|
12. Sonntag
nach Trinitatis, 7. September 2003
Predigt über Markus 7, 31-37, verfaßt von Peter Böhlemann (-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de) |
31 Und als er [Jesus] wieder fortging aus dem Gebiet
von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der
Zehn Städte. Gebet: Herr, der Du Taube hören und Sprachlose reden lässt, segne nun unser Reden und Hören. Sei mit Deinem Geist der Wahrheit, der die Herzen befreit, mitten unter uns. Amen. Das Gefängnis der Stille Er lebte in einer anderen Welt. Dort war er allein. Es war eine Welt der Farben und Gefühle, eine Welt aus Licht und Schatten. Kein Ton drang in diese Welt, kein Geräusch störte die Stille. Die Augen hatten Zeit zu sehen und die Zunge konnte sich ausruhen von ihren mühevollen Anstrengungen, Laute hervorzubringen. Es war eine Welt für sich. Doch es war auch ein Gefängnis … Vielleicht wagen wir es ja mal, einen Moment in dieses Gefängnis
der Stille einzudringen, nur einen Augenblick, nicht das ganze Leben.
Es ist nicht einfach - nur Stille - wie jetzt. [Pause] Der Mann, von dem ich spreche, hatte sein Leben lang die Ohren zu. Er war gefangen in der Stille, unfähig, Geräusche wahrzunehmen oder mehr als Lallen hervorzubringen. Der Kontakt zu anderen Menschen war das Schwierigste, was er sich überhaupt vorstellen konnte. Mit den Jahren war er ein guter Beobachter geworden. Und er sah die
Verzweiflung in den Gesichtern derer, die ihn mit nicht enden wollenden
Bewegungen ihrer Münder und Zungen traktierten. Er spürte,
dass sie ihm helfen wollten; und um sie nicht ganz zu entmutigen, machte
er manchmal ihre Mundbewegungen nach. Aber die Laute, die er erzeugte,
schienen unverständlich zu sein und bewirkten, dass die Menschen
sich angewidert von ihm abwendeten. Begriffen sie doch nicht, dass er
nicht ihre Worte, sondern ihre Berührungen und die Blicke ihrer
Augen brauchte. Aber kaum jemand fasste ihn an, schließlich war
er kein Kind mehr. Manchmal ging er auf jemanden zu, der ihm verständnisvoller als andere schien, doch meist stießen seine zaghaften Berührungsversuche auf massive Ablehnung, oder er wurde sogar weggestoßen. Immer mehr zog er sich daher in sein Gefängnis der Stille zurück. Immer unerträglicher wurde ihm der Kontakt mit den scheinbar Gesunden, von denen niemand zu ahnen schien, dass für ihn jede Berührung ein Fenster aus seinem Gefängnis war und jedes Zeichen, dass ihm jemand machte, ein Atemzug Freiheit. Manchmal nahm ihn einer seiner Geschwister, die ihn gut kannten, an
die Hand, und er spürte die Wärme der Hand, den leichten Druck,
und ihn durchströmte das Gefühl, mit einem Menschen verbunden
zu sein, mit ihm zu kommunizieren. Er konnte diese prüfenden Blicke auf seinen Mund und das anschließende arrogante Kopfschütteln einfach nicht mehr ertragen. Die Sprache der Freiheit Er hatte es nicht gewollt, aber sie trugen ihn fast mit Gewalt zu diesem Mann, von dem er später erfuhr, dass es Jesus war. Viele Menschen standen um ihn herum, und er spürte die auffordernden spöttischen Blicke auf ihn und auf Jesus. Es schien so etwas wie ein Test zu sein, sie wollten etwas von ihm. Doch die vielen Augen und Gesten, diese bedrohliche Menge, die zu ihm hinsah, die Hände, die ihn festhielten, nahmen ihm die Luft. Es war unerträglich, er wollte fliehen, allein sein, sehnte sich nach seiner Einsamkeit. Da ging dieser Mann, Jesus, auf ihn zu, streckte seine Hand aus, legte sie in seine Hand und führte ihn mit sanftem Druck weg von der Menge, etwas weiter an einen einsameren Ort. Fast so, als hätte er verstanden, was er fühlte und brauchte. In der Stille angekommen konnte er wieder atmen. Erleichtert begann er, diesen Mann wahrzunehmen: Er hatte seine Hand gespürt und blieb an seinen Augen hängen. Konnten sie ihn verstehen? Noch nie hatte ihn jemand so angesehen, ohne Fragen, ohne innerliches Kopfschütteln oder Unverständnis. Und dann sprach dieser Mann mit ihm. Ja, er konnte es später auch nie anders beschreiben. Bisher hatte er nicht einmal gewusst, was Sprechen ist. Aber dieser Mann sprach mit seinen Augen, mit seinen Händen, mit seinem Mund ohne Worte, nur so, dass er alles verstand. Er schien zu wissen, was er brauchte. Als er ihm die Finger in die Ohren legte, brach eine Mauer des Gefängnisses ein. Dann befeuchtete Jesus seinen Finger mit Speichel und legte ihn auf seine Zunge. Da sprangen die Fesseln von ihm ab. Und er sah aus dem Rest seines Gefängnisses, wie Jesus zum Himmel aufblickte, und halb spürte er es, halb hörte er, wie Jesus unter der Last, die er ihm abnahm, aufstöhnte und laut rief: „Tu dich auf!“ Und er war frei ... Jesus hatte ihn verstanden. Er war in die Welt dieses Taubstummen eingedrungen und hatte ihn berührt. Er hatte ihn an die Hand genommen und mit seinen Fingern mit ihm kommuniziert. Liebe Freunde, Jesus führt hier vor den Leuten keine Zauberkunststückchen
vor, sondern spricht mit einem Taubstummen. Es ist die Sprache der Befreiung. Nur, wie lernen wir diese Sprache? Ganz sicher nicht mit unserem Kopf, eher schon mit unseren Händen. Die Sprache der Befreiung zu hören lernen wir nur, wenn wir uns von Jesu Händen anrühren lassen, von seinen liebevollen, durchbohrten Händen. Und diese Sprache sprechen lernen wir ebenfalls nur mit den Händen. Wir müssen sie falten, die Hände, zupacken, mitarbeiten, weitergeben, was wir empfangen haben. Wenn wir nicht taub und stumm bleiben wollen, müssen wir die Begegnung
mit Jesus suchen, um aus seinen Händen alles zu empfangen. Die Konsequenzen Jesus vollbringt ein Wunder, er heilt ein Taubstummen, und gebietet den Anwesenden, es niemanden zu sagen. Das ist paradox. Und es heißt ja dann auch: Aber je mehr er’s verbot, desto mehr verbreiteten sie, was da geschehen war. Warum tut Jesus so etwas? Dieses Wunder war doch eine gute Reklame - bis heute! Eben zeigt er sich noch als erfahrener und erfolgreicher Psychotherapeut, der selbst mit Taubstummen reden kann, und jetzt kneift er vor den Konsequenzen! Was soll das? Kokettiert Jesus mit seinem Ruhm oder war es ihm vielleicht peinlich, einem Ungläubigen geholfen zu haben? Immerhin lebte dieser Taubstumme auf heidnischem Gebiet und wird in seinem Leben weder etwas vom Wort Gottes gehört haben, noch sich jemals dazu bekannt haben. Wie hätte das auch gehen sollen? Meines Erachtens gibt es einen guten Grund, warum Jesus bei manchen Wundern so geheimnisvoll tut, sich zurückzieht, oder auch verbietet, davon zu erzählen. Jesus wollte nicht an seinen Wundern erkannt werden, sondern an seinem Weg des Leidens und des Todes. Viele Menschen sahen damals in Jesus die Erfüllung der Verheißungen der heiligen Schriften. Etwa der Verheißung aus JESAJA 29 [evtl.: die wir eben im Gottesdienst als Schriftlesung gehört haben]: Wenn der Herr kommt, „Zu der Zeit werden die Tauben ... hören, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein ...“ (Jes 29,18f) Diese Verheißungen kannten die Menschen damals und erwarteten nun von Jesus, dass er sie erfüllen und sein Volk befreien würde. Doch kaum jemand verstand, welche Art von Befreiung Jesus bringen würde. Man rechnete mit einem Wundertäter, der sein Volk befreien und alle irdischen Machthaber vertreiben würde. Und man rechnete nicht mit jemanden, der sich verhaften, foltern und kreuzigen ließ, der nur mit seiner Liebe die Mächte des Bösen besiegte, der durch seinen Tod, die Menschen, die an ihn glaubten, von den Fesseln der Sünde befreite. Damit rechnete keiner. Rechnen wir eigentlich damit? Wenn wir heute über die historische Wahrscheinlichkeit der Wunder
Jesus, über die Art seiner Geburt oder über die Leiblichkeit
seiner Auferstehung zu spekulieren, dann tun wir genau das, was Jesus
vermeiden wollte. Deshalb hat Jesus damals den Leuten geboten zu schweigen. Er wusste, sie würden ihn missverstehen. Er hat den Menschen geholfen, weil er sie liebte. Das Wunder an diesem Taubstummen vollbringt er nicht demonstrativ vor der großen Menge, sondern abgesondert und allein mit dem, der ihn braucht. Natürlich konnte nicht verborgen bleiben, dass dieser Mann plötzlich wieder deutlich sprach und hören konnte. Aber mit seinem anschließenden Schweigegebot offenbart Jesus etwas über das Wesen unseres Glaubens: Denn das Fundament unseres Glaubens ist nicht das Fürwahrhalten von Wundern, sondern die persönliche Begegnung mit Jesus Christus. Wir glauben nicht an Zauberei, sondern an den lebendigen Sohn Gottes. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt, dass du nicht alleine bist. Das heißt, dass das Gefängnis deiner Taubheit und Sprachlosigkeit, das Gefängnis deiner Angst, überwunden werden kann. Es gibt einen Weg in die Freiheit. Du kannst ihn gehen, wenn Du Dich von Jesus berühren lässt. Tun wir nicht so, als ständen wir da weit drüber, als gäbe
es für uns dieses Gefängnis der Taubheit und der Sprachlosigkeit
nicht. Sicher, wir können hören und reden, sonst wären
wir heute nicht hier, aber hören und reden wir richtig? Und irgendwann kommen wir uns vor wie in der Wüste oder eben wie in einem Gefängnis, jedenfalls allein und nur auf uns selbst gestellt. Und dann wird es immer schwerer, andere um Hilfe zu bitten. Wer alles alleine lösen will, nimmt sich in sich selbst gefangen. Jeder kämpft den Kampf des Überlebens für sich! Nur, irgendwann fangen dann die Kontaktschwierigkeiten an. Wir haben Berührungsängste, ziehen uns in uns selbst zurück, wirken verschlossen und vermeiden möglichst jedes echte Gespräch. Und wir fühlen uns krank oder auch gefangen. Die Begegnung mit Jesus kann dies alles durchbrechen, sie ermöglicht echte Kommunikation. [Wissen Sie, was das Wort „kommunizieren“ in der katholischen Tradition bedeutet? Es bedeutet dort: „an der Kommunion, also am Abendmahl teilnehmen“. Beim Abendmahl teilt sich Jesus uns so mit wie er sich damals dem Taubstummen mitgeteilt hat. Er berührt unsere Lippen mit seinem Blut, er lässt uns schmecken und sehen. Wir nehmen das Brot als Zeichen für seinen Leib in unsere Hände. Sie alle sind eingeladen, gleich am Abendmahl teilzunehmen, das Gefängnis der Vereinsamung zu verlassen und in Kontakt zu treten mit anderen und mit Jesus.] Lassen Sie sich von ihm berühren und heilen! Vielleicht können wir ja dann in unserer Gemeinde einmal das sagen,
was die Menschen damals gesagt haben: Amen. GEBET: Herr, unser Gott. PREDIGTLIED: EG 72 (1-6) O Jesu Christe, wahres Licht Dr. Peter Böhlemann |
(zurück zum Seitenanfang) |