Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2003
Predigt über Lukas 16, 19-31, verfaßt von Ulrich Nembach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Abendgottesdienst in der Kirche von Erbsen, ein kleines Dorf bei Göttingen

Die Wende von blind und taub ohne Technik zum Sehen und Hören.

Liebe Gemeinde,

I.

die Geschichte des Predigttextes kennen wir. Wir haben sie schon gehört oder auch selbst gelesen. Zwei Männer leben nebeneinander. Der eine ist reich. Er lebt herrlich. Der andere ist arm. Es geht ihm schlecht. Er ist obendrein noch schwer krank. Der Reiche sieht den kranken Armen nicht, d.h. er sieht ihn mit den Augen, aber über-sieht ihn mit dem Gehirn. Er weigert sich zu sehen, was er sieht. Das meint, jemanden zu über-sehen.

Auch das anschließende Gespräch zwischen Abraham und dem Reichen kennen wir. Der Reiche ist nun der Arme. Die Umstände haben alles verändert. Der Tod verwandelte die Situation. Das Alte ist vergangen. Der Reiche möchte eine Verbesserung der neuen Situation, wenigsten eine geringe Verbesserung seiner Situation. Als das abgelehnt wird, bittet er um eine Verbesserung für seine Brüder. Auch das kennen wir: Dass Zeiten sich ändern.

Neben Lukas erzählen auch andere Autoren von solchen oder ähnlichen Begebenheiten. Forscher machten sich die Mühe und suchten nach solchen Geschichten. Sie wurden fündig. In den USA erzählt eine solche Geschichte Mark Twain, der Autor von Tom Sawyer. Mark Twain schreibt in seiner Erzählung „Prinz und Bettelmann“ vom Tausch der Rollen der Beiden und wie es ihnen danach ergeht. Schon vor Tausenden von Jahren wurden solche Geschichten erzählt im alten Ägypten.

Und auch wir kennen solche Geschichten. Da lebt der Direktor einer großen Bank herrlich und in Freuden. Er verdient gut. Der Bank geht es nicht gut. Darum entlässt der Direktor Mitarbeiter. Er selbst lässt sich sein Gehalt, sein hohes Gehalt, erhöhen.

Da gibt es Firmen, die bilden nicht aus. Ausbildung ist ihnen zu teuer. Und – auch das muss gesagt werden – da sind Mädel und Jungen, die wollen keinen Ausbildungsplatz. Die angebotenen Berufe gefallen ihnen nicht. Sie müssten zu früh aufstehen. Die Arbeit ist zu schwer. Die Bezahlung ist ihnen nicht hoch genug.

Ja, unser Predigttext erzählt uns eine bekannte Geschichte. Das Problem ist darum nicht die Geschichte, sondern die Frage: Warum ist das so? Warum verhalten sich Menschen ungerecht, unsozial ihren Mitmenschen gegenüber? Ist das eine Virusepidemie? Wurde noch immer kein Mittel dagegen gefunden?

II.

Ich denke, das Verhalten ist nicht die Folge einer Epidemie. Wieder möchte ich zwei Beispiele erzählen.

Ich lag neulich im Krankenhaus. Da kam ich ins Gespräch mit jungen Krankenschwestern und Krankenpflegern. Sie waren in der Ausbildung. Ich sagte zu ihnen ganz direkt: „Sie haben sich einen schweren Beruf ausgesucht, und bezahlt wird er auch nicht gut.“

Ja, sagten sie. Sie wussten das alles sowieso viel besser als ich. Warum wählten sie dann diesen Beruf? Sie hatten das Abitur. Sie hätten später mehr verdienen können. Sie waren anderer Meinung. Die Bezahlung war für sie nicht entscheidend. Sie wollten etwas Vernünftiges tun. Die Arbeit sollte sich für sie lohnen. Arbeit, schwere Arbeit ist für sie nicht Malochen, sondern bietet die Möglichkeit, für andere da zu sein, anderen zu helfen.

Das zweite Beispiel: Das kennen Sie wahrscheinlich, denn davon wird immer wieder im Fernsehen berichtet. Junge Frauen und Männer sind in Afghanistan als Soldaten im Einsatz. Das ist nicht ungefährlich. Auch davon berichtete das Fernsehen. Die Frauen und Männer wissen um die Gefahr, eine ständige Gefahr, denn die Gefahr ist immer da. Sie ist morgens da, mittags, abends, ja, selbst nachts während des Schlafens. Dennoch gehen diese Frauen und Männer dorthin. Warum tun sie das? Sie sehen, dass die Afghanen Hilfe brauchen. Allein können sie sich nicht helfen. Sie sind dazu so wenig in der Lage wie wir, wenn wir ins Krankenhaus müssen. Oder unsere Großväter und Großmütter brauchten Hilfe. Am Abend des 17. Juni konnten sich die Deutschen im Osten allein nicht helfen. Zuvor konnten wir, alle Deutschen, allein nicht Hitler los werden. Wegen dieser notwendigen Hilfe fliegen heute Menschen nach Afghanistan. Sie erzählen davon. Wir sehen im Fernsehen, wie sie mit Kindern und Erwachsen sprechen. Die Leute, alle – auch die Deutschen – machen glückliche Gesichter.

Ihnen allen, den jungen Krankenpflegern und den Soldaten, ist eins gemeinsam. Sie helfen. Sie haben gelernt, die anderen zu sehen.

III.

Wie lernen wir, so zu sehen? Der Text, unser Predigttext, hat auch darauf eine Antwort. Er sagt: Hinhören. Von Mose bis zum Neuen Testament wird geredet und geredet, hinzusehen. Jesus sah hin und half. Ein großer Aufwand, spektakuläre Aktionen sind nicht nötig. Der Reiche will ein Event. Der tote Lazarus soll seine Brüder warnen. Unnötig, zwecklos, sagt Abraham. Wer nicht hört, der hört nicht. Ein Direktor entlässt Leute und erhöht sich selbst das Gehalt! Jeder denkt, das kann doch nicht wahr sein. Es ist aber wahr. Auch davon berichtet das Fernsehen. Als die Aktionäre seiner Bank Krach schlagen, ficht den Direktor selbst das nicht an.

So wenig der reiche Mann den armen, kranken Lazarus vor seiner eigenen Haustür sah, so wenig hört dieser Direktor auf seine eigenen Aktionäre. Andererseits hören die Krankenpfleger und die Soldaten gut. An der Evolution kann der Hörschaden nicht liegen. Auch haben wir es hier nicht mit einem Umweltschaden zu tun. Der Schaden existiert schon lange. Es gab den Schaden auch zu einer Zeit, als die Umwelt noch in Ordnung war.

Die Therapie, die Hilfe besteht in der Freiheit. Menschen müssen frei werden, um sehen bzw. hören zu können. Darum geht es in unserem Predigttext. Er redet von der Freiheit, nur davon. Der Text gebraucht dabei nicht das Wort „Freiheit“. Die Krankenpfleger sagen auch nicht zu ihren Patienten: „Ich will dir helfen“, und die Soldaten sagen nicht zu den Afghanen: „Wir wollen euch helfen“. Die Soldaten sprechen in der Regel nicht einmal Afghanisch.

Freiheit heißt, neue Wege gehen zu können. Die Wege sind sehr unterschiedlich. Der eine Weg führt ins Krankenhaus, ein anderer nach Afghanistan. Die Wege sind verschieden weitreichend.

Lassen Sie mich Ihnen noch eine Geschichte erzählen. Der Predigttext erzählt zwei Geschichten und im Laufe der Zeit kamen mehr dazu, bis hin zu Mark Twain. Meine fünfte Geschichte ist aktuell, obwohl sie in einem Monat 27 Jahre alt wird. Sie ist aktuell in diesen Tagen. Der 17. Juni 1953 jährt sich zum 50. Mal. „Am Anfang der Herbstrevolution 1989 stand der Pfarrer Brüsewitz. Mit seiner öffentlichen Selbstverbrennung am 18. August 1976 ...“, so kann man im Internet lesen. Recht haben die Autoren. Der 17. Juni 1953 war gescheitert. Russen und DDR-Führung waren oben, herrschten, ließen ihre Gewalt die Menschen, besonders die Kirchen und die Jugend fühlen. Pastor Brüsewitz protestierte immer wieder. Dabei ging es ihm besonders um die Jugend. Sie wurde vom Staat in dessen Richtung gezwungen. Schließlich wurde Brüsewitz den DDR-Oberen seines Kreises – er war Pfarrer in einem kleinen Dorf – zuviel, und sie verlangten von der Kirchenleitung seine Versetzung. Die Kirche gehorchte. Brüsewitz sollte gehen. Die schlimmen Verhältnisse sollten bleiben. Da tat er etwas Ungewöhnliches. Auch seine Familie wusste nichts davon. Er fuhr in die nahe Kreisstadt, entrollte Transparente mit Protesten zugunsten der Jugend, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Passanten erstickten die Flammen mit einer Decke. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und starb wenig später. Die SED versuchte, seine Frau und seine älteste Tochter, die damals auch noch jung war, zu zwingen, ihren Mann bzw. ihren Vater für verrückt zu erklären. Der rang zu diesem Zeitpunkt mit dem Tode. Frau und Kinder durften nicht zu ihm, sondern wurden bearbeitet, ihn für verrückt zu erklären.

Was hat Brüsewitz getan? Er traf die DDR tödlich. Die vorhin von mir vorgelesene Feststellung stimmt. 1976 = damals war der Vietnam-Krieg gerade seit einem Jahr zu Ende. Die Amerikaner hatten in einem jahrelangen, blutigen Krieg in Vietnam verloren und mussten abziehen. Gegen die Amerikaner protestierten damals u.a. buddhistische Mönche, indem sie sich mit Benzin übergossen und selbst anzündeten. Die Russen und die DDR standen auf Seiten der Buddhisten. Nun protestiert so, auf diese Weise, jemand gegen sie und tut dies auf dem Boden der DDR! Die Medien verbreiteten die Nachricht blitzschnell weltweit. Da die Familie ihren Mann, ihren Vater nicht für verrückt erklärte = auch die Kirche tat das nicht =, musste die DDR nachgeben. Die Kirche wurde fortan nicht mehr so hart verfolgt wie bisher. Mit der Jugend ging man etwas vorsichtiger um. 1953 gelang es nicht, die DDR-Führung los zu werden. Die 1953 bestätigte, weil neu errungene Macht konnte nach 1976 dann nicht mehr voll ausgeübt werden.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Sie passt zum Jahrestag: 50 Jahre seit dem 17. Juni 1953. Hauptsächlich erzähle ich diese Geschichte noch aus einem anderen Grund. Brüsewitz sah hin. Er über-sah nicht, er über-sah auch nicht, als andere ihn zwingen wollten, zu über-sehen. Ja, wir können selbst über-sehen wollen wie der reiche Mann in unserem Predigttext, und wir können gezwungen werden zu über-sehen.

Wer sieht und nicht über-sieht, muss gute Augen und einen entsprechenden Willen zum Sehen haben. Wer im Wald unterwegs ist, wer im Hochgebirge wandert, muss schauen, wo er hin tritt. Dazu brauchen wir Freiheit. Wir müssen frei von uns und anderen sein.

Jugendgruppen sangen früher und nicht wenige singen noch heute etwa am Lagerfeuer: „ Aus grauer Städte Mauern zieh’n wir durch Wald und Feld, ...“

Aufbruch, die Freiheit zu diesem Aufbruch ist angesagt.

Übrigens gilt das nicht nur für junge Leute. Auch Alte, Kranke können sehen und – das sei hinzugefügt: hören. Die Brille dafür kann man nicht beim Optiker, das Hörgerät nicht beim Akustiker kaufen. Aber heute Abend biete ich Ihnen Brille und Hörgerät an – zum Nulltarif.

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach
ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de


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