Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

6. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2003
Predigt über Matthäus 28, 16-20, verfaßt von Ulrich Haag
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Ohne diese Worte unseres Predigttextes wären wir heute nicht hier. Nicht in diesem Haus, in dieser Stadt, versammelt unter diesem Kreuz, das an den Mann aus Galiläa erinnert. Der wußte sich erst nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt, überschritt dann die Grenzen seiner Religion und Volkszugehörigkeit und wandte sich den Menschen gleich welcher Herkunft zu. Und schließlich – wir haben es gehört – sandte er seine Jünger aus in alle Welt.

Die Jünger haben sich das zu Herzen genommen. Der Apostel Petrus, der den Mittelmeerraum bereiste. Der Apostel Jakobus, der bis nach Spanien gelangt sein soll, der Apostel Thomas gar bis nach Indien. Allen voran aber der Apostel Paulus, der seinen Missionsbefehl an anderer Stelle und auf andere Weise vernommen hatte. Seine Missionsreisen sind – stellvertretend für die aller - auf den Landkarten jeder gängigen Bibel säuberlich verzeichnet, gewaltige Distanzen für die damalige Zeit, weshalb sich die Christenheit bis heute dieser Männer der ersten Stunde erinnert, weltreisende Prediger, Gemeindegründer, Apostel eben, wörtlich: Ausgesandte.

Gehet hin in alle Welt – dieser Befehl Jesu war Triebfeder für Weltreisen und die Entdeckung neuer Kontinente, für das Interesse an fremden Kulturen und für manche Erfindung. Heute ist der Auftrag an ein vorläufiges Ziel gelangt. Jedes noch so entlegene Gebiet der Erde kann von einem Moment auf den anderen mit einer Nachricht erreicht werden. Und natürlich bedient sich auch die Verkündigung des Evangeliums dieser Kanäle. Ob durch Radio, Fernsehen oder neuerdings das Internet – ob in den Urwäldern Lateinamerikas, den Eiswüsten Grönlands oder den Steinwüsten des Himalaya - es gibt so gut wie keinen Menschen auf dem Globus, der nicht zu Lebzeiten irgendwann mit dem Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Christus in Berührung kommt. Der nicht mit irgendjemandem eine Begegnung hat, den die Botschaft Jesu persönlich angesprochen hat.

Gehet hin in alle Welt ... Was bedeuten diese Worte in einer Zeit tatsächlich weltumspannender Kommunikation noch? Wo vieles ans Ziel kommt, geht nicht selten der Ursprung verloren. Wo der Fluß mündet, ist das Wasser der Quelle unendlich verdünnt. Doch in diesen Worten stoßen wir auf die Quelle, die den breiten Strom eines allgemeinverbreiteten Glaubens erneuern und frisch halten kann. Dies gerade dort wo sich Widerstand in uns regt, Protest. Für mich war das lange der Vers vom Gewaltanspruch Jesu: Mir ist gegeben...

Ich erinnere mich an eine hitzige Diskussion, die ich während der Bibelkundevorprüfung mit einem Prüfer – auch einem Pfarrer - geführt habe, der diesen Vers unbedingt von mir hören wollte.

Wieso ist das wichtig, daß Jesus einen Gewaltanspruch stellt? Ich halte es für falsch, daß man diesen Vers bei der Taufe jedesmal zitiert. Deshalb habe ich ihn mir auch nicht gemerkt. Er führt die Taufeltern und die Gemeinde auf ein falsches Gleis. Nur wenige Kapitel vorher beschreibt das Matthäus-Evangelium Jesus in der Leidensgeschichte als einen gewaltlosen Erlöser. Das ist das entscheidende an ihm, daß er aller Gewalt zwischen Menschen eine Absage erteilt und vorgelebt hat, wie es auch anders geht: Die Sanftmütigen. Die Barmherzigen. Die ihre Feinde lieben...

Immerhin die Bergpredigt haben sie ordentlich gelernt, meinte der Prüfer. In der Theologie müssen sie noch nachlegen. Was sagen Sie den Menschen, die Opfer einer Gewalttat werden? Oder, um die Frage näher an Ihr Leben und meines heranzuholen, was sagen sie einem Mitstudenten, der hier ungerechtfertigt durch die Prüfung fällt, weil ich oder einer meiner Kollegen einen schlechten Tag hatte? Das ist zwar keine körperliche Gewalt, aber es ist eine Erfahrung, die weh tut und die einen ganz schön knicken kann, das wissen Sie besser als ich.

Warum lassen Sie es dann nicht? Bis heute weiß ich nicht, woher ich die Frechheit hatte, so zu fragen. Wenn Sie nicht mehr prüfen, haben sie auch kein Problem damit, daß sie in einem gewissen Sinne Gewalt ausüben. Dann brauchen Sie den Vers nicht mehr.

Sie verstehen noch nicht, was ich meine. Mir geht es nicht um die, die Gewalt oder besser Macht ausüben. Mir geht es um die, die etwas erleiden. Und nicht nur um die, die unter einem Unrecht leiden. Auch wenn einem das Schicksal übel mitspielt. Sie kennen doch das Wort niederschmetternd. Es zeigt, daß man einen Schicksalsschlag tatsächlich als etwas gewalttätiges erfahren kann, das in das Leben einbricht. Wenn sie Pfarrer sind, müssen sie den Menschen ihrer Gemeinde beistehen, wenn ihr Glaube nach solchen Einschlägen auf der Kippe steht.

Aber was hat das mit dem Vers von der Gewalt zu tun?

In der letzten Woche war ich bei einem Ehepaar, das sein erstes Kind erwartet. Bei der letzten Untersuchung hat sich herausgestellt, daß das Kind mit einer schweren Körperbehinderung zur Welt kommen wird. Ich kann gar nicht wiedergeben, wie verzweifelt die beiden da gesessen haben. Am schwierigsten wogen für mich die Fragen nach dem Sinn. Warum wir? Warum tut Gott uns so etwas an? Wenn er so blind in unser Leben schlägt, wozu sollen wir uns dann noch zu ihm halten? Oder ist er zu schwach, um so eine Katastrophe zu verhindern?

Ich habe sie an diesen Vers erinnert, der damals bei ihrer Taufe ausgesprochen worden ist: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Das bedeutet, daß Jesus für alles, was auf Erden geschieht, die Verantwortung übernimmt. Daß alles, auch das Furchtbare, auch das Unbegreifliche letztlich aus seiner Hand kommt.

Das sind Worte, sage ich. Sie müssen den beiden doch auch irgendwie helfen. Bei Ihrer Entscheidung, ob sie das Kind behalten wollen. Später, wenn sie es zur Welt bringen. Und danach, wenn sie es erziehen.

Helfen, sagt er, ist genauso wichtig wie Worte. Deshalb war ich froh, daß ich mit den beiden am Tag darauf zur evangelischen Schwangerschafts-Beratungsstelle gehen konnte. Und daß es in unserer Stadt einen integrativen Kindergarten gibt, der von engagierten evangelischen Christen betrieben wird. Und ein evangelisches Krankenhaus. Das sind nicht nur Einrichtungen, auf die man stolz sein kann. Sie sind für eine christliche Gemeinde lebensnotwendig. Es ist die ganz einfache Tat, die den Menschen den Glauben wiedergeben kann. Daß jemand des Nächstliegende tut. Die Erfahrung, da ist jemand, der springt mir bei. Aber Sie werden dazu ausgebildet, daß Sie den Menschen mit dem Wort Gottes helfen. Wenn nicht der Pfarrer, wer soll es sonst tun?

Und was machen Sie mit den Gemeindemitgliedern, die zu Ihren Worten nicht Ja und Amen sagen? Die wirklich daran verzweifeln, daß Gott so unmenschlich mit ihnen verfährt?

Das war bei den beiden, die ihr behindertes Kind erwarteten, nicht anders. Die konnten von dem, was ich gesagt habe erst nichts annehmen. Trotzdem habe ich den Vers noch einmal wiederholt und gesagt, daß er auch bei der Taufe ihres Kindes ausgesprochen wird, wenn sie es zur Welt bringen. Und den Abschlusssatz des Taufbefehls habe ich angefügt: Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende. Dieses Wort, dieses Versprechen ist für mich größer als alles, was Menschen widerfahren kann, größer als alles, was sie zum Verzweifeln bringen könnte. Weil der, der es gesagt hat über allem steht, was menschlich, besser gesagt, was irdisch ist. Weil er diese Welt tatsächlich in seiner Hand hält...

Ich weiß nicht, wie wir den Bogen zurück zur Prüfung geschlagen haben. Am Ende hat es für mich zu einer 3 gereicht, und das erzähle ich nur deshalb, weil die Zeugnisse vor der Tür stehen. Ich war damals mit der Note nicht zufrieden. Aber ein paar Wochen später war sie schon nicht mehr wichtig. Wichtig blieb die Spur, auf die mich das Gespräch gesetzt hat.

Und der Vers, den ich – wie jede Pfarrerin und jeder Pfarrer – bei jeder Taufe zitiere: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.

Mit dieser Verheißung sind wir nie fertig, selbst wenn wir zu ihrer Verbreitung über ein weltumspannendes Kommunikationsnetz verfügen. Daß es Gott ist, der die Welt und jedes einzelne Menschenleben in Händen hält – das steht täglich in Frage. Das Vertrauen darauf müssen wir uns manchmal mühsam erkämpfen. Wir sollen einander darin beistehen. Indem wir einander zuhören. Indem wir einander mit aufrichtigen Taten zur Hilfe kommen. Und in dem wir dort, wo es passt und wir den Mut haben, ein Wort der Zuversicht sagen. Daß sich darin unser Glaube bewährt, und daß – wo wir einander beistehen Gott selbst uns beisteht – dazu bewahre Er unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Pastor Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de

 


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