Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

3. Sonntag nach Trinitatis, 6. Juli 2003
Predigt über Lukas 15, 1-10, verfaßt von Hanne Sander (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Wer kann sich noch erinnern, wie es in der Tanzschule war, wenn man einer der letzten war, die zum Tanz aufgefordert wurden, oder noch schlimmer, wenn der Lehrer fast einem anderen drängen mußte, einen zum Tanz aufzufordern. Oder in der Sportstunde, wenn man Mannschaften bilden mußte, und man immer flehte: Nehmt mich doch, nehmt mich doch, und dann war man vielleicht der letzte, der nicht einmal gewählt, sondern einfach verteilt wurde. Ich hätte vielleicht fragen sollen: Wer kann sich an so etwas nicht erinnern? Und genau so erinnert ihr euch vermutlich auch daran, wie selig man war, wenn man als erster gewählt wurde, wie erleichtert man sein konnte, und wie man sich vielleicht ein wenig aufblähte und auf die herabsah, die noch immer dastanden und trippelten. Wenn wir uns das in Erinnerung rufen können - und ich vermute, die meisten können das - dann sagt das etwas darüber, wie wichtig es für ein Menschenkind ist, sich gefunden und erwählt zu fühlen. Und davon handelt der heutige Evangelientext, denn auch. Jesus war nach der Meinung der führenden Juden nicht sehr gut, sich seinen Umgangskreis auszuwählen. Er wählte in ihren Augen die falschen Leute und saß mit ihnen zu Tische. Sie fingen an, sich darüber zu beschweren, erzählt Lukas. Jesus aß ja auch zusammen mit den führenden Juden, für ihn ging es also nicht darum, daß er die eine Gruppe der anderen vorzog. Aber es ist, als meinten die Juden, ihnen würde etwas genommen oder daß es auch für sie peinlich ist, wenn Jesus Sünder annimmt und mit ihnen ißt.

In der jüdischen Gesellschaft war es wichtig, daß man seinen Platz kannte, sowohl im Gottesdienst als auch bei festlichen Gelegenheiten. Wehe dem, der sich weiter vorwagte als sein Ansehen ihn berechtigte. Das wurde ihm nie vergeben. Und wehe dem, der zu niedrig eingeordnet wurde, er mußte sich übergangen fühlen, sein Leben verfluchen und seine Umgebung hassen. So wird von der jüdischen Gesellschaft berichtet, wo die Position, die man einnahm, eine geradezu schicksalhafte Bedeutung hatte - aber ganz fremd ist uns das wohl auch heute nicht .

In dieser Situation aber erzählt Jesus nun zwei kleine Gleichnisse vom Schaf und der Münze, die verschwunden waren und wiedergefunden wurden und heimgetragen wurden als etwas ganz Besonderes und Auserwähltes. Und wieder erhalten die Freude und das Fest ihren großen Platz: Eine Freude darüber, daß die Gemeinschaft nun wieder ganz ist, eine Freude darüber, daß die, die zusammengehören, zusammen sind. Das war ja von Anfang an der Wille Gottes, wo Gott seine Freude an dem hatte, was er geschaffen hatte und Menschen gerne teilhaben lassen wollte an seiner Freude über die Welt, die er liebte.

Leider hat sich bei Lukas eine moralisierende Pointe eingeschlichen, die nicht ins Bild paßt. Das Bild sagt nichts darüber, daß sich das Schaf und die Münze bekehren. Das Schaf könnte ja zur Not zur Herde zurückfinden, aber die Münze kann nun wirklich nicht in den Geldbeutel zurückfinden. Und da steht tatsächlich, daß es dem Schafsbesitzer und einer Frau um alles in der Welt darum ging, das Vermißte zu finden, sie geben keine Ruhe, bis sie das Schaf und die Münze, die verschwunden waren, wiedergefunden haben.

Das, worum es Jesus geht, ist denn auch vielmehr dies: Es gibt Dinge in deinem Leben, die du nicht selbst erlangen kannst, wie sehr du dich auch anstrengst: Gefunden werden, an einem Ort zu Hause zu sein, geliebt zu sein und geschätzt, daß dich jemand vermißt und sich um dich bemüht. Es gibt grundlegende Dinge im Dasein, die uns umschließen und die uns gegeben werden ohne Bedingungen und Vorbehalte.

Diese Verständnis finde ich bestätigt beim Evangelisten Matthäus, denn er schließt sein Gleichnis von dem verlorenen Schaf mit Jesusworten, die sagen: So ist es mit dem Willen eures himmlischen Vaters, daß nicht ein einziges dieser Kleinen verloren gehen soll. Von daher müssen wir glauben, daß es einen Sinn für jeden von uns gibt, daß wir von einer Wirklichkeit aufrechterhalten werden, die hinter allen Unterschieden steht. Diese Wirklichkeit übersehen wir oft, weil wir uns auf die Unterschiede konzentrieren, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Entweder falle ich selbst durch und meine, daß die anderen besser und tüchtiger sind als ich selbst, oder die anderen fallen durch, weil ich finde, daß ich besser bin und klüger als sie.

Warum konnte ich mich als Kind ein wenig darüber aufblähen, daß ich vor anderen für die Mannschaft gewählt wurde? Warum konnte ich als Kind darum betteln: Nehmt mich, nehmt mich, nur um nicht als letzter übrig zu bleiben? Warum ist es so schwer zu sehen, daß die Gemeinschaft zwischen Menschen das Entscheidendste ist? Warum wird das Wichtigste immer wieder durch etwas erstickt, was weniger wichtig ist? Warum finden wir, daß es so notwendig ist, einander zu beobachten und auf uns und unser Ansehen zu achten, statt uns von der gemeinsamen Freude ergreifen zu lassen? Warum ist es so schwer zu sehen, daß hinter allen Unterschieden, die sichtbar sind: die sozialen, religiösen, ethnischen auch ein Mensch wie man selbst ist? Ein Mensch, der gerne gefunden werden will, der spüren will, daß er gesehen wird und erwählt ist.

Das ist schwer, aber wir können uns jedenfalls darin üben, uns selbst und andere so zu sehen, wie Gott uns sieht: Als die, die er gerne bei sich haben will. Amen.

Pfarrer Hanne Sander
Prins Valdemarsvej 62
DK-2820 Gentofte
Tel.: 39 65 52 72
e-mail: sa@km.dk


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