Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

13. Sonntag nach Trinitatis, 14. September 2003
Predigt über Lukas 10
, 25-37, verfaßt von Stephan Bitter
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

Wort für Wort ist uns diese Geschichte aus dem Munde Jesu seit alters in den Sinn geschrieben. Schritt für Schritt die Folge der Gestalten: Der Mensch, der unter die Räuber fiel, der Priester, der Levit und schließlich wie ein Wunder: der Samariter.

An ihm, dem Samariter, haften unsere Augen von neuem: An seinen ruhigen Händen, der Sorgfalt, der Vorsorge - es geschieht das Notwendige, das Menschliche. Schließlich, kaum war es noch zu hoffen.

Darüber sollen wir nachdenken, noch einmal; wieder, wie sich unsere Tage und unsere Fragen wiederholen.

Unsere Geschichte will fortgeschrieben werden: Der Levit macht es so wie der Priester - wer aber macht es wie der Samariter?

Die menschliche Geschichte ist unsichtbar eine Geschichte vom barmherzigen Gott, eine Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben.

"Niemand hat Gott je gesehen", sagt die Hl. Schrift - "der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt".

Die Leute, die vorbeigingen, kamen vom Heiligtum; und wussten sicher, wo oben ist und unten; und was heiliger Dienst sei ...

Und ich?
Ich vielleicht auch - Pastor oder Küster; oder Kantor oder Lehrer oder Kaufmann oder Beamter oder Forscher oder Hausfrau oder Abgeordnete ...
und ich - weiß auch von meinem Heiligtum, von der Ordnung, die mir heilig ist.

Ich kenne meine Ziele; und doch: Wo ist mein Herz, wo mein Gott?
Woher meine Eile, meine Unruhe - wem diene ich?

Wir sollen darüber nachdenken. Wo ist Gott - wo war er damals?
Im Tempel, sagte man - und also nicht unterwegs - nicht hier
bei diesem Menschen?

Jesus findet sich an seiner Seite: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?" Ein Bild des Heilands: Der ausgeraubte Mensch, der Hilflose.

"Hätte ich alle Schätze der Erde und hätte die Liebe nicht -
ich wäre ein tönend Erz, eine klingende Schelle" -
ein Nichts - alles eitel - ja wirklich: nichts Neues unter
der Sonne - und hätte die Liebe nicht ...

Woher unsere Unruhe, unsere Unzufriedenheit,
unsere Sorge, der beständige Versuch, die Zukunft in die Hand zu bekommen?

Wie gelähmt scheinen wir manchmal - und müssten es nicht sein,
so haben wir es doch schon empfunden -

"Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns
untereinander lieben, so bleibt Gott in uns."

Das ist ein Wunder. Und das ist die Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben - wo Gott denn sei –
hier, am Wege ist er.
Nicht zu lehren ist er, zu finden ist er.

Nicht ist ein Haus zu bauen; nicht ist zu schaffen und nach oben zu würgen.
Lass´ dich vielmehr hineinnehmen in ein wunderbares Tun.
Hier ist der Trost.

Auch heute zieht dieses kräftige Bild der sorgfältigen Barmherzigkeit uns zu sich hinüber. Es ist ein Bild der göttlichen Liebe:

"Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles."

Ohne jede Beschönigung sehen wir daneben auch dies: Das hässliche Fehlen der Liebe dort, wo sie notwendig wäre. Wo sie zu erwarten wäre: Halbtot liegt ein Mensch jüdischen Glaubens - der Zufall will es, und es kommt ein Priester vorüber - ja, besser konnte es gar nicht kommen ... aber: er sieht und geht vorbei.

So hart und hässlich und unbeschönigt, wie es in unserer Wirklichkeit vorkommt – und wie wir an uns selbst mit Schreck bemerken: Es war öde in meinem Herzen.

Und das Ganze noch verdoppelt - dass wir nur wirklich verstehen;
und einer ist auch des anderen Vorbild, man steckt einander an in der Lieblosigkeit. Muss ich denn der erste sein, der es anders machen sollte - der ich doch selbst so oft Lieblosigkeit erfahren habe - woher sollte ich es denn nehmen? Ich kann nur weitergeben, was ich auch bekam. Keiner kann der erste sein.

Nein, der Priester kann es nicht:
Ganz ebenso kommt der Levit daher, und ganz ebenso ist es, als hätte er ein Herz von Stein; und Augen, die nicht sehen.

Manchmal denken wir doch: Warum kann ich nicht ein anderer sein, ein neuer Mensch, der nicht so unklar in sich ist - mit boshaften Anwandlungen, so unaufmerksam?

Das eigene Herz klagt mich an: Du bist zu spät - du hast versäumt -
unerklärlich kommt mir vor, was ich getan - wie konnte ich so sein?
Können Leute wie ich denn noch das ewige Leben ererben?

"Gehe hin und tue desgleichen" - hole die Barmherzigkeit in dein Leben hinein,
hole das Wunder in dein Leben hinein -
ahme jenen Samariter nach, so wie der Levit den Priester!

Das Wunder ist die Wahrheit des Lebens - es ist die notwendige Antwort -
es kommt zunächst ganz von außen – es erscheint fremd wie eine Utopie.

Wie knapp und fertig steht es da: Kommt, sieht, geht vorüber.
Und ebenso knapp und klar gilt:
Auf der Seite des Ohnmächtigen siehst du Christus.
"Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."

Und dann erzählt Jesus eingehend das Wunder: Jeder Handgriff beinahe kommt vor. Wir sehen Sorgfalt, Liebe; hören, wie das Notwendige geschieht. Der Bruder hilft. Das ist uns so nah, wären wir unter die Räuber gefallen. Das ist uns noch so fern, weil wir vorübergingen. Nicht wir beugten uns zum Ohnmächtigen.
In dem sich erbarmenden Samariter siehst du Christus.

Der arme Mann aber, der halbtot liegen blieb an der Straße - das sind wir –
ewig und immer wir. Und überall dort, wo Menschen geschlagen und beraubt sind - überall dort, wo Menschen das Notwendige fehlt, wo sie ratlos sind, da ist Gott gegenwärtig.

Die M e n s c h h e i t ist nicht liegen geblieben, als sie hinabzog von Jerusalem nach Jericho; die Menschheit in ihrem Versagen, in ihrer Not, ihrem Aberglauben, ihrer Schuld.

Auch eben der Schuldige blieb nicht liegen, wie gefährdet und einsam er auch war; ich auch nicht - so wie der Priester und der Levit nicht liegen blieben in ihrer Schuld ... schließlich doch wohl nicht.

So gefährdet und so einsam und so hilflos. Darum wird ja das Evangelium dem schuldigen Menschen verkündigt: Du bist erlöst! Niemand von uns ist liegen geblieben in seiner Nacht und seinem Versagen. Uns ist geholfen.
In dem sich erbarmenden Samariter siehst du Christus.
Dies ist das Evangelium, der Trost der Menschheit.

Darum: Beginne nun du mit dem Wunderbaren, glaube nicht mehr an das, was dir ohne weiteres glaubwürdig erschien: Glaube nicht, dass jeder seinen Weg eiskalt und eilig gehen müsse, dass dir keiner etwas schenke.

Glaube das nicht, sondern glaube an den barmherzigen Gott, an eine ganz andere Abfolge von Tod und Leben, von Ich und Du, von Gott und Mensch -
lasse dich ein auf die andere Abfolge –

Lass' dich hineinnehmen in ein Wunder. Dies kann ein Weg sein durch den Kindergarten, durch eine Schule, es kann ein Wort sein in der U-Bahn, es gibt so viele unscheinbare Augenblicke, am Wege eben, und das Wunder verstehen wir manchmal in ganz kleinen Taten.
Auf der Seite des Ohnmächtigen siehst du Christus.

Wir ahnen das Wunder in dem kleinen Geschenk -
wir ahnen das Wunder in unserem eigenen Tun,
zum Hören brauchen wir manchmal die eigenen Hände -
erst im Tun öffnet sich unsere Vernunft.

So sind wir froh über diese Geschichte des Heilands aus Samaria -
wir gehen unseren Weg nun auch heute wieder weiter mit diesem freundlichen Licht: Der Heiland ist nahe.

Nicht du musst dein Heil erfinden und nicht du musst den Himmel erkaufen -
lass' Gott, den Heiland, das erste Wort sagen: Lass' den Heiland reden
falle nicht zurück, halt dich fest an seiner Hand.

Ja, auch du bist vorbeigegangen in dem Priester und in dem Leviten -
aber barmherzig schenkt dir Gott: Du darfst barmherzig werden.

Das ist: Es wird das Wunder deine Wirklichkeit. Alles das aber, was du aufgebaut hast zu deinem Leben - alles kann werden, als wäre es nicht -

"Wir machen uns viel vergebliche Unruhe und sammeln und wissen nicht, wer es einnehmen wird."

Noch mag der urmenschliche Turm zu Babel seinen Schatten werden:
Unser unmöglicher Versuch mag uns noch einholen:
Leistung für Leistung, Stufe für Stufe, Einsamkeit auf Einsamkeit,
höher und höher in den luftleeren, eisigen Raum,
das Leben sich selbst zusammenzusetzen -
Flickwerk, Schein, leerer Schein.

Aber leugne nicht die Erfahrung der Barmherzigkeit! Hier ist sie hineingeholt; in diese Geschichte für alle Menschheit: Lass' dich jetzt leiten von dem Wunderbaren! Kehre zurück zu den Menschen, Schritt für Schritt!

Wer bin ich? - Zuerst und zuletzt: Der von Gott Aufgesuchte. Und auf dem Wege: der, der sehen kann; wahrzunehmen lernt in der Schule des Heilands.

So gehe hinaus auf die Wege und siehe, gib dem Erbarmen Raum; du wirst den N ä c h s t e n finden u n d d i c h .

"Herr, in deinem Licht sehen wir das Licht."

Amen.

Dr. Stephan Bitter, Sup. i. R.
Falkenweg 10
45478 Mülheim an der Ruhr
mail@StephanBitter.de

 


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