Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Jubilate (3. Sonntag nach Ostern), 11. Mai 2003
Predigt über Johannes 15, 1-8, verfaßt von Asta Gyldenkærne (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Mitten in der Welt steht ein Baum. Ein Baum mit Wurzeln, die weit in die Erde reichen, und mit Zweigen, die sich zum Himmel hinstrecken. Ein Baum, der Himmel und Erde verbindet. Es gibt viele Erzählungen von diesem Baum. Man hört von ihm im Alten Testament, wo wir ihn aus dem Garten des Paradies kennen, dann in der Offenbarung des Johannes als Baum des Lebens, der am Fluß des Lebens steht. Wir kennen ihn aber auch aus der nordischen Mythologie als "Ask Ygdrasil", ja er ist auch in vielen anderen sowohl nahöstlichen als auch indianischen Religionen bekannt, wo der Baum das ist, was Himmel und Erde verbindet.

Der Baum kann auch ein Bild für die Geschichte der Familie sein. Der Baum mit seiner weitverzweigten Krone kann ganze Generationen mit zahlreichen Gliedern enthalten und ihre Verbundenheit miteinander demonstrieren, wobei jeder einzelne nur ein kleiner Teil eines größeren Zusammenhanges ist, ein kleiner Teil der großen Familie.

Ein Baum kann also ein Bild sein, das etwas von der Geschichte erzählt, von der Zeit, aber zugleich zeigt er auch, wie die Zeit in der Ewigkeit verankert ist.

"Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben", sagt Jesus zu seinen Jüngern, und er sagt dies hier zwischen Ostern und Pfingsten, wo es ihm wichtig ist, ihnen zu sagen, wie tief er und die Jünger verbunden sind, auch wenn er sie bald verlassen wird.

Das Bild vom Weinstock als Jesus und den Jüngern als den Reben enthält außerordentlich viel. Es liegt etwas unglaublich Schönes und Frohes in diesem Bild. Aber in den Worten Jesu liegt auch eine Schärfe: "Ohne mich könnt ihr nichts tun". Eine Schärfe, die in unseren Ohren merkwürdig klingen mag. Denn hier glaubten wir gerade, Jesus sei der, der von sich selbst wegweist und uns statt dessen an unseren Mitmenschen verweist als den Menschen, dem wir helfen sollen. Ist nicht gerade das Leben mit unserem Nächsten das wichtigste Anliegen des Christentums? Warum dann solche harten Worte?

Wir leben in einer Kultur, in der das Christentum viele Spuren hinterlassen hat und wo vieles von dem, was Jesus gesagt und getan hat, nun sein eigenes Leben führt. Ohne ihn, möchte man meinen.

Denn es handelt sich um eine Kultur, wo mitmenschliche Fürsorge eine Sache ist, der sich die Wohlfahrtsgesellschaft annimmt. Hoffen wir wenigstens. Wo der Not des Nächsten durch die öffentlichen Steuern abgeholfen wird. Denken wir. Wo die Würde eines Menschen Bestandteil unserer grundlegenden juristischen rechte ist. Meinen wir wohl.

Ja, wir haben gehört, was das war, was Jesus gesagt hat. Wir haben es voll verstanden. Seht nur, wie praktisch und weise wir uns eingerichtet haben.

Aber ist es nun auch sicher, daß wir das auch verstanden haben? Man kann sehr wohl ins Zweifeln geraten, denn es ist als hätten wir vergessen, wo wir unserer Nahrung herholen sollen. Wir glauben, die Zweige könnten ihr eigenes Leben leben und Frucht bringen, auch wenn sie vom Baum getrennt sind.

Aber indem wir die Bande zum christlichen Glauben gelöst haben, indem wir die Worte Jesu nur hören als einen schwachen Nachklang in dem was wir tun, und in dem Leben, das wir leben, verlieren wir rasch die Perspektive. Der Raum wird so unendlich eng um uns. Wir verlieren die Demut gegenüber dem, womit wir es zu tun haben. Wir werden eine selbstgenügsame, selbstgerechte und sentimentale Kultur. Wir vergessen, daß die Liebe etwas ist, das von außen kommt und nicht etwas ist, das wir aus unserem eigenen Gefühlsleben entnehmen können. Wir werden beeindruckt von dem, was wir erreichen, und scheitern an dem, was uns nicht gelingt - denn was ist man dann wert? Nicht sehr viel, ist die gnadenlose Antwort, wenn wir nicht irgendwo gemeinsam die Erinnerung daran bewahren, daß wir das Gesicht Jesu in dem Gesicht jedes Menschen sehen sollen.

Was wir im Lebens eines Menschen für wahr halten, muß deshalb seinen Ursprung in etwas kennen, was göttlich ist, damit es in uns Frucht bringen kann. Sonst wird es zu klein, zu rechthaberisch oder zu unbarmherzig.

Denn von diesem Baum, dem Weinstock, der auch der Baum des Kreuzes ist, in den wir durch die Taufe eingepfropft sind, erhalten wir Nahrung. Dort sollen wir Hoffnung, Trost und Lebensmut finden, indem wir seine Erzählung vom Leben, dem Tod und der Auferstehung Jesu hören und dies zu einem Teil unserer eigenen Lebensgeschichte machen. Von diesem Baum sollen wir den Mut und den Willen holen, unserem Mitmenschen zu helfen. Das ist der Baum, der uns frei macht, indem er uns an sich bindet. Amen.

Pfarrer Asta Gyldenkærne
Skovkirkevej 21
DK-3630 Jægerspris
Tel: ++ 45 - 47 53 00 33
E-mail: agy@km.dk

 


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