Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

13. Sonntag nach Trinitatis, 14. September 2003
Predigt über Lukas 10
, 25-32, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Vorbereitet für den Gottesdienst beim 99. Jahresfest der Evangelischen Stadtmission Kiel in der St. Nikolai-Kirche zu Kiel)

Liebe Gemeinde!

Man kann sich fragen, ob die Passions- und Ostergeschichten oder die Weihnachtsgeschichte oder nicht vielmehr die Geschichte vom Barmherzigen Samariter die Verselbständigung des Christentums als eine besondere soziale und religiöse Bewegung hervorgebracht hat.

Die Geburt von Kaisern und Königen war seit jeher bunt und vielfältig ausgeschmückt dargestellt worden, die Todes- und Auferstehungsgeschichten, die Lebens- und Leidensgeschichten der Götter und Helden erzählte man gereimt und ungereimt, von Herkules und Odysseus, von Orpheus und Eurydike, Dädalus und Ikarus, Achilleus und Hektor ...

Lukas, der begabte Schriftsteller, kannte die alten Götter- und Heldensagen sicher, denn manches in seinen Büchern, dem Evangelium und der Apostelgeschichte liest sich farbig und spannend wie solche Sagen.

Man denke etwa an das Erdbeben in Philippi und die Befreiung des Paulus aus dem Gefängnis, aber eben auch an die Geschichte von der Geburt Jesu, von den Hirten auf dem Felde und den Engel am Himmel.

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter ist geradezu eine Kriminalgeschichte, man könnte sich genauso gut vorstellen, dass der Retter, nachdem er das Opfer in der Herberge geborgen hat, die Spurensicherung an die Stelle des Überfalls schickt, damit der Sachverhalt aufgezeichnet und möglichst weitere Überfälle verhindert werden.

Aber darauf kommt es Lukas nicht an, und darum brauchen wir uns auch nicht länger mit dem Fall selbst, dem Überfall befassen, sondern können gleich zu der provozierenden Aussage übergehen, die Lukas in eine packende Story verpackt:

Denn dieses Streitgespräch Jesu mit einem Gelehrten des jüdischen Volkes, man könnte auch sagen: Diese akademische Diskussion, die aber alles andere als akademisch verläuft, ist eine ganz eigenartigen Geschichte. So bekannt sie vielen Menschen sein mag, - zumal in einem Gottesdienst der Evangelischen Stadtmission, dieses Gleichnis ist eine sozial bahnbrechende, ja durchaus umstürzende Geschichte, ist so konfrontierend, so provozierend, dass sie – nimmt man sie ernst – deutliche Unterschiede zu anderen Lebens- und Weltauffassungen hervorruft.

Diese Geschichte rückt Hörern und Lesern unbarmherzig auf den Pelz ihrer Gewohnheiten – und zwar sooft man sich darauf einläßt:

In der Vielfalt ihrer Ansprüche überfordert sie, denn sie stellt vor vier Aufgaben, die wie Rätsel wirken, die endgültig und vollständig gar nicht zu lösen sind - und trotzdem kommt man nicht davon los:

- Das erste Rätsel: Der Fremde und das eigene Volk! Durch die Begegnung mit dem Fremden kommt mir der Fremde näher. Der Einsatz für Fremde macht mir diese vertraut, ganz von selbst durch die Hilfe. Hinzukommt, dass wir es auf die Dauer gar nicht aushalten, nur mit Fremden umzugehen.

- Das zweite Rätsel: Erbarmen als Grundhaltung des Lebens! Geht der Barmherzige nicht auf Dauer unter, ehe überall Barmherzigkeit verbreitet ist? Ist Barmherzigkeit nicht rein selektiv? Wie verbreitet sich Barmherzigkeit?

- Das dritte und im Gleichnis zentrale Rätsel: Der Nächste wächst mir immer erst zu! Dauerhafte Regelungen, etwa gar Institutionen, kann es dann doch gar nicht geben, wenn wir uns immer wieder auf neue Nächste einstellen sollen.

- Und das vierte Rätsel: Die religiösen Fachleute erweisen sich als inkompetent! Wie sollen die religiösen Fachleute der Kritik Jesu entgehen? Hätte ich mich heute besser nur den Armen an der Kirchentür widmen sollen – und nicht mit einem solchen Vortrag meine Zeit vergeuden?

Nun hat uns evangelischen Pastoren ein ehemaliger namhafter Politiker, Hans Apel, vorgeworfen, wir würden das Evangelium auslegen, wie es uns am besten paßt – und ist unter Protest aus der evangelischen Landeskirche aus- und in eine Freikirche eingetreten. Ich hätte ihn, nachdem ich seine scharfen, ehrenrührigen Bemerkungen über die evangelischen Pastorinnen und Pastoren im FOCUS gelesen hatte, gerne gefragt, ob er nicht – gegen den Rat der Reformatoren (vgl. CA VII) – Äußerlichkeiten sehr wichtig nimmt, und hätte ihn dann gefragt, wie er selbst es mit diesem zentralen Gleichnis Jesu hält? Gehe hin und tue desgleichen!

Die Worte Jesu sind in diesem Gespräch von einer Entschiedenheit, die wir gar nicht bewahren und befolgen können, ohne sie zu verbiegen, und zwar in jeder der vier Rätsel-Aspekte:

- Zum ersten: Die Hilfe des Fremden, des Samariters überschreitet die Grenze der Volkszugehörigkeit; entsprechende Grenzen werden in vielen Hilfsdiensten tagtäglich überschritten, beim Arbeiter-Samariterbund genauso wie in der Evangelischen Stadtmission Kiel, nie geht es um eingetragene Mitglieder oder um Selbstzahler, – und doch steht immer wieder die Frage im Raum, ob diese grenzüberschreitende Hilfe nicht auch die Kräfte zur Selbsthilfe bei denen erlahmen lässt, die die Hilfe erhalten. Nicht von ungefähr hat sich in der christlichen Armen- und Entwicklungshilfe längst das Prinzip der 'Hilfe zur Selbsthilfe’ durchgesetzt!

- Zum zweiten: Dass Mitleid oder Barmherzigkeit als Grundimpuls die Christen bewegt, würde vielleicht auch Hans Apel nicht bestreiten, aber wie lange sich damit ein realistisches Leben führen lässt, das bleibt doch ziemlich offen – und dazu hätten wir gerne auch seinen Rat weiterhin gehabt.

In der Evangelischen Stadtmission Kiel kann man wie in anderen diakonischen Werken davon ein Lied mit vielen Strophen singen, dass Mitleid allein nicht reicht, heute schon gar nicht. Der Wirt muß sein Unternehmen kommerzialisieren, wenn er häufiger solche Hospitaldienste verrichten und ein seriöses Beherbergungsangebot machen soll – und zugleich muß er heute darüber nachdenken, wie diese Hilfe so organisiert werden kann, dass sie für die Gesellschaft tragbar bleibt. Er müßte also auch über seine eigene Abschaffung nachdenken, falls seine Form des Hospizes oder des Hospitals zu kostspielig wird.

- Der dritte Aspekt ist erst recht nicht so leicht auf Dauer zu stellen: Der Nächste “wird“, wächst mir zu, dieser Grundsatz wird zugleich bedacht, berücksichtigt und – unvermeidlich – verbogen.

Wenn man bedenkt, dass z.B. die Stadtmission zwischen 1983 und 1994 eine Expansion von 10 oder 12 auf 23 Einrichtungen erlebt und bewegt hat, dann war der Grundsatz, dem Nächsten zu dienen in der Notlage, in der wir ihn vorfinden, faktisch überaus wirksam; in meiner Erinnerung ist z. B. die Diskussion um die Frauenberatungsstelle und um die Mitarbeit an der Zeitung der Wohnsitzlosen noch sehr präsent, auch die Einweihung der Werkstatt für die Neue Arbeit in Preetz ist mir noch in bester Erinnerung.

Dieser Grundsatz, dass der Nächste uns immer erst zuwächst, bewegt viele christliche Gemeinden stark – und wir schaffen es doch nicht, ihn ständig in die Praxis umzusetzen, einfach auch deshalb, weil unsere Kräfte begrenzt sind, - und je ernster wir das Problem der Hilfe nehmen, um so mehr geraten wir in eine professionelle Fachlichkeit, die uns dazu bringt, wie Priester und Levit an aktuell neu entstehenden Bedürfnissen vorbeizulaufen, denn wir haben ja schon eine vorgeschriebenes Hilfeprogramm. Damit haben wir das vierte Problem auch gleich auf dem Hals. Wir Helfer sind alle potentielle Priester und Leviten.

Liebe Gemeinde,
wenn diese vier Rätselaufgaben nicht zu lösen sind, sollen wir sie dann nicht lieber auf sich beruhen lassen, uns mit anderen Fragen und Geschichten des christlichen Glaubens begnügen? Oder Gott für seine Güte loben, dass er uns unser Leben täglich erhält? Die Schönheit der Natur bewundern und besingen?
Oder über die Bedeutung der Ehe und anderer Partnerschaften – mit Hans Apel und anderen Christen – streiten oder eben die Finanzen diskutieren?

Es wären nur Ablenkungsmanöver, sie würden niemandem helfen.

Es macht Sinn – gerade auch im Interesse derer, die Hilfe brauchen, dass sich die Christen so radikal mit der Aufgabe der Hilfe auseinander setzen und es aushalten, dass alle Lösungen vorläufig und zwiespältig bleiben.

- Die grenzenüberschreitende Hilfe wird immer an den Abgrund der Überforderung und zu Abwehr und Ausweichen führen, aber sie wird auch weiterhin ganz unfaßbare Ergebnisse der Rettung oder des Trostes herbeiführen, - und Fremde zu Freunden machen.

- Barmherzigkeit wird für Menschen nie selbstverständlich sein – und entweder überfordern oder nur halbherzig praktiziert werden, Barmherzigkeit ist keine ideale Verhaltensmöglichkeit, aber sie ist eine geniale Erweiterung menschlichen Verhaltens.

- Der Impuls, immer neu Ausschau zu halten, wer mein Nächster wird, bleibt gleichfalls eine dauernde Herausforderung, die jeder Institutionalisierung widerspricht – und doch ergibt sie eine solche Flexibilität des Denkens und Handelns, wie wir sie zur Gestaltung einer modernen Gesellschaft dringend brauchen. Und ich bin sicher, dass solche Geschichten, die ein dauerndes Höchstmaß an Flexibilität herausfordern, zu den Anstößen gehören, die die moderne Gesellschaft erst ermöglicht haben.

- und der Stolz der Fachleute muß sich natürlich auch dauernd selbst überprüfen, dass das berechtigte Selbstbewußtsein nicht in Selbstherrlichkeit umschlägt.

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter wird, wenn man es ernst nimmt, eine ständige Herausforderung sein; es ist die Grundlage für eine ganz anspruchsvolle Lebensauffassung: Sich jeden Tag zu prüfen, ob man als Zeuge für die Barmherzigkeit Gottes auf Erden wirkt, ob man sich nach den Menschen umsieht, die zum Nächsten werden könnten, und dies alles in aller Freiheit, ohne dass man sich zwingen lässt von diesem strengen Befehl: 'Gehe hin und tue desgleichen’.

Diese anspruchsvolle Lebensauffassung, sich jeden Tag neu zu überprüfen, ob man seine Sache wirklich gut macht im Interesse des Nächsten, ist aber auch keine Sonderauffassung von Christen allein, sie ist in einigen Berufen in der modernen Gesellschaft völlig unverzichtbar: Manche Ärzte und Mitarbeiter im Sozialwesen, manche Techniker und nicht wenige Wissenschaftler und erst recht viele Politiker tragen genau diese hohe Verantwortung, denn viele Entscheidungen haben schwerwiegende Folgen und müssen immer wieder überprüft werden.

Aber wie kann man das aushalten, ist das nicht alles nur Last und Verpflichtung, Anstrengung ohne Ende?
Der Erfolg der Diakonie – aufs ganze gesehen – spricht dagegen: Es beflügelt sehr, wenn man spürt, dass man helfen kann; es befriedigt ganz außerordentlich, wenn man merkt, wie man zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen kann, es macht Spaß, Brücken zu bauen. Auch der Samariter war auf seine Barmherzigkeit möglicherweise ein bißchen stolz, das gehört dazu.

Und so kann man auch heute sagen: Die Mitarbeit in der Evangelischen Stadtmission Kiel ist nicht nur Last, sondern auch Lust, macht Freude, macht auch gelegentlich stolz auf das, was an Hilfe für Bedürftige und Verbindung unter Fremden geschaffen worden ist und immer weiter geschafft wird. Es ist schön, die eigene Leistungsfähigkeit zu erfahren und die Erleichterung derer zu spüren, die Hilfe erfahren. Und die guten Ergebnisse und die befriedigenden Erlebnisse machen dankbar. Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
R.Schmidt-Rost@web.de


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