Liebe Gemeinde!
Mich faszinieren die verschiedenen Personen, die in dieser Geschichte
von der Heilung des Taubstummen vorkommen. Ich möchte mir die drei
Personen bzw. Personengruppen deshalb gerne mit Ihnen ansehen.
Da ist zunächst die Hauptperson der Geschichte, der Taubstumme
selbst.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber sein Name wird
nicht genannt. Wahrscheinlich ist sein Name für den Inhalt der Geschichte
nicht wichtig. Im Mittelpunkt steht vor allem seine Krankheit. Manchmal
machen wir das heute auch noch so, dass wir jemanden beschreiben über
ein charakteristisches Merkmal. Wir wissen auch nicht, ob der Taubstumme
von Geburt an behindert war oder ob ein schlimmes Erlebnis ihm Ohren
und Mund verschlossen hat. Auch das scheint also nicht von Bedeutung
zu sein.
Das Leben als Taubstummer zur Zeit Jesu war sicher alles andere als angenehm.
Sie kennen bestimmt auch etliche Menschen, die schlecht hören. Oft
erzählen sie, wie schwer es ist, wenn man nicht versteht, was die
Anderen sagen. Wie schwer es ist, dauernd nachfragen zu müssen,
womöglich auch noch dumme Bemerkungen einstecken zu müssen.
Der Taubstumme hat nicht einmal diese Möglichkeiten gehabt. Er sah,
wie andere lachten, aber warum, blieb für ihn unklar. Er sah, wie
Andere redeten, aber worüber, blieb ihm verborgen. Ob sie gar über
ihn redeten und lachten, konnte er sich nur selbst fragen.
Neben der eigenen Unsicherheit steht die Unsicherheit der Mitmenschen.
Und so erfolgt oft der Rückzug. Der Taubstumme lebt isoliert und
verlassen. In der damaligen Zeit kam dazu, dass Krankheiten oft als eine
Strafe von Gott angesehen wurden. Ich denke, es war ein sehr einsames
und abgeschnittenes Leben, das dieser Mann führte.
Heute ist das sicher an manchen Punkten für taubstumme Menschen
einfacher, da es ja die Gebärdensprache gibt. Im Fernsehen in den
Nachrichten haben Sie sicher schon Gebärdendolmetscher gesehen,
die die Nachrichten in Gebärdensprache übersetzen. Andererseits:
wer von uns beherrscht sie schon? Und daran scheitert dann auch schon
wieder eine normale Verständigung. Und wenn Sie ehrlich sind: wann
sind Sie zuletzt einer Person begegnet, die taubstumm ist? Wirklich wahrnehmbar
kommen sie auch in unserem Alltag nicht vor. Und auch viele schwerhörige
Menschen bei uns ziehen sich zurück, weil es ihnen zu mühsam
ist, immer wieder neu um deutlichere Aussprache, um lauteres und langsameres
Sprechen bitten zu müssen.
Und so kommt der Taubstumme zu Jesus. Ich habe mich gefragt, ob er wohl
wusste, zu wem er da gebracht wurde. Gebärdensprache wird er nicht
gekannt haben, Lesen konnte er sicher auch nicht. Also: vermutlich ein
mutiger Schritt zu einem Unbekannten. Mutig schon deshalb, weil er ja
nicht wissen konnte, was sie mit ihm vor hatten. Er wird gefühlt
haben, dass sie es gut mit ihm meinten, denn sonst wäre er sicher
nicht mitgegangen.
Und dann kommt Jesu Berührung und das Wort: „Effata - öffne
dich“. Das hört er wohl noch nicht. Doch dann kann er hören
und reden.
Ich denke, er muss total überwältigt gewesen sein. Mit Jesu
Heilung ist er aus seiner Isolation befreit. Er kann am normalen Leben
teilnehmen, lachen, wenn die Anderen lachen, weinen, wenn die Anderen
weinen. Er gehört dazu. Er ist wieder einer von ihnen. Die Heilung
ermöglicht ihm Gemeinschaft und neues Leben.
Für den Taubstummen ist diese Begegnung mit Jesus der Beginn eines
normalen Lebens, der Beginn eines Lebens in der Gemeinschaft mit anderen
Menschen.
Versetzen Sie sich mit mir nun in die anderen, in die Gruppe der umstehenden
Leute.
Sie sind sicher gekommen, weil sie von Jesus schon einiges gehört
haben. Weil sie auch gehört haben, dass er Kranke nicht wegschickt.
Deshalb werden sie auch den Taubstummen zu ihm gebracht haben. Schon
damit haben sie ihn ein Stück weit in die Gemeinschaft wieder aufgenommen.
Martin Luther hat diese Haltung der Menschen, die den Taubstummen aus
seiner Isolation herausholen, mit den folgenden Worten beschrieben: „Das
Gute an dieser Historie ist nun dies, dass sie sich des armen Menschen
angenommen haben wie ihrer eigenen Not. Damit ist uns ihr Glaube und
ihre Liebe angezeigt. Ihre Liebe ist hier so gemalt, dass sie fremde
Sorge auf sich nimmt. Sie sehen nicht auf sich, sondern auf den armen
Menschen und denken, wie ihm Hilfe werden kann.“
Heilung des Taubstummen wird wohl keiner erwartet haben. Aber sie wollten
es wohl einfach probieren, die Situation dieses Menschen zu verändern.
Um so größer wird das Erstaunen gewesen sein. Und vermischt
damit vielleicht auch ein wenig Angst, denn was ist das für einer,
der sogar Taube zum Hören und Stumme zum Reden bringen kann? Was
sind das für Heilpraktiken, die er beherrscht?
Und so beginnen die Menschen über Jesus zu reden, nicht anders als
bei uns heute auch. Trotz des Verbotes, die Sache weiterzuerzählen,
wird Jesu Heilung des Taubstummen immer weiter erzählt. Dass die
Menschen nicht schweigen können, ist völlig klar, denn wer
kann schon schweigen, wenn es etwas sehr Ungewöhnliches erlebt hat?
Sie versuchen sich ein Bild zu machen. Sie versuchen herauszubekommen,
was er für einer ist. Ob er einer von den vielen Wunderheilern ist,
die es gibt und deren Methoden sich dann doch nur als Augenwischerei
herausstellen oder ob er wirklich etwas bewirken kann. Fremd erscheint
mir das Verhalten der Menschen absolut nicht. Wie oft erleben wir es
bis heute immer wieder, dass Menschen auf eine neue Wunderdiät,
auf eine neue Wunderheilung, auf ein neues Zaubermittel für Behandlung
vertrauen. Das endet dann häufig damit, dass sie viel Geld und vor
allem viel Vertrauen verlieren. Weil es dem Anbieter nur darum ging sich
selbst zu bereichern. Ihm war es nicht wichtig, dem Andern zu helfen.
Da ist es schon gut, wenn man versucht herauszubekommen, was an jemandem
dran ist.
Und die dritte Person in dieser Geschichte ist natürlich Jesus
selbst.
Er benimmt sich ganz in der Art und Weise der Wunderheiler. Er nimmt
den Kranken zur Seite, das heißt natürlich auch einmal: der
ist mir jetzt wichtig, der und kein Anderer. Auch das kennen wir: wenn
wir mit jemandem etwas wirklich Wichtiges besprechen wollen, dann versuchen
wir mit ihm oder ihr allein zu sein. Jesus legt dem Taubstummen dann
die Finger in die Ohren und den Speichel auf die Zunge. Mich erinnert
das ein wenig daran, dass ich bei meinen Kindern manchmal, wenn sie gefallen
waren, ein wenig von meiner Spucke genommen habe und es auf die betroffene
Stelle getan habe und schon waren die Schmerzen weg, frei nach dem Motto:
Mamas Spucke heilt alle Wunden.
Von Jesus würde ich mir da schon eine andere Handlungsweise wünschen.
Eine, die ihn eindeutig als Sohn Gottes identifizierbar macht. Eine,
die ihn deutlich herausnimmt aus der Menge der Wunderheiler seiner und
unserer Zeit. Denn mit dieser Heilungsmethode arbeitet Jesus wie viele
andere Heiler seiner Zeit auch, vielleicht als ein besonders guter.
Warum macht Jesus die Sache nicht eindeutiger?
Das wird eigentlich erst durch das Verbot zu reden deutlich. Denn dieses
sogenannte Schweigegebot macht deutlich, dass Jesus erst als der zu erkennen
ist, der er ist, nach Karfreitag und Ostern. Erst mit seinem Tod und
seiner Auferstehung wird er eindeutig aus der Schar der Wunderheiler
seiner Zeit herausgenommen und erkennbar als Sohn Gottes. Und auch seine
Wunder und Taten werden erst von daher ganz verständlich. Erst dann
ist deutlich, dass mit diesem Jesus Gott uns ganz nahe gekommen ist,
dass er mit uns geht durch unser Leben.
Und damit ist dann auch klar, warum diese Geschichte bis heute Bedeutung
für uns hat. Nicht, weil da irgendwann mal ein Taubstummer geheilt
wurde, sondern weil Jesus bis heute Menschen heilen möchte. Weil
Jesus bis heute Menschen aus ihrer Isolation herausholen möchte.
Nicht körperlich, das ist vorbei. Aber denen möchte er helfen,
die sich bei uns verschließen.
Sie alle kennen sicher Menschen, die allein sind und isoliert, weil sie
schlechte Erfahrungen gemacht haben, weil sie Angst haben vor der Fremdheit
der Anderen, weil sie das Gerede der Anderen nicht mehr ertragen. Am
Anfang ist da nur der Rückzug. Aber irgendwann ist die Isolation
so groß, dass sie sich allein nicht mehr helfen können, dass
sie alleine nicht mehr herauskommen.
Da braucht man dann Menschen wie in unserer Geschichte, die einen sehen,
dem es schlecht geht und ihn mitnehmen, ihn herausholen. Da sind wir
gefragt. Da können wir die sein, die jemanden sehen und wieder in
die Gemeinschaft hereinnehmen. Das kann ganz einfach sein, einfach mal
vorbeigehen und sich Zeit nehmen. Nicht nur Gespräche zwischen Tür
und Angel führen, sondern ganz allein, abseits, ohne Trubel, mit
viel Zeit. Das kann auch unser Gebet sein, ein intensives Gebet für
jemanden, der uns am Herzen liegt.
Vielleicht werden Sie mich jetzt auch fragen wollen, wo haben wir heute
so konkrete Hilfe, wo kommt Jesus uns heute noch so nahe? Wenn wir gleich
miteinander in diesem Gottesdienst das Abendmahl feiern, dann ist das
für mich bis heute eine Form, wo wir einander nahekommen. Aber wo
wir vor allem auch Gott ganz nahe kommen. Wo er für uns ganz nah
und erfahrbar wird. Und ich habe es oft erlebt, dass Menschen, die nach
außen hin sehr zu und ganz in sich gekehrt wirkten, plötzlich
sehr bewegt waren beim Abendmahl. Dass sie sich auftaten und Neues an
sich heranlassen konnten.
Amen
Liedvorschläge: 452 Er weckt mich alle Morgen
289 Nun lob, mein Seel, den Herren (Graduallied)
304 Lobet den Herren (Psalm des Sonntags)
321 Nun danket alle Gott
320 Nun lasst uns Gott dem Herren
Angelika Überrück
Pastorin
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