe Gemeinde,

so langsam allmählich geht sie wieder los: die Hochsaison für Engel! Bestimmt haben Sie auch schon die ersten Engelchen entdeckt: auf den Herzpackungen für Milka-Nougat, und auf den ersten Weihnachtskatalogen, die uns jetzt ins Haus flattern, und mit denen uns Neckermann oder Quelle, Mode und Preis oder Brigitte in weihnachtliche Kauflaune versetzen wollen. Dann in ein paar Wochen, in der Adventszeit, gibt es kaum noch ein Eckchen bei uns ohne Engel: Aus Holz geschnitzt halten sie Kerzen; bunt und pausbackig blicken sie auf Ansichtskarten verträumt in den Himmel; wohlgeformt und aus Porzellan dekorieren sie die weihnachtlich geschmückten Fensterbänke; die Bäckchen rot gefärbt blasen sie Trompete, spielen Harfe, singen mit rundem Mund im Chor und musizieren auf Plattencovern und CD-Hüllen; silbern und golden schmücken sie als Haarnadeln und als Ohrringe die Damen, für die Herren tummeln sie sich etwas dezenter auf Seidenkrawatten; sie halten Sonderangebotsschilder auf den Wühltischen; auf T-Shirts gedruckt lächeln sie uns augenzwinkernd zu; etwas peppiger aufgemacht preisen sie die neuesten Geschenkideen in den Schaufenstern an und der ein oder andere hat es sogar schon geschafft, in Werbespots im Fernsehen aufzutreten und entweder für himmlischen Frischkäse oder teuflisch guten Wodka die Äuglein zu verdrehen!

Engel sind ganz gut im Geschäft, sie sind in. Die Händler, immer am Puls der Zeit, haben längst erkannt, dass sie uns ansprechen, neugierig machen und anlocken. Die Menschen scheinen sich nach ihnen zu sehnen. Woran das wohl liegt?

Ist das so, weil viele glauben, Engel könnten fliegen und lebten in den Wolken, weit über unserem grauen Alltag, dort, wo die Freiheit grenzenlos sein soll, alle Ängste und Sorgen verloren gehen und wo alles, was uns groß und wichtig erscheint, nichtig und klein ist?

Liegt es an der alten Vorstellung, dass jeder von uns seinen eigenen Schutzengel hat, der nicht mehr von unserer Seite weicht, uns beschützt und uns vor all zu großem Schaden bewahrt? Oder faszinieren sie uns, weil sie so viel mit uns gemeinsam haben und uns doch so unendlich fremd sind? Lebewesen zwischen Himmel und Erde, Botschafter Gottes für die Menschen?

II. ENGEL IN DER BIBEL

Das Alte Testament erzählt uns wunderbare Engelsgeschichten: Da gibt es den Engel, der das Weinen des durstigen Kindes hört, es an den Brunnen führt, aus dem es trinken kann.

Da gibt es den Engel, der den tief enttäuschten und lebensmüden Propheten Elia aufrichtet und ihm zu essen und zu trinken gibt, wie eine Wegzehrung für seinen neuen Lebensabschnitt.

Da gibt es den Engel, der sich dem Bileam in den Weg stellt. Und der von dem Menschen nicht erkannt und verstanden wird, wohl aber von dem Tier, dem einfachen Esel.

Auch Jesu Leben ist von Engeln begleitet: Der Engel Gabriel verkündet Maria, dass sie ein Kind gebären wird, das groß sein und „Sohn des Höchsten“ genannt werden wird. Die Engel verkünden den Hirten die Geburt Jesu und singen den Lobgesang „Ehre sei Gott in der Höhe“, den auch wir in jedem Gottesdienst wieder mit singen, den wir feiern. Engel stehen Jesus bei, als er versucht wird. Sie begleiten ihn in die Wüste, als er dort dem Bösen gegenübersteht und sich bewähren muss. Am Ende seines Lebens, als er weint und im Garten Getsemane um sein Leben fleht, kommt ein Engel vom Himmel zu Jesus und gibt ihm neue Kraft. Und Engel schließlich künden seine Auferstehung und rütteln die Jünger auf, nicht in den Himmel zu starren, sondern in die Welt hinaus zu gehen, und den Menschen das Evangelium zu verkünden.

„Dienende Geister“ nennt die Bibel die Engel – zum Beispiel im Hebräerbrief „Dienender Geister, ausgesandt, denen zu helfen, die das Heil erben sollen.“ Engel stehen also im Dienste Gottes. Sie sind also auf keinen Fall die Mitte unseres Glaubens – aber die Vorstellung von Engeln führt uns zu einem menschenfreundlicheren Gottesbild. Es sind sozusagen die Wesen, die zwischen uns und Gott hin- und herfliegen können, Botschaften überbringen oder Kraft übertragen können. Das macht es uns leichter, uns die Wirkung und die Kraft Gottes in unserem Leben vorzustellen.

Engel, das sind Kräfte. Kräfte, mit denen Gott uns stärkt oder mahnt. Kräfte, mit denen er uns hindert, Dinge zu tun, die schlecht für uns sind, oder bestärkt, Dinge zu tun, die uns oder anderen wohl tun. Lassen Sie uns noch ein bisschen genauer hinsehen, wo solche Kräfte wirken, und wo wir sie spüren können.

III. DIE ERZENGEL UND GOTTES KRAFT

In der Bibel werden nur drei Engel mit Namen genannt: Michael, Gabriel und Raphael. Aber gerade diese drei – und gerade weil sie so unterschiedlich sind – zeigen uns ganz deutlich, auf welche Weise wir Gottes Kraft erfahren können:

Michael heißt: „Wer ist wie Gott?“ – eine staunende und auch zugleich bekennende Frage: Wer auf dieser ganzen Welt ist so groß wie unser Gott? Keiner ist so groß und so mächtig und so einzigartig wie er!

Deshalb ist Michael auch der größte Engel. Kraftvoll und mächtig steht er uns bei im Kampf gegen das Böse, gegen die Sünde und gegen die Versuchungen in unserem Leben. Deshalb wird er auch mit dem Schwert dargestellt, mit dem er den Drachen – das Böse – vernichtet.

Michael ist die Kraft in uns, die uns immer wieder vor die Frage stellt: Wer ist für Dich Gott? Wie wichtig ist er für Dich? Ist er noch immer das wichtigste, das höchste in Deinem Leben, oder hast Du längst schon andere Götter an seine Stelle gesetzt? Dein Erfolg im Beruf? Oder dein kleines privates Glück, in dem dich bitte niemand stören soll? Dein schickes Auto, auf das Du so lange gespart hast, oder die Waage, die Du jeden morgen befragst, ob Du noch die Schönste im Land bist?

Michael fordert uns auf, unsere Gottesbilder loszulassen und uns dem wahren Gott zuzuwenden. Dem Vater, der uns das Leben geschenkt hat. Dem Vater, der uns unsere Verfehlungen vergibt. Diesem Vater sollen wir uns wieder zuwenden. Denn nur, wenn wir dem wirklichen Gott, unserem Vatergott dienen, dann wird unser Leben heil und ganz und wirklich erfüllt und glücklich.

Für diese mahnende und schützende Kraft Gottes gegen das Böse in unserem Leben – für diese Kraft Gottes steht das Bild des Engels Michael.

Gabriel heißt: „Kraft Gottes“ oder „Held Gottes“. Gabriel ist der Verkündigungsengel. Immer dann also wird er gebraucht, wenn Gott uns etwas sagen will. Unsere Ohren und unsere Herzen öffnen will für seine Botschaft und für seinen Ruf.

Wenn also Gott etwas in uns verändern will, wenn er Altes neumachen will, dann geschieht das nicht aus unseren Fähigkeiten und unseren Möglichkeiten heraus, sondern, weil Gott uns diese Kraft zum Neu- und Anderswerden schickt.

Für diese Kraft des Wortes Gottes, dass unsere Ohren und unsere Herzen bewegt und verändert – für diese Kraft Gottes steht das Bild der Verkündigungsengels Gabriel.

Wir hören die Verkündigung der Liebe Gottes, und spüren, dass wir selbst, so wie wir sind, von dieser Liebe umfangen werden.

Wir hören die Zusage der Vergebung, und können aufatmen.

Wir hören die Botschaft von der Auferstehung, und brauchen nicht mehr Sorge tragen um die Lieben, die wir verloren haben, brauchen auch keine Sorgen mehr tragen um unser eigenes Leben.

Diese Worte sind Worte Gabriels. Des Engels, der immer erst eines sagt, ehe er den Menschen seine Botschaft ausrichtet: Fürchte Dich nicht!

Raphael schließlich heißt: „Gott heilt“. In der Erzählung über den jungen Tobias, den der Engel Raphael auf seinen Wegen begleitet, heilt Raphael die Liebe zwischen Mann und Frau und die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Er heilt den blinden Tobit und den verletzten Tobias. Er schenkt Eltern das Vertrauen, dass ihre Söhne und Töchter von Gott begleitet werden, wenn sie auch scheinbar den falschen Weg gehen, oder den scheinbar falschen Partner gewählt haben. Er schenkt dem Körper und der Seele die Kraft gesund zu werden, in welcher Krise auch immer sie stecken.

Wie oft haben wir solche heilende Kraft nötig?

Wenn wir in Trauer sind oder in Sorge um einen Menschen, den wir lieben.

Wenn eine Freundschaft zerbrochen ist oder eine Ehe, oder wenn Menschen uns bitter enttäuscht haben, denen wir vertrauten.

Wenn wir unsere Kinder nicht mehr verstehen und wir das Gefühl haben, sie entfernen sich von uns.

Wenn wir krank sind und Schmerzen haben.

Wenn uns die Hoffnung fehlt auf eine gute berufliche Erfüllung oder auf eine gesicherte Zukunft.

Es geht soviel kaputt unter uns – manchmal durch unsere eigene Schuld, manchmal aber auch deshalb, weil andere Fehler machen, oder weil unsere Lebensumstände manchmal einfach unglücklich verlaufen. Dann gibt es Wunden und Verlust. Wie gut ist es zu wissen, dass Gott uns da nicht alleine lässt. Er sendet uns die Kraft, die heilt. Die Kraft, die den Namen „Raphael“ trägt.

Mag sein, liebe Gemeinde, dass es für sie ungewohnt ist, als gute Protestanten, von Engeln zu sprechen oder sich Engelsfiguren vorzustellen, so wie es unsere katholischen Mitchristen tun.

Mag sein, liebe Gemeinde, dass Sie aber insgeheim schon öfter einmal das Gefühl hatten: Hier war ein Engel an meiner Seite.

Wie dem auch immer sei – welche Namen, Gesichter oder Bilder wir auch immer diesen Kräften Gottes geben – eines ist sicher: Gott lässt uns nie allein. Seine Engel – seine Kraft begleitet uns. Immer. Jederzeit. Überall. Nie sind wir allein.

IV. DER ENGEL IN MIR

Und, liebe Freunde, wenn Gott uns eine ganz besonders schöne Erfahrung schenken will, dann macht er uns selbst zu einem Engel, zu einer Kraft für einen anderen.

Wenn wir einen anderen Menschen – einen Freund oder unseren Ehepartner - bewahren vor einem Fehler, vor einer Schuld, dann werden wir zu einem kleinen Michael.

Wenn wir einem anderen die frohe Botschaft von der Liebe Gottes ausrichten und sie ihn auch am eigenen Leibe spüren lassen, dann waren wir ein kleiner Verkündigungsengel Gabriel.

Oder wenn wir einem Kranken helfen, einen körperlich Kranken heilen oder einen seelisch Verletzten wieder aufrichten, dann waren wir im Namen Raphaels unterwegs.

Wer auf diese Weise schon einmal ein kleiner oder großer Engel sein durfte – ein Michael, ein Gabriel oder ein Raphael, je nachdem, in welcher Not er helfen durfte – , der weiß, was Gnade ist.

Engel sind nicht die Mitte unseres Glaubens. Und wir können uns auch nicht vornehmen, zum Engel zu werden.

Aber darauf vertrauen, dass können wir: Darauf vertrauen, dass Gott uns immer wieder einen Engel, einen Kraftspender zur Seite stellt, wenn wir ihn brauchen.

Und darauf vertrauen, dass Gott uns ruft, wenn er uns brauchen kann, als Kraftspender, als Liebesbote oder Lichtträger in seiner Welt.

Amen.

Lieder:

EG 331,1-3: Großer Gott, wir loben dich
EG 142,1-6: Gott, aller Schöpfung heilger Herr
EG 445,4-6: Führe mich, o Herr, und leite
EG 474,2+3: Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ

Wort einer unbekannten, chinesischen Christin

Ich sagte zu dem Engel,
der an der Pforte des neuen Jahres stand:
Gib mir ein Licht,
damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen kann.

Der Engel des neuen Jahres aber antwortete:
Geh nur hin in die Dunkelheit
und lege deine Hand in die Hand Gottes.
Das ist besser als ein Licht
und sicherer als ein bekannter Weg.

Literatur

Kurt Wiesner, Die theologische und liturgische Bedeutung des Michaelisfestes, in: Reich Gottes und Wirklichkeit, Festgabe für A. D. Müller, Berlin 1961, S. 129.

Dorothea Zager, Worms
dwzager@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)