Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

14. Sonntag nach Trinitatis, 21. September 2003
Predigt über Lukas 17
, 11-19, verfaßt von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in Lukas 17 die Verse 11-19. Es ist die Erzählung von der Heilung der zehn Aussätzigen. Sie findet sich nur beim Evangelisten Lukas.

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.
Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Liebe Gemeinde,
Dankbarkeit ist etwas Unwahrscheinliches. Das lehrt schon der Volksmund: „Undank ist der Welt Lohn“ sagt dieser und auch Jesus geht es da nicht anders als allen anderen. Zehn Aussätzige werden von ihrer Krankheit geheilt, doch nur einer von zehn bedankt sich dafür. Dankbarkeit ist etwas Unwahrscheinliches und Seltenes. Das Gute, das uns widerfährt, nehmen wir gerne ganz selbstverständlich hin. Über das Schlechte im Leben hingegen beklagt man sich im Allgemeinen lautstark und vernehmlich.

Auch die zehn Aussätzigen halten es so. Mit lauter Stimme rufen sie nach Jesus, als er in ihrer Nähe vorbeikommt und machen auf ihr Elend aufmerksam. Und elend war ihre Lage in höchstem Maße. Denn die Diagnose Aussatz, vom Priester gestellt, kam in damaliger Zeit der Vernichtung einer Person gleich. Aussätzige durften sich nicht in den Städten und schon gar nicht in der heiligen Stadt Jerusalem aufhalten. Aussätzige mussten aufs Land und auch dort durften sie sich nur in gehörigem Abstand von der Zivilisation aufhalten.

Aussatz ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen der Haut: das Spektrum dürfte von Lepra bis zu Neurodermitis und anderen Hautausschlägen gereicht haben. 72 verschiedene Arten von Aussatz konnte man damals schon unterscheiden. Aussätzige galten nicht nur als ansteckend, sie waren vor allem kultisch unrein. Denn Aussatz galt als Strafe Gottes für schwere Sünden. Von solchen Sündern hielt man sich lieber fern. Aussätzige waren dazu verpflichtet, andere vor der Begegnung mit ihnen zu warnen. Sie waren auf Almosen und Lebensmittel angewiesen, die man irgendwo für sie ablegte. Damit sie überleben konnten, schlossen sich Aussätzige zu Gruppen zusammen, so wie die Zehn aus unserer Erzählung. An Aussatz zu erkranken bedeutete damals praktisch den kompletten Ausschluss aus der Gesellschaft. Die Diagnose Aussatz kam dem sozialen Tod gleich. Eine Heilung war nahezu ausgeschlossen und galt als Wunder Gottes, als Zeichen der Nähe des messianischen Reiches.

Wie Jesus die Zehn von ihrem Aussatz geheilt hat, das wissen wir nicht. Als aufgeklärte Menschen, gewöhnt an medizinische High-Tech, können wir uns schwer in die Krankheiten und in das Krankheitsempfinden vergangener Jahrhunderte hineindenken. Je mehr man dazu forscht, desto fremder erscheint einem das Erleben der Menschen damals. Aber wir müssen uns klar machen, dass sowohl historisch als auch global betrachtet wir aufgeklärten Menschen westlicher Prägung die Ausnahme darstellen. In den schnell wachsenden Kirchen Afrikas und Südamerikas gehören Heilungen auch heute zum täglichen Geschäft. Christus ist für den nicht-westlich geprägten Teil der Menschen dort vor allem der Retter vor bösem Zauber und dunklen Mächten, die sich gerade auch in Krankheiten bemerkbar machen.

Das soll heißen: Es gibt keinen Grund an der Wahrheit der Erzählung von der Heilung der zehn Aussätzigen durch Jesus zu zweifeln. Für die Beteiligten hat sich das damals wirklich so ereignet. Es gibt allerdings auch keinen Grund anzunehmen, dass Jesus bei der Heilung irgendwelche Naturgesetze außer Kraft gesetzt und etwas real Unmögliches getan hat. Wir können nur feststellen, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit damals und heute sehr verschieden ist. Und, das sei angemerkt, es ist noch gar nicht ausgemacht, dass sich die westlich-aufgeklärte Art wahrzunehmen einmal weltweit durchsetzen wird.

Mit der Heilung der zehn Aussätzigen wendet sich Jesus gezielt den Ausgegrenzten der Gesellschaft, den Unberührbaren, den sozial Toten zu. Wie so oft überschreitet Jesus damit die Schwelle des damals Üblichen und Erlaubten. Jesus wendet sich gezielt den Verlorenen zu, um auch sie zu Kindern Gottes zu machen.

Die Heilung der zehn Aussätzigen durch Jesus war ein spektakuläres Ereignis. Denn die Heilung vom Aussatz kam nach damaligem Erleben einer Auferweckung von den Toten gleich. Da ist es dann schon verständlich, wenn Jesus sich wundert, dass nur einer der Geheilten zurückkommt, um zu danken. Und dieser eine ist dazu hin noch ein Samaritaner, also ein Fremder, Angehöriger einer dem Judentum damals suspekten Religion. Dass gerade der Fremde Gott dankt und die eigenen Leute nicht, das hat den Evangelisten Lukas beschäftigt. Lukas ist es ja auch, der uns das Gleichnis vom barmherzigen Samariter von Jesus überliefert. Im Gleichnis ist es der fremde Samaritaner, der dem unter die Räuber Gefallenen hilft, während die eigenen Landsleute bereit sind, den Verletzten dem Tod zu überlassen. Es fasziniert den Evangelisten Lukas, wie die Botschaft und das Wirken Jesu die Grenze des Judentums überschreitet. Die ethnischen und religiösen Grenzen der damaligen Welt werden transzendiert. Die Erzählung von der Heilung der zehn Aussätzigen ist damit eine der Keimzellen dafür, dass das Christentum zur Weltreligion wurde.

Die Botschaft und das Wirken Jesu haben Bedeutung für die ganze Welt. Das deutet die Erzählung vom dankbaren Samaritaner an. Trotz aller historischen Distanz, trotz des verschiedenen Erlebens von Krankheit und Heilung damals und heute – das Wesentliche an Jesu Worten und Taten bleibt dauerhaft gültig. Das sehen wir gerade beim Thema Dank und Undankbarkeit. Dankbarkeit ist damals wie heute etwas Unwahrscheinliches. Was schlecht ist und misslingt haftet viel besser in unserem Gedächtnis als das Gelingende und Gute. Die Massenmedien tun heute ein Übriges, um die Unzufriedenheit mit der Welt und mit dem Leben zu steigern. Das ist kein moralischer Vorwurf an die Medien, das ist einfach so und hat mit der Art zu tun, wie wir Menschen wahrnehmen. Skandale, Katastrophen und Enthüllungen ziehen unsere Aufmerksamkeit magisch an. Die einstürzenden Türme des World-Trade Centers wurden uns schon hundertmal im Fernsehen präsentiert und wir werden den Einsturz auch noch beim hundertfünfzigsten Mal mit einem Schauer auf dem Rücken verfolgen.

Dass hingegen der allerallergrößte Teil der Flugzeuge am Himmel nicht entführt wird, sondern sicher am Bestimmungsort landet, ist keine Nachricht wert. Was sollte man auch darüber berichten, wenn alles normal verlaufen ist? Dass wir in Deutschland eine solide funktionierende Verwaltung, gut ausgebaute Verkehrswege, eine zuverlässige Stromversorgung und eine passabel funktionierende Demokratie haben, ist ganz selten eine Meldung wert. Dankbarkeit dafür werden nur wenige Menschen empfinden. Hingegen werden Fälle von Korruption, von Misswirtschaft und Vetternwirtschaft mit großem Getöse in den Medien präsentiert. Sie wecken, darauf können sich die Medien verlassen, unsere Neugierde. Weil das Woche für Woche so ist, entsteht mit der Zeit der Eindruck, als prägten allein politisches Versagen und Machtmissbrauch unser Land.

Dass die Verhältnisse in Deutschland besser als ihr Ruf sind, das haben wir gemerkt beim großen Blackout in den USA vor wenigen Wochen. Man mag zu Recht über zu viel Bürokratie und staatliche Steuerung in Deutschland klagen – immerhin sorgen sie aber für ein hohes Maß an Versorgungssicherheit und das nicht nur beim Strom, sondern auch bei der Kranken- und der Altersversorgung. Die lautstarken Klagen in diesen Bereichen sind Klagen auf sehr hohem Niveau. Vielleicht kann man einem Staat und seiner Verwaltung gegenüber nicht gerade dankbar sein, aber etwas weniger Unzufriedenheit, etwas weniger Jammern und Wehklagen wären ganz gewiss angemessen.

Die politische Stimmung in diesem Land erinnert jedenfalls in beklemmender Weise an die Unfähigkeit zum Dank bei den neun vom Aussatz Geheilten in unserer Erzählung. Dabei hat den Schaden von der Undankbarkeit ja am wenigsten der, dem man eigentlich Dank schuldet. Den Schaden der Undankbarkeit trägt vor allem der Undankbare selbst. Denn Undank ist die Unfähigkeit zu genießen. Das schlechte Gedächtnis in Bezug auf das erfahrene Gute macht das Leben finsterer und düsterer als es ist. Wer hingegen das Gute, das ihm oder ihr widerfährt, aufmerksam wahrnimmt, wer sich an alles Gelungene im Leben erinnern kann und in der Lage ist, das widerfahrene Glück zu feiern, der ist ein wahrer Genießer und Lebenskünstler. Wer in der Lage ist, sich an seiner guten Gesundheit, an gelungenen Gesprächen und geglückten Begegnungen zu freuen, der oder die ist ein glücklicher Mensch. Dankbare Menschen strahlen jenes Vertrauen ins Leben und in die Güte Gottes aus, das die Bibel Glauben nennt.

[Einschub, falls Kinder im Gottesdienst getauft werden: Eltern kleiner Kinder sind dabei in einer besonders privilegierten Position. Denn wenn man ein kleines Kind im Arm hält, wenn man wahrnimmt, wie es die Welt entdeckt, wie es mit aller Gefühlsgewalt traurig und gleich darauf wieder fröhlich ist, dann kann man leicht dankbar sein. Sie, die Sie heute ihre Kinder zur Taufe gebracht haben, Sie jedenfalls sind von Herzen dankbar dafür, dass Ihnen diese Kinder geschenkt wurden. Ohne Zweifel bringen Kinder auch Sorgen mit sich. Als Eltern erlebt man Ängste, von denen man nichts wusste als man noch kinderlos war. Aber man hat als Eltern auch Glücksgefühle, Gefühle äußerster Dankbarkeit, von denen man vor der Geburt eines Kindes gar nicht ahnte, dass es sie gibt. Wer kleine Kinder hat, gewinnt ein Gespür für die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens des Lebens. Doch zugleich lernt, wer Kinder hat, ganz neu die Dankbarkeit, das Genießen des Glücks und das Vertrauen in die Güte Gottes. Insofern ist Ihnen, liebe Tauffamilien, heute der dankbare Samaritaner sicher näher als die neun undankbaren anderen.]

Wer wie der vom Aussatz geheilte Samaritaner die Unwahrscheinlichkeit des eigenen Wohlergehens und des Guten und Gelingenden im Leben erkennt, kann das Leben und alles Glück tiefer genießen und erleben als diejenigen, die das Gute für selbstverständlich halten. Wer danken kann wie der Samaritaner, wer das Leben feiern und Gott loben kann für alles, was er einem geschenkt hat, wer sein Leben als ein Geschenk und eine Gnade begreift, der wird dankbarer und gewinnt ein tieferes Vertrauen ins Leben als diejenigen, die nur auf die Krisen und das Schlechte im Leben starren.

Dankbarkeit bedeutet Lebensgenuss. Wer dankbar ist, kann die Güte Gottes genießen. In den Augen eines dankbaren Menschen strahlt uns die Freude Gottes über die Schönheit seiner Schöpfung an: Es ist alles sehr gut! Ein dankbares Gesicht ist ein Zeichen der Gegenwart Gottes, ein Zeichen von Gottes Liebe zu uns. – Amen.

Predigtlied: EG 320, 1+4+5+7+8, Nun lasst uns Gott dem Herren

Schriftlesung: Kolosser 3,11-15

PD Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
christoph.dinkel@arcor.de


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