Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

15. Sonntag nach Trinitatis, 28. September 2003
Predigt über Matthäus 6, 25-34
, verfaßt von Gerlinde Feine
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Nun verabschiedet er sich langsam, dieser Jahrhundertsommer mit seiner schier endlosen Reihe schöner, fast zu schöner Tage. Die Urlaubsfotos erzählen vom sorglosen Strandleben, von unbekümmerten Ferienaktivitäten. Wer wollte sich da schon gerne stören lassen von den Unkenrufen der Klimaforscher und Gletscherkundler? Wer wollte sich groß sorgen um Strom- und Wasserversorgung, um die Ernteerträge und die Qualität des neuen Saatgutes? Es ist doch alles im Überfluss vorhanden: Das Sortiment des Supermarktes ist gleich geblieben, der Strom kommt aus der Steckdose, und das Wasser im Bodensee geht so schnell nicht aus. Versorgungsmängel, Wasserknappheit, Hitzetote – das gibt es doch nur bei den anderen, als traurig-skandalöse Nachricht aus Frankreich, Spanien, Nordamerika! Wir bei uns – wir haben vorgesorgt und brauchen uns deshalb keine Sorgen mehr zu machen!

So denken wir. Welch ein gefährlicher Irrtum! Man möchte die Leute am liebsten wachrütteln und ihnen zurufen: Sorgt euch doch endlich! Macht euch Gedanken, erkennt die Zusammenhänge! Merkt ihr nicht, wie diese Welt funktioniert? Seht ihr nicht, dass alles ineinander verschränkt ist? Der niedrige Wasserstand des Rheins, der jetzt das Heizöl verteuert für den Winter, den haben wir durch unsere Entnahmen verstärkt. Das Ökosystem der Isar haben wir mit aus der Balance geworfen, weil die Kühlsysteme der Kraftwerke mehr Wärme in die Flüsse leiten, als den Fischen und Pflanzen dort gut tut. – Sorgt euch doch endlich, ihr Leute in Deutschland, macht euch Gedanken darüber, was es heißt, wenn es keine rechte Opposition mehr gibt in einer parlamentarischen Demokratie, wenn die Leute nicht mehr wählen gehen und ihr politisches Schicksal einigen wenigen überlassen. Macht euch Gedanken darüber, was „Anti-Terror-Gesetze“ für die persönliche Freiheit und den Schutz der Privatsphäre bedeuten, und unternehmt etwas dagegen, wenn die Welt sich zum Schlechten verändert – jede und jeder an dem Ort, an den er von Gott gestellt wurde.

So möchte ich rufen. Und weiß doch auch, wie oft und wie vielen ich das genaue Gegenteil sagen möchte: Sorge dich doch nicht so. Jeden Morgen aufstehen mit dem Kopf voller trüber Gedanken, jeden Tag beginnen mit einer kleinen Bilanz der möglichen privaten Katastrophen – das kann es doch nicht sein! Etwas mehr Optimismus, bitte! Etwas mehr Gottvertrauen! Das möchte ich vielen hier immer wieder sagen: Macht euch doch nicht immer so viele Sorgen! Und ich wünschte, ich könnte sie überzeugen: Den Familienvater, der sich ständig neue Gründe zusammenphantasiert, die den Traum vom eigenen Haus zerstören und ihn in den Schuldturm bringen könnten. Die junge Mutter, die selbst den friedlichen Schlaf ihres Babys ängstlich beäugt und jeden Atemzug des Kindes kontrolliert. Den eingebildeten Kranken, die ehrgeizige Musterschülerin…all denen möchte man es einschärfen: Sorgt euch nicht. Es ist längst schon gesorgt und es liegt doch nicht in eurer Macht, was geschieht. Und ich bin froh, wenn solchem Zuruf auch ein tätiger Beweis folgen kann, eine helfende Hand, ein sicherer Arbeitsplatz, eine Bestätigung eben.

So lebe ich in dieser Welt zwischen Sorglosigkeit und Sorge. Und ich trage dazu bei, dass sie so ist, diese Welt. Wir alle gestalten daran mit, treffen Vorsorge für schlechte Zeiten oder verursachen sie, eben weil wir uns nicht vorgesehen haben. Das gehört zu unserem Leben dazu, und es geht den Christinnen und Christen nicht anders als den anderen Leuten. Wir raten und planen, eben weil wir leben müssen und weil wir nur überleben können, wenn wir uns über Essen und Trinken, Kleidung und Wohnen Gedanken machen. Und wir erfahren ein Stück Freiheit darin, wie wir das tun – ob wir es uns leisten wollen, jede Mode mitzumachen, oder ob wir uns bewusst und wohlüberlegt dazu entscheiden, auf manch angebotenen Luxus zu verzichten, einen Karriereschritt nicht zu tun, lieber etwas weniger zu verdienen, aber dafür etwas mehr Zeit für die Kinder zu haben. Wir geben ihnen Menschen an die Seite, die ihnen beim Erwachsenwerden helfen sollen. Wir sorgen für eine gute Ausbildung und für sichere Straßen. Wir lassen uns anrühren von den Hilferufen aus anderen Ländern, beteiligen uns wenigstens indirekt am Wiederaufbau in Ländern, die durch Kriege oder Naturkatastrophen zerstört wurden – es ist gut, dass wir uns sorgen um andere und ihre Sorgen verkleinern helfen. So gestalten wir unsere Welt, diese durch Sorgen geprägte Welt – so ist sie und in ihr sind wir zuhause.

Nebenbei gesagt: Auch die sind in ihr zuhause und gehören in sie hinein, die für eine Weile freigestellt wurden von den Sorgen um das alltägliche Leben. Ein Stipendium schützt nicht vor der Angst beim Examen. Wer sich ganz der Arbeit am Evangelium widmen kann, weil die Gemeinde oder der Hauskreis dafür grade stehen, auch finanziell (und das ist hin wie her eine sehr anerkennenswerte Sache), dem bleiben Sorgen auch nicht fern, im Gegenteil. Denn die Bibel kennt die Welt und erzählt von ihr, beschreibt sie, wie sie ist und wie wir in ihr leben und bestehen.

Aber Jesus redet nicht von dem, was wir kennen und worin wir uns immer wieder verstricken. Er redet nicht von der Welt, wie sie ist und wie wir sie durch unser Sorgen gestalten: Er zeigt auf das, was Gott tut und was vor ihm Bestand hat. Nicht sorgen sollen wir – sondern suchen!

Wer sucht, hat aufgehört, zu sorgen. Wer sucht, hat eine Idee von dem, was auf uns wartet und phantasiert nicht ständig an dem herum, was uns geschehen könnte. „Sorgt nicht um dies oder das…sondern sucht die Welt, in der ihr als Kinder Gottes zuhause sein sollt!“

„Trachtet zuerst nach Gottes Reich und nach seiner Gerechtigkeit!“ Als Studentin hatte ich große Freude an dem Wortspiel „Suchet das Himmelreich zu Erlangen!“ – als ob es in der Stadt, in der ich die Grundlagen der Theologie gelernt habe, irgend besser oder schlechter zuginge als in jeder anderen auf der Welt… - Aber es ist schon etwas Wahrheit darin: Das Reich Gottes werden wir nicht in der Abstraktion finden, nicht in der frommen Idee oder in schönen Gedanken. Das Reich Gottes hat ganz bestimmte Zeiten und Orte, an denen es sich erkennen – nein, finden – lässt, wo es greifbar wird, anschaulich und konkret. Das Himmelreich, die Welt der Christinnen und Christen, die nicht durch Sorgen geprägt und gestaltet ist, das ist die Welt in der Gott als der himmlische Vater erkennbar wird, und so redet Jesus auch von ihm: „euer himmlischer Vater“.

„Seht!“ sagt Jesus. Seht hin, schaut sie euch an, die Blumen auf dem Felde oder von mir aus auch die auf dem Altar und auf dem Taufstein. Sind sie nicht prächtiger als alles, was sich Menschen ausdenken und mit viel Mühe und Phantasie herstellen können? – Seht, wie wunderbar sie gemacht sind. Seht das Land, in dem ihr lebt und das ihr so selbstverständlich durchreist, seht die Kinder, die ihr auf den Armen habt – perfekte Menschen, wunderhübsch anzusehen und mit vielen guten Gaben, mit denen sie ihr Leben bestehen können. Schaut hin und entdeckt, wie schön das alles ist. Schaut euch dieses Geschenk gut an, das euch euer himmlischer Vater macht, in jeder Blume, in jedem Kind, in jedem neuen Tag.

„Seht!“ sagt Jesus. Seht hin, beobachtet sie, die Vögel unter dem Himmel, meinetwegen die Turmfalken, die jetzt draußen rund um den mächtigen Kirchturm ihre Flugübungen machen. Sie sorgen sich kein bisschen um ihren Lebensunterhalt, zahlen keine Sozialversicherung und pfeifen auf die Rente – sie genießen den herrlichen Tag und den idealen Wind, und wenn sie Hunger haben, dann holen sie sich, was sie brauchen, denn auch dafür sorgt der Vater im Himmel, und er sorgt auch für die Tauben, die mit den Falken im Turm wohnen und ihrem Jagdeifer neue Nahrung geben… Schaut hin und seht zu, wie Gott die Welt eingerichtet hat und wie er sie haben will: Dass alle genug zum Leben haben – und dass für die Freude am Leben auch gesorgt ist. Schaut euch gut um und entdeckt in dem allen die gute und sorgende Hand eures himmlischen Vaters, der auch euch beschützt und begleitet an jedem neuen Tag.

„Seht!“ sagt Jesus. Nehmt euch ein Beispiel an dem, was Gott tut und bringt euch ein in diese Welt, in der er als der himmlische Vater erkennbar ist. Lernt, wie er die Welt haben will – und tut das eure dazu, dass sie als Teil seines Reiches erkennbar wird. Sorgt nicht – sondern sucht nach den Spuren des Himmels auf der Erde und macht sie für andere erkennbar und erlebbar.

Wie das dann im Einzelnen aussieht, das muss ich hier nicht ausführen. Ob einer dafür sorgt, dass Kinder auch nachts und im Dunkeln sicher nach Hause kommen, indem er eine Schulwegbeleuchtung finanzieren hilft, oder ob eine einen sicheren Arbeitsplatz aufgibt, um freiberuflich mit psychisch Kranken zu arbeiten – ob sich jemand in der Kirchengemeinde engagiert oder für kranke Kinder in einem Entwicklungsland seinen Jahresurlaub einsetzt – all das sind zweitrangige Dinge. Wer sieht, wie Gott handelt und wie er die Welt haben will, der sieht auch, welches sein Platz darin ist und wo er (oder sie) einen Beitrag leisten kann. Aber wir werden nur dann etwas sehen, wenn wir aufhören, zu sorgen, und anfangen, zu suchen.

„Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Mit diesen Worten beginnt die öffentliche Wirksamkeit Jesu, sein Weg unter den Menschen und in ihrer Welt. Wo er ist, da lässt sich Gott als Vater erkennen und anreden. Wo er handelt, da merken wir, wie die Welt heil werden und Frieden beginnen kann. Die Geschichten, die wir uns von ihm erzählen (und wir sollten nicht müde werden, sie uns auch selbst immer wieder zu erzählen), die zeigen uns, wie es zugehen muss in einer Welt, in der Gott als Vater erkennbar ist: „Blinde sehen, Lahme gehen und den Armen wird das Evangelium verkündet“ – Freiheit, Heil und Gerechtigkeit regieren in diesem Reich, und wir sind durch die Taufe ein Teil davon, weil Gott sich längst auf die Suche gemacht hat nach uns; weil er will, dass wir uns finden lassen von Jesus Christus. „Sorgt nicht – sucht! Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ Amen.

Pfarrerin Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
D-72131 Ofterdingen
Tel. 07473/6334
Fax 07473/270266
gerlinde.feine@cityinfonetz.de

 


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