Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

11. Sonntag nach Trinitatis, 31. August 2003
Predigt über Psalm 143, 5, verfaßt von Christian-Erdmann Schott
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Predigt im Festgottesdienst am 31. August 2003 in der Katharinenkirche zu Arnsdorf bei Görlitz

Liebe Gemeinde!

Es ist mir eine große Freude, heute bei Ihnen hier ins Arnsdorf, nicht weit von der deutsch-polnisch geteilten Stadt Görlitz, die Predigt zu halten. Dabei überbringe ich die Grüße des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte. Dieser 1882 gegründete Verein hat in diesen Tagen in dieser Region seine Jahrestagung abgehalten. Sie schließt heute mit Gottesdiensten, die von Teilnehmern dieser Tagung in verschiedenen Gemeinden der schlesischen Oberlausitz gehalten und gestaltet werden.

Der Predigttext steht in Psalm 143 Vers 5: "Ich gedenke der vorigen Zeiten; ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände."

Wir gehen gern in die Kirchengemeinden, weil wir in ihnen den Sinn für Geschichte und Kirchengeschichte stärken wollen – aus mehreren Gründen:

I. Wir wissen: Durch das „Gedenken der vorigen Zeiten“ entsteht Heimatgefühl. Erzählte, erinnerte, wachgehaltene, zugänglich gemachte Geschichte zeigt uns, wo wir sind, wo wir herkommen, was es mit unserer Heimat auf sich hat. Zusammen mit der Landschaft, mit den Dörfern und Städten, mit dem Dialekt, mit den Kirchen und ihren Türmen, mit den Menschen stehen wir in einer langen Kette, in generationenübergreifenden Zusammenhängen. Durch das Gedenken und Erinnern werden uns diese Zusammenhänge bewusst gemacht. Wir spüren und erkennen, dass wir ein Teil dieser Geschichte sind.

Das gilt von der Region genauso wie von der Konfession. Die Kirchengeschichte kann uns die Heimat unseres Glaubens erschließen – zum Beispiel durch die Erinnerung an die Kirchenliederdichter, die hier gelebt haben. In diesem Jahr haben wir hier besonders gedacht an die Fürstin Eleonore von Reuß (1835-1903) und an ihren hundertsten Todestag. Von ihr stammt das bekannte Silvesterlied „Das Jahr geht still zu Ende“. Wenn man sich in das Leben der Eleonore Reuß vertieft, weiß man, dass sie sehr am Leben und auch an ihrer Heimat, nicht weit von hier in Jänkendorf bei Niesky, gehangen hat, ohne sie zu vergötzen oder überzubewerten. Das zeigt eine Strophe aus diesem Lied, in der dann auch von einer ganz anderen Heimat die Rede ist: "Dass nicht vergessen werde, was man so gern vergisst: dass diese arme Erde nicht unsre Heimat ist. Es hat der Herr uns allen, die wir auf ihn getauft, in Zions goldnen Hallen ein Heimatrecht erkauft“. (EG 63,3).

II. Das „Gedenken der vorigen Zeiten“ lässt uns auch in Abgründe sehen. Die Vergangenheit war in der Regel nicht besser als die Gegenwart. Die Greuel des 30jährigen Krieges, die Verbrechen der Nazis, die dunklen Seiten der DDR-Zeit hat es gegeben und wir wollen das alles nicht vergessen – wie wir auch nicht vergessen wollen, die tapferen Christen und Bekenner, die es auf der anderen Seite gegeben hat. Hier in der restschlesischen Kirche denken wir dann auch an Dietrich Bonhoeffer, Katharina Staritz, Edith Stein, den Kreisauer Kreis und viele viele treue Menschen, die in den Gemeinden ihre Frau und ihren Mann gestanden haben.

Geschichte ist ein Spiegel der Menschheit. Sie zeigt uns die Möglichkeiten, die in uns liegen und bei entsprechender Gelegenheit dann auch herauskommen. Aber sie zeigt uns zugleich sehr viel Bewahrung durch Gott oder Spuren Gottes mitten im alltäglichen Leben. Das finde ich ausgedrückt in den Worten des Psalms "ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände". Dietrich Bonhoeffer selbst weist uns den Weg in diese Richtung in seinem berühmten Lied, das den Schluss hat:
"Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag." (EG 65,7).

Ich gebe gern zu, dass nicht nur mir die Geschichte auch Angst macht. Manchmal fragt sich jeder Nachdenkliche, wo sollen die Umweltzerstörung, der Terrorismus, die viele Not auf der Erde eigentlich einmal hinführen? Eine Geschichtsbetrachtung ohne den Aufblick zu Gott wäre trostlos. Aber mit dem Glauben an Gott, den Herrn des Lebens und der Geschichte, können wir die Sichtbarkeit aushalten .....“Gott ist bei uns ....an jedem neuen Tag“. So kann das Gedenken dann auch den Glauben befördern.

III. Wir brauchen allerdings nicht nur das Erinnern und Gedenken. Wir brauchen genauso auch das Vergessen. Wir haben auch die Fähigkeit zu vergessen. Beide Fähigkeiten gehören zu unserer eigentlich ambivalenten Grundausstattung. Beide werden uns in der Bibel ausdrücklich nahegelegt.

Wir kennen Menschen, die nichts vergessen können oder wollen. Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen, Benachteiligungen tragen sie als ewige Vorwürfe an das Leben mit sich herum und machen sich und anderen das Leben zu einer sehr unerquicklichen Angelegenheit. Ihnen empfiehlt Jesus Christus „Seht nicht zurück! Belastet euch nicht mit der Vergangenheit!“ „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes „(Lk. 9,62). Ganz in diese Linie passt ein anderes, weniger bekanntes Jesus-Wort „Gedenket an Lots Weib“ ( Lk 17,32). Es spielt an auf die sehr alte Geschichte vom Untergang von Sodom und Gommorrha. Als Lot, der Auserwählte Gottes, Sodom verlassen musste, war ihm und seiner Frau von zwei Engeln im Auftrag Gottes gesagt worden: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich“ (1. Mose 19,17). Als nun das Gericht Gottes einsetzte und die Zeit der Flucht kam, konnte die Frau des Lot sich von der Vergangenheit nicht losreißen. Sie „sah hinter sich und ward zur Salzsäule“ (V. 26). Die Vergangenheit hielt sie fest. Auf diese Weise war sie nicht in der Lage, auf die Zukunft zuzugehen, sie anzunehmen und zu gewinnen. Das Sicht-Fest-Klammern an der Vergangenheit machte sie lebensunfähig.

Genauso starke Worte gibt es aber auch für das Gegenteil, für das Erinnern – etwa in Psalm 103 Vers 2 den schönen Satz: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Oder im 5. Buch Mose 8,2 a (so ähnlich wie unser Predigttext): „Gedenke alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat“.

Schon diese Gegenüberstellung zeigt, wann Vergessen und wann Erinnern angesagt ist: Vergessen ist notwendig, wenn uns die Erinnerung in der Vergangenheit festhält, uns zu nachtragenden, unversöhnlichen, verbitterten oder gar hasserfüllten Menschen macht, die sich in ihrem Aufrechnen festbeißen und damit die Chance verspielen, doch noch etwas Gutes aus ihrem Leben zu machen. Solche Erinnerung ist lebenzerstörend.

Umgekehrt ist Erinnern lebenfördernd, wenn es ins Staunen führt; ins Staunen über die Freundlichkeit Gottes in unserem Leben und in der Geschichte. Solches Staunen führt zur Dankbarkeit. Dankbarkeit formiert sich als Gottvertrauen. Und Vertrauen ist die Kraft, die wir brauchen, um die Zukunft verantwortlich und positiv zu gestalten. Diese Erinnerung, dieses Gedenken ist gemeint in dem Satz:
"Ich gedenke der vorigen Jahre; ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände“

Amen.

Pfarrer em. Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Braendstroem-Straße 21
55124 Mainz (Gonsenheim)
Tel: 06131/690488
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