Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juli 2003
Predigt über Lukas 6, 36-43, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Ist Vergebung möglich? Kann die Erde uns vergeben, wenn wir unsere Naturgrundlage zerstören? Können Menschen in der dritten Welt uns vergeben? Können die Opfer in Tschetschenien dem Westen vergeben? Oder die des Irak? Können wir uns selbst vergeben?

Fragen wie diese dürfen nie aus unserem Bewußtsein verschwinden und aus unserer Diskussion, und sie dürfen nie verstummen. Aber wenn wir unter der Last dieser Fragen zusammenbrechen, werden sie zu einer Falle, die uns lähmt und uns weiter machen läßt nach dem mehr oder weniger verbreiteten Motto: "Es wird schon gehen". Deshalb müssen wir in einer anderen Weise von Vergebung reden.

Und es gehört Mut dazu, sich in dieses Feld zu begeben, denn hier wird die Rede von der Vergebung dringlich.

Vergebung ist einer der Grundpfeiler des Christentums. Dennoch oder gerade deshalb ist Vergebung als Begriff so schwer zu fassen und als Handlung so schwer zu vollziehen. Vieles ist Vergebung genannt worden, was es nicht war, und vieles, was Vergebung ist, kennt das Wort nicht - oder will von dem Wort nichts wissen.

Oft hat es als Vergebung gegolten, wenn man, statt einen Konflikt auszutragen, versucht hat, ihn zu lösen. Man kann zu viel oder zu früh vergeben.

Vergebung ist schwer genug. Wo es wirklich um Vergebung und nichts anderes geht, da ist es wichtig, daß man ein Gespür dafür hat, was Vergebung ist, und was nicht, um vergeben zu können.

Diese großen Rede, die Jesus für das Volk hält, ist fast eine Programmrede für das sehr alternative Bild von Gott, das er in sich trägt und hier seinen Landsleuten vorträgt. Hier stellt er die üblichen Bilder auf den Kopf.

"Auge um Auge, Zahn um Zahn", und Verurteilung der bösen Tat um der Gerechtigkeit willen und der Wiederaufrichtung des Friedens. So dachte man in der damaligen Zeit und der damaligen Gesellschaft. Begründet wurde das in den alttestamentlichen Familiengesetzen, aber das ist vielen Kulturen in der ganzen Welt gemeinsam. Das ist die Ordnung, wo der Stärkste sein Recht behauptet. Wo das Recht und das Eigentum des Starken mit Macht behauptet wird und wo die Hackordnung Aufruhr und Unruhe unterbindet. Diese ganze allzu bekannte Existenz, die sich heute kräftig wieder zurückmeldet, wo der Atem der Vergebung erlischt. Das ist wirklich eine andere Weltordnung, die Jesus einführt, wenn er den Gekränkten darum bittet, zu vergeben.

Vielleicht sollen wir uns einen Zusammenhang vorstellen, wo die Anhänger Jesu nicht richtig wußten, worüber er sprach, wenn er von Vergebung sprach. Für sie würde Vergebung das Gesetz und die Ordnung der Gesellschaft außer Kraft setzen, so daß die Gesellschaft zerfällt - wie wir das auf z.B. auf dem Balkan erlebt haben. Das, wovon die Politiker reden, wenn sie die großen Worte gebrauchen, liegt daran, daß wir - im Unterschied zu den Zuhörern Jesu sehr wohl wissen, was Vergebung ist. Oder es bis vor kurzem gewußt haben. Man muß es laut sich selber und einander sagen, um die Herausforderung bestehen zu können, die die Vergebung ist. In der Praxis wird Vergebung oft durch Verdrängung ersetzt, vielleicht gar durch Verleugnung. Wenn man versucht, sich selbst zu verändern und seinen Zorn zu dämpfen, statt sich zu ihm zu bekennen. Oder wo Vergebung dazu benutzt wird, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu verwischen.

Ich kenne eine Familie, wo die Frau so große Luxusansprüche hatte, daß der Mann Unterschlagung beging, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Das wurde entdeckt, er erhielt eine Gefängnisstrafe, und als er aus dem Gefängnis kam, weigerte sich die Frau, jemals von dem zu reden, was geschehen war - sie hatte ihm ja vergeben!

Der offenbarste Fehler ist der, daß man glaubt, die Vergebung beseitige die Schuld. Jemand hat sich vergangen und damit Schuld auf sich geladen. Vergebung ist dann folglich die Beseitigung von Schuld, heißt diese Logik. Aber das ist nicht Vergebung!

Vergebung ist vielmehr, der vollen Wahrheit in die Augen zu sehen: die ganze Schuld, meine eigene, deine, die der Welt und auch die Schuld Gottes dazu - und dann imstande zu sein, diese Wahrheit zu ertragen, weil Gott sich in diese Welt eingemischt hat.

Die Vergebung befreit uns davon, die Schuld zu unterdrücken. Wir werden dazu befreit, schuldig zu sein. Und diese Freiheit entstammt dem Grundmuster des Lebens, von dem geschrieben wurde, als Jesus sich selbst dafür einsetzte, das Grundmuster zu ändern von dem Gesetz der Hackordnung in das der Gnade. Eine Ordnung, wo Liebe wichtiger ist als Gerechtigkeit.

Mit großen Worten sagen wir, daß wir Bürger in einer Welt der Vergebung sind. Daß wir frei gemacht worden sind, schuldig zu sein, heißt Verantwortung zu übernehmen und den anderen verantwortlich zu machen. Das heißt, es geht hier um nichts weniger als die Menschenwürde. Nur mit dem, der verantwortlich gemacht wird, kann man rechnen. Nur der, der keine Fähigkeiten hat oder gelähmt ist, ist ohne Schuld - aus ganz verschiedenen Gründen.

Den Weg der Vergebung zum andern zu gehen, der sich an mir schuldig gemacht hat, bedeutet, an dem festzuhalten, auf den ich zornig bin. Zu dem zu stehen, was zwischen uns ist. Vergebung heißt nicht, daß ich meinem Zorn entsage, bevor der Zorn seine Zeit gehabt hat. Vergebung heißt, daß ich mich in Gemeinschaft begebe mit dem, dem ich vergebe. Eben der ihm bzw. die, auf den bzw. die ich zornig bin, gehört in meine Welt. Die Vergangenheit ist nicht vergessen, was geschehen ist, ist geschehen und Teil meiner und deiner Geschichte geworden. Aber wir können uns beide auf einen Weg begeben, wo das, was zwischen uns steht, so ist, als wäre es vergessen.

Das bedeutet, daß eine Brücke geschlagen wird über den Abgrund von bestehender Schuld. "Ich weiß, daß du schuldig bist, und du weißt es, dennoch gehören wir zusammen in der Form des Lebens, wo man für einander da ist und einander braucht" (Bent Falk). Deshalb heißt Vergebung auch nicht, die Vergangenheit zu vergessen. Vergeben heißt, das Geschehene das bedeuten zu lassen, was es bedeutet, aber es nicht die Zukunft bestimmen zu lassen.

Warum dann vergeben, wenn da viel ist, über das man zornig sein muß? Ja darum, daß nicht nur der andere, sondern auch ich Mensch bleiben kann. Weil Vergebung heißt, das weiterzugeben, was du empfangen hast.

Und wenn du nicht an dem festhalten kannst, der dir Unrecht getan hat, kannst du auch nicht spüren, wie Gott an dir festhält. Nicht du schaffst den Raum der Vergebung, den schuf er, der diese Worte gesprochen hat. Aber die Vergebung deiner Schuld wird in dem Augenblick aktiviert, wo du ihm vergibst, der sich an dir und den deinen schuldig gemacht hat. Gott ist am Werk, wenn wir vergeben. Die Liebe, die Leben will über Recht und Gerechtigkeit hinaus.

Wenn wir von Vergebung reden, reden wir oft über Wiederaufrichtung. Und meinen oder hoffen vielleicht - unbewußt - daß Wiederaufrichtung bedeutet, daß das Verhältnis ist wie vorher. Was es nicht sein kann - wo ein ernsthaftes Vergehen passiert ist. Der Schuldige fühlt sich ausgeschlossen, aus der Bahn geworfen, gelähmt, im Zweifel über die Orientierung seines Lebens, isoliert. Und träumt von einer Heimkehr.

Aber es gibt kein Land, keine Heimat oder einen Gott, zu dem man heimkehren könnte. Das Verlorene ist tot, Rückkehr unmöglich. Vergebung aber heißt, daß neues Leben entsteht, an einer anderen Stelle, in einer fremden Welt. Vergebung ist nicht Heimkehr, sondern Ruf der Freiheit. Die bist wieder auf der Bahn, du bist da, wo du sein sollst - wenn vielleicht auch in einem fremden Land. Du sollst etwas, was wichtiger ist als deine Schuld.

Kann ein Blinder einen Blinden führen, fragt Jesus, um es ganz deutlich zu machen. Ja, kraft des Reiches der Vergebung, da kann ein Blinder einen Blinden führen! Ja, seit Jesus die Welt verändert hat, gibt es eine Gestalt, die der Blinde Wegweiser heißt.

Der, der Vergebung empfängt, hört einen Ruf, der macht, daß er sich in den unbekannten Gefilden bewegen kann - auch wenn er blind ist. Gott gegenüber sind wir alle blind, und keiner ist im fremden land und unbekannten Gefilden gewesen.

Aber diese unbekannten Gefilde zu durchwandern und zu wissen, daß wir dort sein sollen, zeigt, daß wir gerufen sind. Ein Ruf, der dazu genügt, uns am Leben zu erhalten und den Weg zu weisen. Amen.

Pfarrer Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk


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