Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2003
Predigt über Lukas 16, 19-31, verfaßt von Eberhard Busch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Es ist eine anstößige Geschichte, die uns da von Lukas überliefert wird: so anstößig, dass es einen wundern kann, wie sie jemals in die Bibel geraten konnte und in ihr dann auch stehen gelassen blieb. Hingegen kann es einen nicht wundern, wenn man sie in der Christenheit oft schnell übersehen hat, so wie der Reiche den Lazarus in dieser Geschichte. Ich habe noch von keiner Evangelisationsversammlung gehört, in der ernstlich das laut geworden wäre, was diese Geschichte sagt. Aber auch in der modernen kritischen Wissenschaft der Theologie hat man diese Geschichte aus dem Neuen Testament auszuklammern versucht, weil sie Ausdruck einer unterchristlichen Fantasie sei. Und in wieviel Predigten auf den Kanzeln aller Konfessionen wird das unterschlagen, was diese Geschichte so überdeutlich sagt.

Aber was ist denn so anstößig an ihr? Ist es dies, dass es allzu schlicht tönt, wie hier diese zwei gegenübergestellt werden? – ein Reicher, der es einfach alle Tage sorglos schön hat, und ein Armer, dem es einfach alle Tage miserabel schlecht geht? Und klingt es nicht erst recht primitiv, wie dann nach dem Tod der beiden Himmel und Hölle ausgemalt werden: der Himmel als ein behagliches Ausruhen in Abrahams Schoß und die Hölle als ein Schmoren in heißer Flamme? Und ist es nicht allzu kindlich gedacht, wenn es heißt: Nach dem Tod drehe sich das irdische Los kurz um. Für den Lebensgenießer werde es dann sehr verdrießlich, für den Pechvogel dafür hübsch vergnüglich? Kann es nicht abstoßen, dass hier so grob mit dem dicken Pinsel gemalt wird? Unser Erzähler versteht anscheinend nur, schwarz-weiß zu malen, und mutet einem Dinge zu, die man als moderner Mensch nun einmal nicht mehr für wahr halten kann.

Aber seien wir ehrlich: Ist es wirklich das, was uns diese Geschichte anstößig macht? Wir wissen doch sehr genau, dass sie ein Bild, ein Gleichnis ist. Nun gut, das Bild ist überdeutlich gezeichnet, gemalt mit den Farben einer vergangenen Weltanschauung, aber gemalt, um uns etwas Bestimmtes zu sagen. Auf das müssen wir achten, und das können wir auch ganz gut verstehen. Tun wir das, dann zeigt sich: In dieser Geschichte steckt etwas anderes, das uns noch anstößiger sein mag. Nämlich dies, dass Gott hier so parteiisch dargestellt wird – dass er nicht bloß ein bißchen, sondern so hundertprozentig Partei ergreift, hier für den armen Lazarus und dort gegen den namenlos Reichen. Das irritiert. Wir haben uns daran gewöhnt, in der Kirche vom lieben Gott zu hören. Ja, wir haben schon recht gehört, Gott ist der liebe Gott, er ist barmherzig und gnädig. Aber - seine Barmherzigkeit und Gnade ist nicht das Langweilige, das wir gern aus ihr machen, nicht das Harmlose, das niemand unter die Haut geht. Gottes Gnade heißt nicht, dass er alles und jedes, unsere Gegensätze von reich und arm, von ungerecht und benachteiligt, von satt und hungrig mit einer rosa Brille ansieht und dann auf sich beruhen lässt. Gottes Gnade heißt nicht, obwohl es in unserem Gesangbuch missverstehbar steht: “Sprich deinen milden Segen zu allen unseren Wegen" – zu allen unseren Wegen? Das könnte uns so gefallen, das kann aber Gott nicht gefallen. Gottes Gnade heißt vielmehr: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Gottes Gnade heißt, dass Jesus unter uns tritt und sagt: “Ich bin gekommen, dass die Menschen das Leben und volle Genüge haben" (Joh. 10,11). Und so heißt Gnade Gottes: dass er Partei ergreift immer für die Hilfsbedürftigen, für die Unbeholfenen, für die Hilflosen – und Partei entschieden gegen die, die ohne den Beistand Gottes Leben und volle Genüge haben zu können glauben. Einen anderen Gott gibt es nicht als den, der so parteiisch gnädig ist. Wir wollten einen anderen Gott, wenn wir Gott anders haben wollten. Und es wäre am Ende so, dass wir gar keinen Gott haben wollten. Es wäre praktisch Atheismus, schlimmer als alle direkte Leugnung Gottes, wenn wir einen neutralen Gott haben wollten. Aber dass Gott so parteiisch ist, das ist eben anstößig.

Es gibt in unserer Geschichte etwas, das uns noch anstößiger werden kann – nicht nur dies, dass Gott parteiisch ist, sondern dass er gerade so parteiisch ist, wie wir es da hören. Daran können wir uns reiben, dass er gerade diesen Maßstab hat, nach dem er für den einen und gegen den anderen ist. Denn der Maßstab, nach dem hier der eine hochgehoben wird und der andere in die Tiefe fällt, ist schlicht der, ob man arm oder reich ist. Keine Rede davon, dass der Lazarus fromm, bekehrt, erweckt, gläubig war. Es heißt nur: er war arm und kam darum in den Himmel. Und auch keine Rede davon, dass der Reiche besonders böse, ungläubig, unbekehrt, sündig war. Vielleicht war er ebenso gut, wie wir es von uns selbst meinen. Es heißt nur: er war reich und kam darum in die Hölle.

Wem können diese Sätze gefallen? Denn sie widersprechen der gemütlichen Unterscheidung, die noch immer in unseren Köpfen spukt: die zwischen einem seelischen und einem leiblichen Bereich. Diese Unterscheidung haben wir immer gern für christlich gehalten. Anhand von ihr haben wir gemeint: der Glaube sei etwas nur für die Köpfe der Menschen, aber er höre am Geldbeutel auf – Gottes Liebe sei etwas fürs Herz, aber sie gehe nicht auch durch den Magen derer, die uns ans Herz gelegt sind – man könne eine größere oder auch kleinere Geldgier haben, wenn man nur innerlich recht stehe; und es sei genug, den Menschen seelischen Trost zu bringen, auch wenn man sie weiter in ihrem Elend lässt.

Die Bibel schert sich aber nicht um diese saubere und in Wahrheit lebensfeindliche Unterscheidung. Sie sagt nach dem Monatsspruch dieses Monat Juni: “Wer dem Geringsten Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer; aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott” (Spr. 14,31). Und noch einmal: Christus ist gekommen, damit die Menschen das Leben haben, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich, und volle Genüge, und also nicht nur genug, um glaubensvolle Herzen zu haben, sondern auch genug, um für alle volle Teller zu haben. Christus ist gekommen, das heißt ja: Gottes Liebe ist für Gott selbst keine bloß innerliche Sache. Gottes Liebe ist in Christus auch ganz äußerlich, ganz leiblich, ganz spürbar und sichtbar geworden. Christus ist das Ende und die Aufhebung unserer ganzen unseligen Scheidung zwischen Seelischem und Leiblichem. Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen, und damit stößt unsere Geschichte mit ihrer Spitze direkt bei uns an: Sie fordert uns auf, uns mit einer der genannten Personen zu vergleichen. Stehen wir auf der Seite des Lazarus oder auf der des reichen Mannes? Nun, wer wird sich schon reich nennen? Von den Reichen gilt der Spruch: “Je mehr er hat, je mehr er will, nie stehen seine Sorgen still.” Allerdings, je mehr er hat, desto unerbittlicher krampft sich seine Hand um das, was er hat, so dass niemand dran rühren darf. Sagen wir einfach: Reiche sind solche, die geben könnten, aber nicht geben wollen! Und - wer von uns kennt wirklich Vertreter jenes Millionenheeres von Habenichtsen, die am heutigen Tag hungern und verhungern? - Frauen, Männer, Kinder. Sie tauchen in den Medien fast nie auf und, wenn doch, dann, um schnell wieder daraus zu verschwinden; und was man nicht auf dem Bildschirm sieht, das existiert für uns nicht. Aber könnten wir sie nicht doch sehen? Denn man hat unterdes die Vorzüge von Arbeit in Billiglohn-Ländern sich nutzbar gemacht und hat dafür Massenarbeitslosigkeit an unseren Straßen. Aber merkwürdig, je näher Lazarus uns vor Augen rückt, desto mehr rückt er uns von der Tagesordnung. Sagen wir einfach: Arme sind solche, deren Armut wir sehen müssten, aber von der wegsehen.

Helmut Gollwitzer schrieb vor gut 30 Jahren ein Buch unter dem Titel: “Wir reichen Christen und der arme Lazarus.” Einen solchen Titel können wir ja nicht hören, ohne tief zu erschrecken. Denn wenn das so ist, dann haben nicht sie, die Armen in der Ferne, in der Nähe, dann haben wir, die Christen, Grund zur Erschütterung. Von einem drohenden Höllenfeuer ist da die Rede. Meinen wir nur ja nicht, das sei weit entfernt, ausgedacht zum Bangemachen vor einem Jenseits, das es gar nicht gibt! Wenn die armen Menschen, die armen Länder ihre Katastrophe nicht überleben sollten, dann wehe uns, den jetzt Überlebenden! Unser Überleben wird dann bereits eine Hölle sein – darum eine Hölle, weil wir dann unter dem Fluch des “unstet und flüchtig” leben werden wie Kain, nachdem er seinen Bruder Abel umbrachte (Gen. 4,12) – eine Hölle, weil wir dann leben müssen ohne Lazarus, ohne unseren schwarzen und gelben, braunen und hellhäutigen Mitmenschen und leben ohne - Gott, der sich gerade mit diesen unseren Mitmenschen verbündet hat.

Aber jetzt stehen wir vor dem Wichtigsten, das zu sagen ist: Die Geschichte vom reichen Mann und vom armen Lazarus ist uns nicht erzählt, um uns zu sagen: der Arme werde schon noch im Jenseits Trost finden. Gewiss ist das wahr, dass jedenfalls Gott sich all der zahllosen Verkümmernden hilfreich annehmen wird. Aber der Sinn unserer Geschichte ist nicht, die Armen vom Diesseits abzulenken durch die Vertröstung auf ein besseres Jenseits. Sie redet vom Jenseits, um die Menschen in ein besseres Diesseits zu stellen. Und darum ist diese Geschichte auch nicht darum erzählt, um uns, den reichen Christen, Strafe und Verdammung zu prophezeien. Sondern darum ist sie uns gesagt, um uns auf eine Rettung aufmerksam zu machen: auf die einzige, die uns vor dem drohenden Chaos bewahren kann. Jawohl, es gibt für uns alle eine Rettung. Und unsere Geschichte lädt uns dazu ein, sie zu erkennen und zu ergreifen.

Achten wir genau auf ihr Pointe: In der Liebe Gottes zum ganz und gar bedürftigen Lazarus wird uns gezeigt, dass kein Nachteil auf Seiten des Menschen ihn von ihr trennen muss und trennen kann. Und in dem Ernst gegenüber dem satten-nimmersatten Reichen wird uns gezeigt, dass kein Vorteil auf Seiten des Menschen seinen Anspruch auf Gottes Liebe begründen darf und kann. Und das ist nicht so, weil etwa Gott willkürlich verfährt. Das ist so, weil Gott so unbedingt gnädig und barmherzig ist. Darum können wir reichen Christen, wenn wir nicht ganz von Gott geschieden sein wollen, uns nicht anders zu Gott bekennen, als indem wir in Verbundenheit mit Lazarus leben. Lazarus ist nicht unser Heiland. Aber der Heiland ist nicht ohne ihn und so ist er nicht ohne den Heiland, sondern der ist mit ihm und bei ihm. Und der ist es so bestimmt, daß wir nicht an Christus teilhaben können, ohne sie mitzuhaben: die Armen, die Hungernden, die Verkümmernden. Er ist ihr Bruder geworden – darum kann er nicht auch unser Bruder sein, ohne dass wir sie sehen und bejahen als unsere Schwestern und Brüdern.

Wie könnten wir sie dann übersehen und vergessen oder denn als den Abfallkorb für unseren Überfluss behandeln: die Frau irgendwo in dem notdürftigen Elendsquartier, der Bettler, der vor allem um Arbeit bettelt und keine kriegt, die Lepra kranke Alte, der auf eine Mine getretene Knabe, der nie ein Erwachsener werden wird, das Cholera kranke Mädchen, der ebenso überbeschäftigte und unterbezahlte Arbeiter ... Ich nehme den Mund nicht zu voll, wenn ich sogar sage: In all diesen Menschen tritt uns unser Heiland entgegen. So hat er es ja selbst gesagt: “Was ihr einem von diesen meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan." Tritt uns in seiner Verbundenheit mit diesen Geringsten die Wahrheit seiner Gnade und Barmherzigkeit entgegen, so treibt uns das wie selbstverständlich zur Dankbarkeit. Und diese Dankbarkeit gegen ihn statten wir so ab, dass wir uns wie selbstverständlich an die Seite dieser Geringsten stellen. Und dann wird uns das jeweils Beste in den Sinn kommen, das dort zu tun und zu sagen und zu denken ist. Aller Glaube an Gott ist wertlos, der Gott in irgendeinem privaten, beschaulichen, stillen Kämmerlein oder Herzenswinkel für sich allein haben will, statt ihm zu dienen unter den innerlich und äußerlich Armen, Hungernden, Benachteiligten.

Wir haben vorhin gehört, unsere Geschichte sei anstößig. Das Wort Anstoß hat in unserem Sprachgebrauch einen doppelten Sinn – den von “Ärgernis erregen", aber auch den von “in Bewegung setzen". Wir haben das Gleichnis Jesu verstanden, wenn wir gemerkt haben, es will uns zuletzt im zweiten Sinn des Wortes Anstoß geben. Es will uns im Grunde nicht ärgern. Es will uns in Bewegung versetzen. Wohin? Der Reformator Huldrych Zwingli hat in der Zürcher Disputation von 1523, durch die sich die Reformation in Zürich durchsetzte, das als die Aufgabe der Leitung einer staatlichen Gemeinschaft erklärt: Es sollten “alle ihre Gesetze dem göttlichen Willen gleichförmig sein, nämlich so, dass sie die Bedrückten beschirmen, auch wenn sie nicht klagten.” Und wenn eine Regierung das schuldig bleibt? Dann – so sagte es Johannes Calvin, der Genfer Reformator, - dann muss eine christliche Gemeinde da sein, die sich danach richtet: “Wir können nicht Christus lieben, ohne ihn in unseren Geschwistern zu lieben.”

Prof. Dr. Eberhard Busch, Göttingen
ebusch@gwdg.de


(zurück zum Seitenanfang)