Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

13. Sonntag nach Trinitatis, 14. September 2003
Predigt über Lukas 10
, 25-37, verfaßt von Wolfgang Butz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

„Geiz ist geil!“ Mit diesem Slogan wirbt ein großes Unternehmen der Elektronikbranche um Käufer und Kunden. Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Jedenfalls diese Werbung ärgert mich maßlos. Sie spielt mit meiner Urangst, im Leben zu kurz zu kommen, am Leben vorbei zu leben. Die Botschaft heißt dann: Haben, Haben, Haben! Auf keinen Fall zu kurz kommen. „Geiz ist geil“ – alles für mich! Dahinter verborgen aber ist tiefe Sehnsucht nach einem erfüllten und geglückten Leben, nach einem Leben, das sinnvoll ist. Die Frage nach Erfüllung des Lebens ist eine uralte religiöse Frage der Menschheit. Geht es doch um nicht mehr oder weniger als um die Frage nach dem Heil des Lebens bei Gott in Zeit und Ewigkeit. Es ist die Frage nach dem Himmel oder dem ewigen Leben. Der Predigttext dieses Sonntags beginnt mit dieser Frage: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu ererben?“ Wie komme ich in den Himmel, wie finde ich die Erfüllung meines Lebens? Ich lese aus LK. 10, 25 –37.

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Die Antwort auf die Frage nach Erfüllung und Heil des Lebens ist nicht: Raff und sieh zu, was du kriegen kannst, sondern: Sei offen für deinen Nächsten, für Bedürfnisse des anderen. Vor allem aber, sei dir bewusst, dass du in einem größeren Ganzen lebst. Auch der andere hat einen Anspruch auf Erfüllung im Leben. „Wer also ist mein Nächster?“ Der Schriftgelehrte, so heißt es in unserem Text, wollte ihn auf die Probe stellen. Das kenne ich auch! Hinter dieser Frage steckt ja manche Unsicherheit: Wie helfe ich richtig? Ich habe so oft gegeben. Kommt mein Geld auch an? Man hört und liest doch so viel. Spenden verschwinden in dunklen Kanälen. Die Verwaltung verschlingt einen großen Teil. Und die Bettler in der Stadt, kaum gebe ich ihnen etwas, setzten sie es in der nächsten Kneipe in Alkohol um!

„Wer ist mein Nächster?“ Diese Frage beantwortet Jesus nicht. Er nimmt den Schriftgelehrten mit hinein in eine andere Perspektive und lässt ihn auf jemanden anderen schauen. Die Geschichte, die ihm Jesus erzählt, gibt ihm eine überraschende Antwort. Es geht eben nicht um die Pfadfindertugend: Jeden Tag eine gute Tat! Es geht auch nicht darum, immer noch mehr zu tun, sondern darum: Geh mit offenen Augen durch die Welt, öffne dein Herz, bleibe empfindsam und du wirst deinen Nächsten sehen. Wenn du dich darauf einlassen kannst, ist die Frage „Wer ist mein Nächster“ überflüssig. Sie stellt sich nicht mehr.

Die Frage heißt jetzt so: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Und darauf gibt es nur eine Antwort: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat!“ Der Nächste ist der, der die Barmherzigkeit tut. Ganz schön brisant! Wir sind die Nächsten für die Obdachlosen, für die perspektivlosen Jugendlichen, für die Sterbenden, Kranken und Einsamen!

Das ist eine überraschende Rollenveränderung. Wieder einmal stellt dieser Jesus von Nazareth alles auf den Kopf. Normalerweise ist der Nächste für mich der andere, den ich lieben soll wie mich selbst. Nun bin ich der Nächste für den anderen, weil er mich braucht. Er bringt mich in Bewegung wie einst den barmherzigen Samariter, von dem die Zuhörer Jesu es am wenigsten erwartet hätten. Samariter, mit denen wollten die frommen Juden wirklich nichts zu tun haben. Und er tut das Selbstverständliche, ganz einfach. Ihn stellt Jesus uns als Beispiel vor Augen. Er reagiert auf die Not, die er antrifft, er lässt sich anrühren, nicht weil er muss oder aus moralischer Pflicht. Dies traute man einem Samariter sowieso nicht zu. Er tut es, weil es jetzt notwendend ist.

Wir gucken allzu oft weg. Das scheint mir das große Problem unserer Gesellschaft zu sein. Die Antriebskraft unseres wirtschaftlichen Handelns – des Kapitalismus – heißt unhinterfragt zur Zeit jedenfalls Egoismus, Haben, Haben, Haben. Da braucht doch keiner mehr mit Barmherzigkeit, Nächstenliebe oder gar Gottesliebe zu kommen. Was sind das für Werte? Lächerlich! „Geiz ist geil!“ Was aber haben wir damit alles verloren an Miteinander, an Gemeinschaft, an Verständnis, an Rücksichtnahme? Dies macht doch unser Leben lebenswert! Oder nicht?

Wenn ich hingucke, stelle ich Nähe her, da kann ich nicht vorübergehen. Ich kann gar nicht anders, als mich hineinziehen zu lassen. Eine Beziehung wird hergestellt. Der barmherzige Samariter hat hingeguckt, nicht pflichtgemäß, sondern wahrnehmend. Er hatte keine Wahl mehr. Das bewusste Sehen stellt Nähe her und bezieht andere mit ein. Der Wirt pflegte ihn, wohl gegen Bezahlung, aber er war mit dabei. Barmherzigkeit zieht Kreise. Meine Angst, im Leben zu kurz zu kommen, zieht keine Kreise, sondern wirft mich auf mich zurück, macht mich einsam in meiner Gier, immer mehr haben zu wollen.

Gott lieben und den Nächsten lieben. Das war der Ausgangspunkt für unsere Geschichte. Im selbstverständlichen Tun der Barmherzigkeit fallen Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen. Der unter die Räuber Gefallene ruft meine Verantwortung, meine Liebe wach. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ So wird das Tun der Barmherzigkeit, die Zuwendung zu den Geschundenen und Benachteiligten im tiefsten Sinne zu einer Christusbegegnung.

„Schau hin! Nimm dich nicht so wichtig, sei nicht so fixiert auf die Frage, wie bekomme ich das, was ich unbedingt brauche!“ Dann geschieht es wie von selbst, dass ich sehe, was der andere braucht. Viel Engagement von Menschen hat sich so entwickelt: Die einen sammeln Güter für notleidende Kinder in Rumänien und fahren sie hin, wieder andere kümmern sich um die Ausstattung eines Kinderheimes in der Ukraine, und dritte beginnen sich in Behindertenclubs zu engagieren, weil sie Behinderung in der eigenen Umgebung erlebt haben.

Die beiden Frommen hatten wichtigeres zu tun. Sie hatten ihre Pflichten, waren damit so beschäftigt, dass sie die Welt nicht mehr gesehen haben – gefangen in sich selbst. Das bin ich auch oft! Gefangen in mir selbst, mit mir beschäftigt, mit dem Haben wollen. So ist das! Ich kann nicht überall hinschauen, weil ich sonst verrückt würde über das Maß der Unbarmherzigkeit in dieser Welt. Meine Liebe hat auch ihre Grenzen.

Aber manchmal schaffe ich es vielleicht ein bisschen, mich anrühren zu lassen, mich hineinziehen zu lassen. Manchmal schaffe ich es vielleicht, aus meinem Selbstmitleid in meiner Ichbezogenheit herauszugehen und den anderen zu Dann bleibe stehen, gehe nicht vorüber und kann einem anderen Menschen zum Nächsten werden. Es gibt nichts Wichtigeres als das und nichts Befriedigenderes. Das ist die unmittelbarste Umsetzung des Gebotes: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Also, Denk nicht so viel über dich und dein Seelenheil nach, sagt Jesus zu dem Schriftgelehrten in unserer Geschichte. Geh einfach mit offenen Augen durch die Welt und tue das Nächstliegende, das Menschliche, das Selbstverständliche! Tu’s ganz einfach und erlebe, dass die Frage sich erledigt hat!

Amen.

Dekan Wolfgang Butz - Prodekanat Nürnberg Süd
Prodekanat.Sued@t-online.de

 


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