Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

12. Sonntag nach Trinitatis, 7. September 2003
Predigt über Markus 7, 31-37, verfaßt von Christiane Borchers
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde !
„ Hephata!“, „Öffne dich“! ist das Schlüsselwort dieser biblischen Heilungsgeschichte.
Jesus handelt als Wundertäter; uns muten die Wunderheilungen befremdlich an, aber die Menschen zu Lebzeiten Jesu hatten damit keine Probleme. Für sie stand außer Zweifel, dass Wunderheilungen möglich waren. Es gab viele Kranke, die Medizin hatte nicht die Möglichkeiten, die es heute gibt. Menschen mit sichtbaren Behinderungen waren überall zu sehen, auf dem Land und in der Stadt. Sie saßen an zentralen Plätzen und erbettelten sich ihren Lebensunterhalt. Wenn sie von Wunderheilern hörten, hatten sie es eilig, zu ihnen zu kommen. Vielleicht käme wirklich eines Tages jemand, der ihnen helfen konnte. Menschen mit Behinderungen gehörten zum öffentlichen Bild dazu.

Wir erleben heute kaum in der Öffentlichkeit Menschen mit sichtbaren Behinderungen, - und wenn, dann sind sie ausgerüstet mit Hilfsmitteln; die Behinderung wird so gut es geht ausgemerzt und, wenn das nicht geht, ausgeglichen. Eine Sehschwäche empfindet heutzutage kaum jemand als Einschränkung: Fast jede/r trägt eine Brille. Die Gehwagen haben sich etabliert, Rollstühle gibt es bereits im schicken Design. Die Sanitätshäuser bieten phantasievolle Hilfsmittel jeglicher Art an.

Das Bild ändert sich, wenn wir unseren Urlaub in Ländern verbringen, die nicht auf diesem wirtschaftlichen und technischen Stand sind wie wir, etwa in Bulgarien oder Rumänien, in Tunesien oder Ägypten. Menschen sitzen dort - wie vor zweitausend Jahren - an zentralen Plätzen in den Städten und betteln. Der eine hat nur noch Stümpfe, dem anderen fehlen beide Arme. Mütter halten den Touristen schwache und kranke Babys entgegen, um Mitleid zu erregen. Oder es kann passieren, dass jemand Ihnen beim Abendessen im Hotel einen Zettel auf den Tisch legt, darauf steht: Ich bin taub und stumm, bitte kaufen Sie mir ein Feuerzeug ab.

Die Armut ist ein großes Problem. Selbst im reichen Hamburg sah ich in diesem Sommer verstümmelte ausländische Menschen in der Haupteinkaufsstraße, die um Geld bettelten. Bietet ihnen ihre Behinderung den Vorteil, dass sie eher Mitleid erregen als Nichtbehinderte, so möchte wohl jede/r lieber ohne Behinderung leben.

Der Mensch, der zu Jesus gebracht wird, ist nicht verstümmelt, er kann laufen, er hat Arme und Beine, aber er ist taub und stumm. Er kann weder hören noch sprechen, die Stimme und die Ohren verweigern den Dienst. Seine Ohren sind verschlossen; wer nicht hören kann, kann meistens auch nicht sprechen. Sprechen und Hören stehen in einem engen Zusammenhang. Sprechen lernen wir durch Hören. Durch Hören und Sprechen nehmen wir Kontakt zu Menschen und zur Umwelt auf. Wer taubstumm ist, ist erheblich eingeschränkt in der Kommunikation mit anderen Menschen. Wer nicht hören und sprechen kann, lebt isoliert, ist ausgeschlossen vom Gespräch. Zu der körperlichen Behinderung kommt eine große Einsamkeit hinzu. Selbst Schwerhörige ziehen sich auf Dauer vom gesellschaftlichen Leben zurück. Sie mögen nicht immer nachfragen, erleben es auch, dass die anderen ungeduldig werden. Es ist mühselig, mit einem Schwerhörigen ein Gespräch zu führen.

Damit man problemlos mit einem Menschen, der taub und stumm ist, sprechen kann, ist eine Sonderausbildung nötig. Taubstumme kommunizieren über die Gebärdensprache. Wenn sie die Zeichen beherrschen, kommen sie gut zurecht. Als ich kürzlich in einem Restaurant war, saß am Nachbartisch eine Gruppe von Taubstummen. Die Gruppe war sehr angenehm. Sie machte nicht solch einen Lärm wie sprechende Menschen, sie unterhielten sich dennoch lebhaft, wie ich aus den engagierten Gesten entnehmen konnte. Wie gut, dass es heute gute Möglichkeiten gibt, diese Einschränkung auszugleichen.

Zur Zeit Jesu gab es das nicht. Wer taubstumm war, musste sich irgendwie verständlich machen. Taubstumme waren – mehr noch als heute - abhängig von der Bereitwilligkeit und Fähigkeit ihrer Mitmenschen, auf sie einzugehen.

Ein Taubstummer wird zu Jesus gebracht. Wer ihn gebracht hat, erfahren wir nicht. Vielleicht sind es Verwandte oder Freundinnen und Freunde. Auf jeden Fall sind es Menschen, die sich trotz seiner Gehörlosigkeit nicht von ihm abgewandt haben. Vielleicht waren diese Menschen mitbetroffen. Wenn einer in der Familie behindert ist, sind alle betroffen. Sie müssen sich auf den Menschen einstellen, Einschränkungen in Kauf nehmen. Sie leiden mit, hoffen mit, überlegen, wie das Leben für den Betroffenen und sie selbst lebenswerter werden kann, wo es möglicherweise Heilung gibt.

Die Menschen, die den Taubstummen zu Jesus bringen, haben sich nicht abgewandt, aber der Behinderte hat sich ganz in sich zurückgezogen. Er wird passiv geschildert. Sie bringen ihn zu Jesus, sie bitten für ihn. Der Taubstumme lässt mit sich geschehen. Er wird seine Gründe haben, er hat Erfahrungen; wie oft mag er enttäuscht worden sein. Vielleicht ist er nicht mehr bereit, immer neue Enttäuschungen hinzunehmen, vielleicht will er die Hoffnungen nicht so hoch hängen, das ist reiner Selbstschutz, vielleicht hat er auch einfach keine Kraft mehr zum eigenen Handeln. Es ist gut, dann Menschen zu haben, die uns nicht verlassen, die Hoffnung auf Veränderung haben, wo wir selber uns schon arrangiert haben mit dem scheinbar Unabänderlichen. Wie gut, wenn andere für uns etwas tun, wozu wir selbst nicht in der Lage sind.

Die den Taubstummen gebracht haben, bitten Jesus, er möge ihm die Hände auflegen. Jesus nimmt ihn beiseite, d.h. er wendet sich ihm ganz persönlich zu. Er gibt ihm Raum, nur diesem einzelnen Menschen. Nur er ist im Moment wichtig, er bekommt die volle Aufmerksamkeit. Allein diese persönliche Zuwendung hat schon eine heilende Wirkung, jemanden wahrnehmen in seinen Bedürfnissen, ihm sich ganz zuwenden, sich für ihn öffnen ist Balsam für seine Seele.

Jesus berührt diesen Menschen. Diese Berührung müssen wir uns nicht sanft vorstellen, es ist eine kraftvolle Berührung, Jesus stößt fast gewaltsam die Barrieren nieder, die den Taubstummen behindern. Er dringt mit dem Finger an die Stellen, die gebunden und verschlossen sind, er fasst in die Ohren und berührt die Zunge mit Speichel. Mit Speichel zu heilen war damals übliche Praxis. Auf uns wirkt das etwas abstoßend. Auch die etwas grobe Art der Heilung wirkt auf uns befremdlich. Jesus und seine Art des Umgangs stellen wir uns eher sanft vor. Aber bei schweren Leiden können Heilungen - auch heute - manchmal mit starken Eingriffen verbunden sein.

Zur Handlung kommt das Wort hinzu. „ Hephata!“ „ Öffne dich“! Das bezieht sich nicht nur auf die Ohren, sondern auf den ganzen Menschen. Für den Taubstummen war die Begegnung mit Jesus lösend und heilvoll. Auf die Öffnung der Ohren folgt, dass der Taubstumme sprachfähig wird. Er kann reden. Die neu eröffnete Möglichkeit verändert die Wahrnehmung und damit den Menschen selbst. Der Gehörlose hat erfahren, dass die Nähe eines Menschen gesund und lebendig machen kann. Er ist kommunikationsfähig geworden. Heil und gesund geht er nun in eine Welt, in der es viel zu entdecken gibt. Ähnliche Erfahrungen machen Menschen auch heute. Das entscheidende Wort lautet: Hephata, öffne dich. Es wirkt wie ein Zauberwort. Worte - einmal ausgesprochen -, haben ihre Wirkung, sie schaffen Wirklichkeit. Wenn dies schon für gewöhnliche Worten gilt, um wie viel mehr gilt das für machtvolle Worte. „Hephata!“, „Öffne dich!“, ist solch ein machtvolles Wort; es wird von Jesus in Vollmacht gesprochen mit dem Blick zum Himmel. Er handelt und spricht im Auftrag Gottes, eröffnet Raum, der vorher verschlossen war.

Das Heilungswort ist begleitet von einem Seufzen Jesu. Warum seufzt Jesus? Ist das Öffnen der Ohren so schwer? Oder seufzt Jesus aus Mitleid mit der Not eines Menschen, der nicht hören und nicht sprechen kann ? - Es ist ein Seufzen über die unerlöste Kreatur, die auf Neuschöpfung wartet. Hephata schließt den Raum auf, in dem die neue Schöpfung ins Leben kommt. Jesus seufzt über das Weh und Ach in der Welt wie eine Frau, die in den Geburtswehen liegt, bevor sie das neue Leben gebiert. Jesus gebiert einen heilvollen Zustand durch das lösende Wort. Worte aus dem Joahnnes-Evangelium kommen mir in den Sinn: „Am Anfang war das Wort und durch das Wort ist alles gemacht.“ Ebenso geschieht Schöpfung in der Schöpfungsgeschichte durch das bloße Wort. Gott sprach: Es werde .... und siehe, es geschah also.
In Jesu Seufzen vereint sich das Seufzen der gesamten Kreatur, die auf Heilung und Neuschöpfung wartet.

„Hephata!“, „öffne dich!“, hat Wirklichkeit geschaffen. Nicht nur der Taubstumme ist dadurch verändert und neu geworden, auch bei den Umstehenden hat sich etwas ereignet. Sie loben und preisen Gott: „Er hat alles wohl gemacht, die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Hier strahlt uns das ganze Evangelium entgegen. Taube hören, Blinde sehen, Lahme gehen, den Armen wird das Evangelium verkündet. Diese messianischen Worte werden auf Jesus bezogen, mit dem das Reich Gottes in der Welt angebrochen ist. Der Taubstumme erlebt Neuschöpfung, stellvertretend für die gesamte Kreatur, der Neuschöpfung im Reich Gottes verheißen ist.

Gott hat alles wohl gemacht, lobt die umstehende Menge. Manchmal spüren wir das am eigenen Leib. Manchmal merken wir, wie alles heil und gesund ist. Wir fühlen uns wohl und sind mit uns und der Welt im Reinen. Aber dann gibt es Zeiten, da spüren wir nichts davon; erleben Krankheit und Behinderungen, Not und Sorgen. Es tut gut, von Heilung zu hören. Es tut gut, von Menschen zu hören, bei denen Leben gelungen ist. Jesus hat die Barrieren beseitigt, er möge auch uns heilen.
Amen.

EG 648,1-3: Wir haben Gottes Spuren festgestellt.....

(Ausgabe für die Ev.-ref. Kirche, Ev. Kirche im Reinland, Ev. Kirche von Westfalen, Lippische Landeskirche)

Christiane Borchers, Groß Midlum
Pfarrerin der Ev.-ref. Kirche
Christiane.Borchers@web.de

 


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