Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

9. Sonntag nach Trinitatis, 17. August 2003
Predigt über Matthäus 25,14-30, verfaßt von Thomas Bautz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Die Chance, mit seinen Talenten umgehen zu lernen

Will gehört zu einer Clique junger Männer, die sich ihr Geld hart auf dem Bau verdienen. Nach der Arbeit entspannen sie sich in einer Pinte, genießen das Bier, Gespräche und sind gelegentlich auch für eine Rauferei zu haben. Besonders Will, er ist deswegen schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten und saß schon ein paar Mal in Untersuchungshaft. Der Richter hat ihn schärfstens ermahnt: Noch ein Vorfall und er muss einsitzen.

Will [Matt Damon] hat noch einen Job an einer berühmten Highschool, aber nicht etwa als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder als Bibliothekar. Nein, er ist dort als Reinigungskraft angestellt. Dabei hätte er ohne weiteres das Zeug zu wesentlich mehr. Er löst nämlich in aller Heimlichkeit und Anonymität die kompliziertesten mathematischen Probleme, die ein Mathematikprofessor auf dem Flur an eine Tafel schreibt: ellenlange Gleichungen und Formeln, von denen er sich durch seine Studenten (oder einem/einer unter ihnen) eine Lösung erhofft. Eine solche Intelligenzbestie würde er umgehend in besonderer Weise fördern und für einen Award, einen Preis, vorschlagen.
Und siehe da: am nächsten Tag steht die Lösung an der Tafel; der Prof beruft sofort eine Studentenvollversammlung im größten Lehrsaal ein. Er möchte, dass sich derjenige oder diejenige zu erkennen gibt. Aber er stößt auf beharrliches und zudem unschuldiges Schweigen. Niemand von den Anwesenden hat das mathematische Wunder vollbracht!

Erst später wird der Hochbegabte mit Hilfe der Verwaltung identifiziert: Will löst die abstrakten Aufgaben gleichsam en passant, indem er z.B. während seiner Putzarbeiten das Problem notiert und daheim löst, um am folgenden Tag bereits den Professor mit der Lösung zu beglücken. Der möchte ihn natürlich sofort unter seine Fittiche nehmen; aber da stellt sich ein Riesenproblem: Will ist wieder straffällig geworden und hatte nun beim Richter ausgespielt. Nur eine einzige, diesmal allerdings juristische Möglichkeit wird Will angeboten. Wenn er sich in ambulante psychiatrische, psychotherapeutische Behandlung begibt und aus dieser als gesellschaftsfähig entlassen würde, käme er um eine Haft herum. Aber welcher Psychiater soll den schwierigen jungen Mann behandeln? Will ist nämlich nicht einseitig begabt; er ist auch sehr belesen und versteht unter anderem auch einiges von Literatur und Geschichte, wenn auch nur theoretisch.

Will läßt einige Psychiater und Therapeuten völlig auflaufen, entlarvt sogar deren eigene Schwächen, bis er schließlich bei einem Freund des Matheprofessors landet. Die erste Begegnung verläuft ähnlich wie die mit anderen „Seelendoktoren“; es trifft den Psychiater [Robin Williams] hart: Will deckt seine Vergangenheit auf, indem er anhand eines von diesem gemalten Bildes nachweist, dass der Therapeut den Tod seiner Frau noch nicht verarbeitet hat. Die Behandlung scheint, gerade erst begonnen, ihr abruptes Ende zu finden.
Aber der Psychiater bekommt seine persönliche Krise in der darauffolgenden Nacht in den Griff und bleibt Will gegenüber hartnäckig. Im Laufe der nächsten Sitzungen entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, hauptsächlich durch gegenseitige Offenheit, aber auch durch klare Direktiven seitens des Therapeuten. Er versucht Will dabei zu helfen, zu seiner außergewöhnlichen mathematischen Begabung zu stehen und das beste daraus zu machen. Der befreundete Matheprofessor profitiert von diesen Veränderungen und verschafft Will einige Vorstellungstermine bei sehr guten, lukrativen beruflichen Verwen-dungen, aber Will’s Auftreten dort ist außerordentlich arrogant. Er verspielt seine Chancen; er weiß auch noch gar nicht, was er wirklich will.

Inzwischen versuchen auch seine Freunde, ihn zum Umdenken zu bewegen. Sein bester Kumpel aus der Clique sagt ihm eines Tages ins Gesicht: „Will, ich werde Dir die Visage polieren!“ – Will ist natürlich entsetzt; sein bester Freund ... – „Doch! Ich sage Dir auch, warum. Weißt Du, wir arbeiten hart; machen uns die Knochen kaputt auf dem Bau, und das ist in Ordnung so. Denn wir können nichts anderes; aber DU hast ‚sechs Richtige’ in der Tasche und machst nichts draus! Warum gibst Du Dir nicht ein wenig Mühe und ergreifst die Hilfe und die Chance, die man Dir anbietet? Mensch, wenn wir eine solche Begabung hätten ... – Ich warte seit langem darauf, dass Du morgens nicht mehr da bist, wenn ich Dich abholen komme. Dann würde ich nämlich sagen: Gut so, Will hat’s kapiert! Und ich wäre, wir wären alle verdammt stolz auf Dich.“
Parallel dazu geht es auch um seine brachliegende Emotionalität, die sich auch im Umgang mit Frauen offenbart. Auch dabei versucht ihm der Psychiater zu helfen. Will lernt während dieser Zeit an der Hochschule eine Studentin kennen, mit der er gut harmoniert, aber dann bekommt er es mit der Angst zu tun. Ihre Liebe geht ihm zu nah ...
Als sie ihm die Chance eines für sie günstigen Hochschulwechsels, allerdings in einen anderen Staat, unterbreitet und sich bei dieser Gelegenheit seiner Liebe vergewissern möchte, kneift er; es kommt zum Bruch. Er verleugnet seine Liebe zu ihr. Auch beruflich kommt er nach wie vor nicht weiter. Aber persönlich macht er Fortschritte; dank der Offenheit seines Therapeuten schafft er es, seine miserable Kindheit aufzuarbeiten und total verdrängte Gefühle – auch latente Selbstvorwürfe – rauszulassen. Am Ende eines therapeutischen Gespräches fällt er dem Psychiater schluchzend in die Arme; dieser nimmt sich seiner väterlich und freundschaftlich, nicht nur fachlich an.

Der Schluß ist ein Happyend, auch wenn manches für den Zuschauer offen bleibt: Will kündigt die Stelle, die er zu guter Letzt doch noch angenommen hatte; er reist seiner Studentin nach, um die Liebe und das Leben – wie es wirklich ist – kennenzulernen. Ob er auch noch studiert, ob er eine andere Stelle annehmen wird, das bleibt offen ... Er vergisst aber nicht, seinem Arzt und Freund einen Zettel zu hinterlassen: „Ich muss mich um meine Liebe kümmern.“ (So oder ähnlich heißt es). Auch der Psychiater hat sich verändert: Er tritt eine längere Reise an und will ebenfalls etwas Neues wagen.

Liebe Gemeinde, dieser Film „GOOD WILL HUNTING“ (USA 1997) lief kürzlich wieder im Fernsehen; vielleicht haben Sie ihn gesehen. Er ist wirklich empfehlenswert; eigentlich wie fast alle Filme mit Robin Williams. Wahrscheinlich kennen Sie auch den Film „CLUB DER TOTEN DICHTER“; darin spielt er einen Literaturprofessor, der mit außergewöhnlichen Methoden versucht, seinen Studenten selbständiges Denken zu vermitteln und sie ihre individuellen Gaben/Begabungen entdecken zu lassen. Einem jungen Mann wird z.B. offenbar, dass er ein enormes schauspielerisches Talent hat. Doch leider ist sein Vater strikt dagegen; sein Sohn soll einen „vernünftigen“ (angesehen) Beruf erlernen als Jurist oder Mediziner. Der Student begeht Suizid (Selbstmord), und der Professor wird von der Hochschule verwiesen. In der Schlußszene solidarisieren sich noch einmal alle seine Studenten mit ihm, indem jeder demonstrativ auf seinen Tisch steigt, - in Erinnerung an eine seiner extravaganten, aber stets sinnreichen Lehrmethoden (sie sollten damals ausprobieren, ob sich die Welt aus einer höheren Perspektive nicht doch noch anders wahrnehmen läßt).
Beide Filme erzählen von den Schwierigkeiten, sogar von der Tragik der Selbstfindung. Wie soll ein Mensch seine Gaben, seine Begabungen, seine Talente entdecken, wenn er nicht früh- oder rechtzeitig gefördert wird? Wenn die Lebensumstände im Elternhaus mehr als ungünstig ausfielen, wenn er oder sie niemanden hatte, um die entscheidenden Wege zu ebnen, Weichen zu stellen und den jungen Menschen zu ermutigen, eigene Wege zu entdecken? Wenn Eltern versuchen, sich in ihren Kindern zu verwirklichen? Vielen ist das gar nicht bewußt! Wenn eine Familientherapie auf Grund mangelnden Bewußtseins, die Probleme betreffend, überhaupt nicht im Blick ist oder eine solche wegen vermeint-lich besseren Wissens verweigert wird; etwa nach dem Motto: Psychiater und Psycho-logen sind doch selbst gestört. (Das ist noch milde ausgedrückt ...!)

Manche Talente liegen aber auch brach, weil die Betroffenen Minderwertigkeitskomplexe oder auch Versagensängste entwickelt haben. Andere leiden unter schrecklichen Depressi-onen. Oft kommen alle bisher erwähnten Faktoren zusammen. Dann wird es selbst für einen Facharzt schwierig, dem paradoxerweise mit oder gar unter seinen Talenten Leidenden wirklich zu helfen. Die Behandlung kann sich über Jahre erstrecken; eine Unterbrechung – kein Abbruch – ist manchmal hilfreich.

Liebe Gemeinde,
es geht hier keineswegs einseitig um hochbegabte Menschen; vielmehr sind wir alle ange-sprochen, denn jeder von uns hat Gaben und Fähigkeiten, die er für sich und für die Ge-meinschaft einbringen oder aber auch „vergraben“, verbergen kann.
Der Nazarener hatte offenbar ein besonderes Gespür dafür, in den Menschen, auf die er damals in Israel stieß, ihre Gaben und Begabungen anzusprechen. Er ermutigte, ermahnte und provozierte; aber in allem diente er den Menschen. Er selbst wird übrigens von einer Tiefenpsychologin [Hanna Wolff] als eine der gesündesten und stärksten Persönlichkeiten bezeichnet; sie hat sich intensiv mit der Gestalt des Jesus von Nazareth beschäftigt.

Wahrlich, von diesem Jesus, auch wenn er uns nur noch in den Erzählungen der Evangelien begegnet, ließe sich vieles lernen: Pädagogisches und Psychologisches. Ich halte das für wichtiger als irgendeine „Gotteslehre“. Jesus war kein Theologe!
Ein guter Pädagoge und Psychologe redet anschaulich; genau das vermochte der Nazarener: Er vermittelte Gleichnisse, Beispielerzählungen oder sprach in Bildworten. In der Theologie, Germanistik und Literaturwissenschaft hat sich ein eigener Forschungs-zweig darum gebildet.

Vergangenen Sonntag hörten Sie einiges über das Bildwort: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Heute vernahmen Sie ein Gleichnis, gleichzeitig auch Evangelium des Sonntags. Die Filmerzählung hat – freilich in einer ganz anderen Sprache – vieles aus diesem ‚Gleichnis von den Talenten’ bereits angesprochen. Falls Sie das nicht so empfinden, bitte ich Sie, sich daheim einmal den Film (als Videoausgabe) anzuschauen und dann auch das Gleichnis selbst noch einmal nachzulesen (Mt 25, 14-30). Ich bin mit Ihnen gespannt, was dabei herauskommt.
Wenden wir uns nun einem Aspekt des Gleichnisses zu, der vielleicht am meisten Kopf-zerbrechen bereitet: Warum vergräbt jemand sein Talent und macht später noch dem, der ihm nur Gutes will, noch Vorwürfe?
In einer Meditation zu diesem Gleichnis meint Eugen Drewermann, dass hier keineswegs einseitig die Faulheit oder Trägheit dessen angesprochen wird, der das eine Talent, was er erhalten hat, vergräbt und sich später mit fadenscheinigen Argumenten aus der Affäre ziehen will. Vielmehr ist er zum einen neidisch auf die anderen, die mehr bekommen haben (zehn und fünf Talente), und zum anderen ist er voller Angst, im Konkurrenzkampf unterzugehen und zu versagen. Deshalb entwickelt er sich zu einer Totalverweigerung und wählt den Weg der vermeintlichen Sicherheit, und die bestand damals im Vergraben des anvertrauten Gutes. Dass er sich damit völlig der Möglichkeit beraubt, etwas aus seinem Leben zu machen, dass ihn die Angst, der Neid und der immer stärker werdende Haß und die Wut auf die anderen, die sich am Ende sogar auf den Geber erstreckt, an einem von Gott gewollten, erfüllten Leben hindert, - das alles hat er nicht im Blick.
Das Gleichnis könnte uns die Augen öffnen für eine Lebensart, in der wir frei werden vom ständigen Vergleich mit den materiellen und ideellen oder geistigen Gaben der anderen. Wer es hören und sein Leben danach (um)gestalten kann, dem werden die eigenen Fähig-keiten zunehmend liebenswert und sinnvoll erscheinen. Wir dürfen und sollen unsere Be-gabungen einbringen und auf diese Weise zufrieden werden – mit uns und unseren Mitmenschen: in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, auch in der Gemeinde.

Aber – wie die Filmerzählung verdeutlicht hat – nicht jeder Mensch hat von Anfang an die notwendigen Voraussetzungen, seine Gaben überhaupt zu entdecken oder zu entwickeln. Davon haben wir gesprochen. Vielleicht dürfen wir einem oder sogar einigen Menschen dabei helfen, ihre brachliegenden oder ängstlich und verkrampft todgeschwiegenen Gaben ans Licht zu bringen. Denn niemand soll sein „Licht unter den Scheffel stellen“.
Warum sollte es Menschen, die großtuerisch auftreten, mit ihren Fähigkeiten prahlen und andere gern niederhalten, vorbehalten bleiben, mit ihren Begabungen und Leistungen zu glänzen? Interessanter- und gerechterweise sind diese normalerweise gar nicht so beliebt, wie es für sie selbst den Anschein hat.
Aber wie beglückend ist es doch, wenn wir einen Menschen dazu ermutigen konnten, sich mit seinen ganz individuellen Fähigkeiten einzubringen, wenn wir ihn dafür loben und wir durch die bei ihm freigesetzte Freude und wieder erwachte Lebensenergie beschenkt werden. Alles Wesentliche und wirklich Wichtige im Leben ist ein Geschenk. Im Grunde können wir einander immer wieder „nur“ beschenken. Wir haben – recht verstanden – nichts davon in die Welt gebracht, und wir werden auch nichts davon in die andere Dimension mitnehmen können. Aber das Beschenkt- und wohl auch Beschämtwerden durch die unendliche Güte und Großzügigkeit des Gebers wird nicht aufhören.

Deshalb ist es wichtig, in diesem Leben alles zu geben, alles einzusetzen, was uns anver-traut und geschenkt wurde bzw. noch geschenkt und anvertraut werden wird. Nicht nur unsere Begabungen, sondern auch Menschen, denen gegenüber wir eine naturgemäße und/oder rechtliche Verpflichtung haben: Eltern und Großeltern, Kinder und Enkel, Paten-kinder, Ehepartner und Lebensgefährten, Vorgesetzte und Mitarbeiter u.v.a.
Je mehr wir uns selbst werden annehmen können, desto phantasievoller wird sich unser Verantwortungsbereich automatisch – wie von selbst – erweitern. Wir beginnen, unsere Gaben auch im Rahmen moralischer Verpflichtungen oder im Sinne ethischer Überzeugungen einzusetzen: z.B. könnten wir uns im Bereich des Umweltschutzes engagieren, oder wir könnten einer Initiative, Hilfsorganisation oder Selbsthilfegruppe beitreten, um deren Arbeit zu fördern. Vielleicht bekommen wir einen Blick für Hilfs-bedürftige in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde.
Wer auf diese beschriebene Weise seine Gaben entdeckt, wird sie mit Freuden ausleben, sofern man ihn läßt – das muß leider stets dazugesagt werden; ansonsten würden wir die Realität ausblenden. Kinder z.B. sind normalerweise mit schier unbändigem Eifer, voller Entdeckerfreude, Neugier und Selbstvergessenheit bei der Sache, wenn sie spielen oder sich mit etwas beschäftigen, das sie interessiert und positiv vereinnahmt.
Insofern brauchen wir wieder ein kindliches Vertrauen, eine unschuldige Naivität, die uns dazu befreit, ganz natürlich all das auszuleben, was uns geschenkt ist und den Begabungen frei und mit Freuden zu entsprechen, die uns anvertraut, geliehen oder sogar geschenkt sind.
AMEN.

Thomas Bautz


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