Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern), 27. April 2003
Predigt über Johannes 20, 19-29, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Gottesdienst mit Abendmahl zum Semesteranfang im Sommersemester 2003
an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn

Begrüßung: In der ersten Reihe

Liebe Gemeinde, zum ersten Gottesdienst der evangelischen Gemeinde an der Bonner Universität im Sommersemester 2003 begrüße ich Sie herzlich. Der Titel unserer Predigtreihe zitiert nicht nur den bekannten Werbespruch zweier Medienanstalten, vielmehr weist er darauf hin, dass die Predigttexte in diesem Semester zur ersten Perikopenreihe gehören. Die Perikopenordnung spielt in den thematisch geordneten Predigtreihen in diesem akademischen Gottesdienst sonst nur eine untergeordnete Rolle. Die erste Reihe aber, die altkirchlichen Evangelien, Bibeltexte also, die seit vielen hundert Jahren an diesen bestimmten Sonntagen gelesen werden, hat ein eigenes, ganz besonderes Gewicht. Deshalb ist es angemessen, die Textordnung der evangelischen Kirche in Deutschland in diesem Semester zu übernehmen, zumal dieses Jahr als Jahr der Bibel ausgerufen wurde – und über Geschichten nachzudenken, die unser Leben prägend durchziehen: Christus - der Weinstock, der Fischzug des Petrus, der verlorene Sohn – oder heute: Thomas, der Zweifler.

Lied 155 Herr Jesu Christ, dich zu uns wend
Psalm 36
Lesung: Jes. 40, 26 – 31

Predigt: Joh. 20, 19-29

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sie sie behalten.
Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich`s nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesu zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Liebe Gemeinde,
das ist auch unsere Geschichte, keiner von uns hat Jesus nach seiner Auferstehung je gesehen, wir kennen die ganze Geschichte nur vom Hörensagen. Aus zweiter Hand? Das wäre geschmeichelt, sechzig, siebzig Generationen sind ins Land gegangen; aber immer noch lesen wir bei Johannes von Thomas, dem Zweifler. Das kann nicht nur Gewohnheit sein, solange halten Traditionen nicht, wenn man den Sinn nicht mehr kennt. Also was ist der Sinn dieser Geschichte, was hat ihr zur Schriftform in der Bibel verholfen, was hat die Menschen zu allen Zeiten an dieser Geschichte beschäftigt, - und jetzt auch uns?

Liebe Gemeinde, diese Geschichte ist unsere Geschichte, denn sie ist unser Spiegel, wir erwachsenen Menschen sehen uns darin als die Zweifler, die mit einer Verheißung konfrontiert werden: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Das ist kein Tadel, wie man aus dem Gespräch zwischen Jesus und Thomas entnehmen könnte: He, Thomas, Du glaubst zu wenig! Es ist auch allenfalls eine milde Mahnung, ein Wunsch: Glaub doch jetzt, und sei nicht länger ungläubig. Es kann auch gar nicht mehr sein als ein Wunsch, als eine Bitte, mehr lässt die abschließende und zugrunde liegende Feststellung gar nicht zu: SELIG sind, die nicht sehen und doch glauben.

Die Frage, die sich aus dieser Feststellung ergibt, lautet: Unter welchen Umständen gilt denn das: Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben. Gewiss nicht unter allen Umständen!

Der Satz wäre unter den bei uns üblichen und bekannten Lebensverhältnissen purer Unsinn, wenn man ihn ganz abstrakt, ohne Rücksicht auf die Umstände auffasste: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben; dann könnte der Bundeskanzler zutreffend spotten, der kürzlich meinte, mit einem Satz zwei Institutionen gleichzeitig vorführen und abservieren zu können, als er beim Neujahrsempfang 2003 vor versammeltem Publikum fragte, was Presse und Religionsgemeinschaften gemeinsam hätten – und gleich die Antwort nachschob: Beide glauben, ohne zu wissen.

Natürlich, kein Bundskanzler würde den Bürgern seines Landes, auch kein Vater, keine Mutter würde ihrem Kind diesen Satz als Rat für alle Fälle des Lebens mitgeben: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Da könnte man tatsächlich mit dem Volksmund nur spöttisch sagen: Wer’s glaubt, wird selig!

Kontrolliertes Misstrauen ist in unserer Welt lebensnotwendig, Kinder dürfen sich beileibe nicht auf alles und jeden verlassen, angefangen beim Misstrauen gegen Fremde – man denke an das schreckliche Geschehen in Eschweiler vor wenigen Tagen – , aber auch auf die Natur können sie sich nicht einfach verlassen: Wenn die Tollkirsche noch so toll aussieht, sie ist doch giftig, - und – einen Tag nach dem 26. April, 17 Jahre nach Tschernobyl, liegt es nahe, daran zu erinnern, dass selbst die selbstverständlichen Lebensgrundlagen, die Reinheit der Luft und des Wassers, gestört und für Lebewesen gefährlich sein können.

Das Haus der Wissenschaften, die Universität, lebt von nichts anderem als diesem kontrollierten Zweifel. Die Wissenschaften werden in der Moderne gerade zu diesem Zweck von der Gesellschaft bezahlt, dass sie die Grundlagen des Lebens immer wieder kritisch prüfen.

Gesellschaftliche Erneuerung ergibt sich aus der Überprüfung des Alten, bisher Gültigen, ob es sich um Grundgedanken der Medizin handelt oder um soziale Tatsachen wie Frieden und Gerechtigkeit. Es gehört zu den Aufgaben der Wissenschaften, kritisch-zweifelnd zu überprüfen, ob das bisher Gültige in der bisherigen Gestalt auch weiterhin gilt – und Vorschläge zu machen für notwendige Erneuerungen.

Je weniger eine Gesellschaft sich auf feste Ordnungen und Bindungen verlassen kann oder verlassen will, sei es, dass diese Ordnungen unter globaler Komplexität zerbrochen sind, sei es, dass sie als hinderlich angesehen werden für Wachstum und Fortschritt oder für die Freiheit des Einzelnen, um so mehr braucht man den Zweifel, der alte und neue Bindungen überprüft, ob sie den Menschen dienen oder nicht.

Die Wissenschaften sind eine Institution des Zweifels in der modernen Gesellschaft. Der Jünger Thomas mit seiner gesunden Skepsis hätte gute Berufschancen gehabt, er würde sicher die erste Juniorprofessur in Bonn bekommen.
Denn alle Autoritäten, und gerade die religiösen Autoritäten, die in der Tiefe des Gemüts und allen Lebens wirken, werden immer wieder auf den Prüfstand der Wissenschaften gestellt und befragt, ob sie der Gesellschaft nützen, sie tragen, ihr zur Entfaltung verhelfen, oder gefährlich sind; ob sie dazu beitragen, eine Welt der Gewalt zu segnen, zu sanktionieren, ob sie Hass und Feindschaft bringen, oder ob sie ein Boden sind oder den Boden bereiten, auf dem Frieden und Gerechtigkeit wachsen können.

Religionen sind die tiefste Grundlage allen bewussten Lebens, in ihnen fließen die Erinnerungen an bisher Gültiges mit Überzeugungen der Gegenwart zu einer eigenartigen Mischung zusammen. Sie sind aber als Grundlage allen bewussten Lebens so tief abgesunken, dass sie von vielen Menschen als bewusste Grundlage kaum noch wahrgenommen werden. Deshalb ist bei den Religionen die Grundlagenforschung besonders schwierig ist. Die Auffassung, die Wirtschaft allein sei der Boden, auf dem das soziale Leben wachse, aufgelockert durch die Arbeit der Wissenschaft, diese Auffassung hat sich deshalb immer weiter ausbreiten können, aber sie gräbt nicht tief genug. Die Begründungen für den Irak-Krieg zeigen das Bedürfnis, schwere Entscheidungen tiefer zu begründen: Wenn es um fundamentale Entscheidungen geht, dann wird religiös argumentiert, mit oder ohne Nennung des Namens Gottes, ob national-religiös oder mit den Vokabeln einer Weltreligion; dann werden tiefere Grundlagen beschworen, dann wird Gott als ein Super-Präsident eingeführt, der all die kleinen menschlichen Präsidenten mit ihren viel zu großen Schwertern in den gerechten Kampf schicken würde.

Dabei hat Jesus von Gott als dem Vater gesprochen, nicht als dem Machthaber, und er hätte sicher nicht von Gott als Person geredet, wenn es möglich wäre, von der Liebe zu reden, ohne sich dabei Personen vorzustellen.
Denn das ist der Sinn seiner Rede an Thomas: Die Liebe ist die tiefste Schicht im Wurzelboden der Gesellschaft, sozusagen die wasserführende Schicht, ja das lebenspendende Grundwasser selbst, aus dem sich das soziale Leben lebendig erhält. Sie ist im allgemeinen nicht sichtbar, aber wirksam; wie das Grundwasser nicht sichtbar ist, - und doch holen sich die Pflanzen daraus das lebensnotwendige Wasser, sprudeln auch die Brunnen, wo keine Flüsse und Bäche an die Oberfläche treten.

Die Liebe als das Grundwasser des Lebens kann man nur an ihren Wirkungen erkennen, und man hat nur etwas von ihr, wenn man darauf vertraut, dass sie da ist.

Liebe Gemeinde,
wir sind nicht selig, als erwachsene Menschen nicht und als Wissenschaftler schon gar nicht - und wir werden es auch in diesem Leben nicht, weil unser Vertrauen auf die Liebe nicht beständig ist, vom Zweifel niemals frei wird. Natürlich steckt in Jesu Antwort an Thomas, den Zweifler, ein Moment der Rüge, aber es ist eher so etwas wie Enttäuschung: Hast du es in unserem ganzen Zusammenleben nicht gemerkt, dass ich die Liebe unter euch verkörpere?

Aber so geht es mit der Liebe immer: Als Strömung in den Fundamenten der Gesellschaft befruchtet sie Wirtschaft und Wissenschaft, verhindert beider Erstarrung. So wissen alle Menschen von ihr, meinen sie zu kennen, machen sich Bilder von ihr, in Träumen und anderen Medien, aber Vertrauen genießt die Liebe allenfalls im Privatleben, dort wo man ohne sie gewiss nicht auskommt. Überall wo die Liebe öffentlich wirkt, ruft man nach Ordnungen, sei es für oder gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, sei es für oder gegen die Betreuung von Kindern durch ihre Mütter, sei es für oder gegen eine soziale Behandlung von Leidenden und Schwachen ... denn man traut der Liebe als gestaltender Kraft manches zu, nur keine Verlässlichkeit, da braucht es schon Ordnungen, sagt man; dass sie die Lebenskraft im Fundament der Gesellschaft sein könnte, - man sieht es nicht, aber wer das glaubt, ist selig, denn er oder sie hat die Grundströmung des Lebens entdeckt.

So hat es Jesus gemeint: Der Glaube an die Liebe als Grundstrom des Lebens vertraut auf das aus der Tiefe Leben spendende Element; der öffentlich sichtbare und allgemein anerkannte Boden der Gesellschaft, die Wirtschaft, kommt ohne die Lockerung durch die Kritik der Wissenschaft nicht aus; aber das ist eben nicht alles, ohne den Grundstrom der Liebe wächst auf diesem Boden nichts oder nur karge Frucht.

Liebe Gemeinde,
der Sonntag heute trägt den Namen „Quasimodogeniti“ – wie die Kinder – und erinnert natürlich an das Wort Jesu: So ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt Ihr nicht ins Himmelreich kommen. Dieses Wort ist dem Satz aus dem Johannes-Evangelium eng verwandt: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Kinder können gar nicht anders, wenn sie leben wollen, als auf die Liebe zu setzen; die seelischen Schäden bei Kindern, die die lebensnotwendige Grundströmung der Liebe suchten und nicht fanden, sind unermesslich groß und schmerzhaft. Auch wenn es in einer Welt der Erwachsenen noch so widersinnig scheint: Die Liebe ist der einzige Boden, auf dem Menschen im Leben erst einmal anwachsen können; es ist schade, wenn die jungen Pflanzen zu früh ausgesetzt werden – und es ist erst recht bedauerlich, dass die paradiesische Fruchtbarkeit des Frühbeets von herangewachsenen Menschen gar nicht mehr als wirkliche Möglichkeit angesehen wird. Die Vertreibung aus dem Garten Eden vollzieht sich in jeder Biographie mehr oder weniger schmerzhaft.

Liebe Gemeinde,
die Geschichte des Thomas, das ist unsere Geschichte, deshalb steht sie in der ersten Reihe. Wir zweifeln unaufhörlich, ob die Liebe das Fundament unseres Lebens durchströmen kann, von Misstrauen abgehärtete Herzen, verhärmte und verarmte Seelen neu fruchtbar machen kann. Johannes und seine Gemeinde zeugen von diesem Grundstrom des Lebens, der in der Person des Jesus von Nazareth spürbar auf sie gewirkt hat. Johannes und viele Christen nach ihm zeugen gegen den Augenschein, - und sie wirken als Zeugen noch immer, sonst würden wir uns nicht sechzig, siebzig Generationen danach immer noch auf sie berufen.

Liebe Gemeinde!
Ob Johannes, der Evangelist, für Sie ein überzeugender Zeuge der Liebe längst schon geworden ist – oder noch werden kann? Ich weiß es nicht, ... wir Erwachsenen sind jedenfalls nicht so leicht zu überzeugen, wir fürchten in der Liebe den reißenden Strom des Eros oder das Salzwasser des Egoismus und verlassen uns lieber auf die kritische Kraft der Wissenschaften, die den Boden des Lebens von der Oberfläche her mit Kritik lockern und fruchtbar zu machen suchen. Aber solange noch Kinder geboren werden, wachsen uns immer neue Zeugen zu, dass der Boden des Lebens letztlich nur durch den Strom der Liebe fruchtbar wird, so wie sie Kinder zum Aufwachsen brauchen.
Was aber Kindern zum Wachstum verhilft, das kann für die Erwachsenen nicht schädlich sein. Deshalb: Selig sind, die wenig davon sehen und doch an die Liebe glauben. AMEN.


Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
E-Mail: R.Schmidt-rost@web.de


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