Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juni 2003
Predigt über Lukas 14, 16-23, verfaßt von Paul Kluge
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Liebe Geschwister,

Lukas saß im Garten seines Gastgebers im Schatten eines Orangenbaumes. Neben ihm stand ein Krug frischen Wassers aus dem immer plätschernden Brunnen - ein Geräusch, das ihn heute störte. Denn sein Kopf war ihm schwer, und er hielt ihn mit beiden Händen. Von den anderen Gästen war noch niemand zu sehen - oder nicht mehr. Lukas wußte es nicht, und nach der Sonne zu blicken, traute er sich nicht. So saß er und dachte über den vergangenen Abend nach.

Er war zu seinem Auftraggeber Theophilus gereist, um noch einige Modalitäten zu bespre-chen. Schließlich wollte Theophilus nicht nur „den sicheren Grund der Lehre erfahren, in der er unterrichtet wurde,“ er hatte auch bestimmte Vorstellungen vom Aussehen des Werkes, das er in Auftrag gegeben hatte: Repräsentativ sollte es sein und Besuchern ins Auge springen, damit sie nach dem Inhalt fragten. Lukas fand das eine interessante Idee, obwohl es ihm mehr um den Inhalt als um die Verpackung ging. Doch wenn Theophilus das so wollte und dafür bezahlte - nun gut.

Einen langen Tag redeten und verhandelten Lukas und Theophilus miteinander, und Lukas bekam sogar den erhofften Vorschuß bar auf die Hand. Schließlich waren seine Recherchen auch mit Reisen verbunden; die waren teuer, und Lukas reiste gern. Zum Abend hatte Theophilus, wie er sagte, zu Ehren des Lukas „die Gemeinde“ eingeladen.

Daß Lukas mit schwerem Kopf im Schatten eines Orangenbaumes saß, lag nicht nur am vorletzten Becher Wein. Es waren andere Dinge, die ihm Kopfschmerzen verursachten. Das waren auch die Gäste, die der Einladung des Theophilus gefolgt waren: In der Stadt angesehene Bürgerinnen und Bürger allesamt, gebildet und gut betucht. Lukas war sich in seinem schlichten Gewand richtig schäbig vorgekommen, besonders, nachdem Theophilus in seiner Begrüßungsrede eine Bemerkung über „unkonventionelle Wissenschaftler und Forscher“ gemacht hatte. Andererseits hatte es ihm geschmeichelt, daß Theophilus ihn als zuverlässigen, akribisch arbeitenden Rechercheur bezeichnete. Doch bald war ihm klar geworden, daß sein Gastgeber nicht ihm, sondern sich selber die Ehre gab. „Ich gebe nicht wenig Geld dafür aus, daß auch ihr erfahren könnt, was es mit Jesus auf sich hat und mit der Lehre, der wir so gerne folgen,“ hatte Theophilus gesagt und sich im Applaus seiner Gäste gesonnt.

Die Erinnerung daran machte Lukas wütend. Dann erinnerte er sich, daß eine junge, zerlumpte Mutter mit zwei kleinen Kindern in die Feier geplatzt war und um Essen gebettelt hatte. Theophilus hatte nur nach seinem Hund gepfiffen, und unter dem Gelächter der Gäste waren die drei geflohen. Lukas beschloß, möglichst bald abzureisen. „Ich sollte den Auftrag zurückgeben,“ dachte er, „ich verschwende hier meine Zeit und meine Kraft. Solche Leute sind das Evangelium nicht wert!“

„Was murmelst du da?“ hörte er eine fremde Stimme hinter sich. Sie gehörte einem jungen, verwachsenen Mann, den er noch nicht gesehen hatte. Er sei, lallte der junge Mann mehr als daß er sprach, ein Sohn des Theophilus, und eigentlich sollten Gäste ihn nicht sehen. Sein Vater schäme sich seiner wegen der Behinderung. Doch er sei getauft und ein glühender Verehrer Jesu. „Gott hat nicht nur die Gesunden und Starken lieb,“ stellte der junge Mann fest. Lukas stimmte ihm von Herzen zu und dachte: „Solche Leute brauchen das Evangelium. Damit sie aus ihrem Schattendasein herauskommen, aus ihren Verstecken und Gefängnissen.“ Er bat den jungen Mann, sich zu ihm zu setzen, was der nach einigem Zögern dann wagte.

„Gehst du oft in die Gemeinde?“ wollte Lukas wissen, und die Antwort überraschte ihn nicht: „Ich darf nicht.“ Nach einigem Schweigen fuhr der junge Mann fort: Die Mitglieder der Gemeinde seien zwar alle froh und dankbar, Christen zu sein; sie hätten den christlichen Glauben als Einladung zur Befreiung erlebt, als Befreiung von Gesetz und Sünde, wie der Apostel Paulus geschrieben habe. Doch sie hätten darüber vergessen, die Einladung weiterzugeben. „Es gibt so viele Menschen, die auf Befreiung warten,“ klagte der junge Mann, „die einen sind in Armut und Hunger gefangen, andere in ihren Behinderungen, noch andere in dem, was sie Sachzwänge nennen. Sie alle sind zur Freiheit berufen, zu der Christus alle Menschen befreit hat. Ist eine Gemeinde eine christliche Gemeinde, wenn sie Hungernde verjagt, wenn sie die in der Gosse Liegenden nicht aufhebt und die Ausgestoßenen nicht in ihre Gemeinschaft holt?“

Der junge Mann hatte sich so ereifert, daß Speichel aus seinem Mund lief; er machte eine Pause. Lukas wühlte in seinem Gewand nach Schreibzeug - er hatte es immer bei sich - und machte sich einige Notizen. Dieser junge Mann mit seiner Behinderung hatte wohl mehr vom Evangelium begriffen als sein hoch angesehener Vater. Lukas kam ins Grübeln: Wie konnte es passieren, daß zum Glauben gekommene Menschen sich nur als Eingeladene, nicht aber als Einladende verstanden? Lukas dachte an einen Satz, den er selber in sein Evangelium geschrieben hatte: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Was aber, wenn die Genesenen sich weiterhin für krank hielten, ihre Gesundung nicht annahmen, ihre Krankheitsbilder weiterhin pflegten und aufrecht erhielten; wenn Erlöste sich selbst weiterhin als Sünder ansahen? Dann wäre es nur folgerichtig, sich als Eingeladene, als Gerufene zu verstehen, und nicht als Einladende, als Rufende. Doch damit würde anderen Menschen der Zugang zur Gemeinde, ja, sogar der Zugang zum Glauben an den einen Gott und die Erlösung durch Christus verwehrt. Das aber durfte nicht sein, weil Gott der Gott aller Menschen ist und seine Liebe besonders denen gilt, die in der Gesellschaft wenig oder gar nichts gelten.

Lukas nahm sich vor, das, was er bisher geschrieben hatte, noch einmal entsprechend zu überarbeiten und deutlichere Akzente zu setzen. Die Gemeinden und ihre Christen sollten begreifen, daß Selbstgenügsamkeit einem Verrat an Gottes Liebe zu allen Menschen zumindest nahe kam, daß sie als Gottes Boten auch zu denen außerhalb der Mauern ihrer Wohn- und Versammlungshäuser, ihrer Städte gesandt waren. Dann begann Lukas, eifrig zu schreiben.

„Mein Vater wird bald von der Stadtratsversammlung zurückkommen,“ lallte der junge Mann, „ich muß wieder ins Haus.“ - „Nein, bleib!“ befahl Lukas, „ich habe deinem Vater einiges zu sagen. Kannst du lesen?“ Der junge Mann wurde rot und gestand, er habe es sich heimlich beigebracht, auch das Schreiben, doch das fiele ihm mit seinen ungelenken Händen sehr schwer. „Hier, nimm und lies,“ gab Lukas ihm das Geschriebene in die Hand. Der Junge Mann las, vor sich hinsprechend:

„Als Jesus einmal von einem Pharisäer zum Abendessen eingeladen war, erzählte er ein Gleichnis: Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles bereit! Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muß hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft, und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen. Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, daß mein Haus voll werde.“

„Na, wie findest du das?“ fragte Lukas dann, „Was wird dein Vater dazu sagen?“ - „Der wird erst einmal toben. Doch er hat auch viel Vertrauen zu Dir, und darum wird er - vielleicht und hoffentlich - darüber nachdenken. Er ist ja auch ein Gefangener seiner bürgerlichen Welt und sieht nicht, daß es noch andere Welten gibt. Er bezahlt sogar aus eigener Tasche eine Suppenküche für die Armen. Aber wohl eher, damit sie seine Kreise nicht stören. Wie die Frau mit ihren Kindern gestern abend. Ich kenne sie und hab ihr Essen gebracht, auch etwas Geld, das ich noch hatte. Hab mich lange mit ihr unterhalten und ihr von unserem Glauben erzählt. Nun möchte sie sich gern taufen lassen. Ich bin gespannt, ob unsere Gemeinde sie aufnimmt.“

Theophilus betrat den Hof, und sein Gesicht wurde zornig. „Lieber Theophilus,“ kam Lukas ihm zuvor, „ich wußte noch gar nicht, daß du einen so klugen und gläubigen Sohn hast! Er hat mir sehr geholfen, mit meiner Arbeit ein gutes Stück voranzukommen. Komm, setz dich zu uns!“

Theophilus konnte nicht anders, als dem Wunsch seines Gastes nachzukommen, und als er merkte, wie unbefangen sein Sohn und Lukas miteinander sprachen, wich ganz allmählich auch seine Befangenheit ein wenig, die er in Gegenwart seines Sohnes oft empfand.

Nach einiger Zeit - der Tag war seiner Höhe nah - suchten sie die Kühle des Hauses. Lukas ließ seine Geschichte scheinbar achtlos liegen, doch als der junge Mann sie ihm geben wollte, blinzelte Lukas ihm zu, und der junge Mann verstand. Amen

Gebet: Guter Gott, viele sind geladen, doch nur wenige kommen. Dabei kann doch unser Leben ein fröhliches Fest sein, weil du alle Müden und Beladenen ermuntert und entlastet hast, alles Bedrückende von uns genommen und uns frei gemacht hast, uns unseres Lebens in deiner Schöpfung zu freuen. Eigentlich ist es nicht recht zu verstehen, daß nicht mehr Menschen deiner Einladung folgen.

Guter Gott, ob es an uns liegt, daß so wenige deiner Einladung folgen? Spürt man bei uns zu wenig Dankbarkeit für die Erlösung aus dem Elend, zu wenig Freude über deine Güte und Gnade, zu wenig Freiheit von den Zwängen der Welt? Oder sind wir einfach nicht einladend genug, zu wenig freundlich und offen für andere, daß sie sich bei uns nicht wohl fühlen? Gott, soweit an uns liegt: Laß uns auf andere, auch auf die ganz anderen, zugehen und sie zu dir einladen, und laß es uns so machen, daß sie gern kommen. Laß uns mit Phantasie nach Wegen und Worten suchen, gerade jene zu erreichen, die bei uns nicht vorkommen und die wir nicht vermissen. Doch mache uns auch stark, Ablehnung und Zurückweisung zu ertragen. Amen.

Mögliche Gesänge:

Kommt her, ihr seid geladen, EG 213; Wie lieblich schön, EG 282; Unser Leben sei ein Fest, EG RWL 571; Herr, gib mir Mut zum Brücken bauen, EG RWL 669.

Paul Kluge
Diakonie-Provinzialpfarrer i.R.
Paul.Kluge@t-online.de




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