Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern), 27. April 2003
Predigt über Johannes 20, 19-29, verfaßt von Reiner Kalmbach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde:

Es kann passieren, dass eine Predigt einschlägt wie ein Blitz. So ist mir das vor langer Zeit ergangen mit dem Wort das uns für heute gegeben ist. Seitdem trage ich es mit mir herum, es begleitet mich, tröstet, stärkt mich, aber manchmal stört es wie ein Stachel im Fleisch, es kann sogar weh tun…, es ist mir lästig.

Aber hören wir einfach hinein in dieses Wort, hören wir es und bitten Gott, er möge unsere Herzen und Sinne weit machen, bereit es in uns wirken zu lassen…

Textlesung

1.) Gehet hin…!, (ja, aber wohin?)

Von Sendung ist hier die Rede, vom Zweifel und vom Frieden.

Wir verliessen Deutschland just an dem Tag als in Berlin die Mauer fiel. Verlassen ist vielleicht nicht das richtige Wort, wir wurden “entsandt”, hinaus in die Welt…, ins ferne Argentinien.

In diesem riesigen Land, katholisch und konservativ, kirchlich gesehen (aber auch die Gesellschaft) in einer Art “vorreformatorischen” Zeit lebend, gibt es kleine protestantische Gemeinden. Man nimmt sie kaum wahr und viele ihrer Mitglieder verstecken sich ängstlich hinter einer Mauer aus Tradition und Kultur…Fenster und Türen verriegelt, “zehrt” man von dem was (einst) war. Draussen geht das Leben weiter.

Ja, hier sind wir gelandet, in der sogenannten Diaspora. Und während in manchen Provinzen die Protestanten wenigstens eine “Minderheit” darstellen, lebt unsere kleine Gemeinde im südlichen Patagonien als Diaspora in der Diaspora, d.h. wir sind nicht einmal eine Minderheit. Noch vor wenigen Jahren waren wir für die “Leute auf der Strasse” eine Sekte, oder zumindest eine “merkwürdige” Gruppe.

Und noch heute fällt es manchen Gemeindegliedern schwer, ihren protestantischen Glauben im Freundes und Kollegenkreis offen und fröhlich zu bezeugen.

Vor ein paar Jahren fingen wir an über unsere Situation nachzudenken. Wenn wir es nicht schaffen, Türen und Fenster zu öffnen, wenn wir nicht Mauern umwerfen und Zäune einreissen…, dann wird unsere kleine Gemeinde bald das Totenglöckchen hören. Aber wie das durchbrechen?, wie Angst, Lähmung und Resignation in Mut, Zuversicht und Aufbruch verwandeln…?

Und es war dieses Wort aus dem Johannesevangelium, das eines Tages in unserer Gemeinde zum Leitwort wurde. Dabei blieben wir immer wieder am “wie” hängen, “…wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch…”. Und wir diskutierten über unsere Rolle in der Gesellschaft, über die Wurzeln und Werte die aus einem (Alltags)-Christen einen Protestanten machen…; und immer wieder fragten wir: was erwartet Jesus von uns? Die Antwort fanden wir in seinem Leben, der Weg der ihn zu den Benachteiligten und Ausgegrenzten führte. Heute heisst unsere Losung: raus!, an die Öffentlichkeit, sich einmischen, das tun, was uns Jesus aufgetragen und gelehrt hat!

2.) Lohnt es sich..?..(Zweifel sind erlaubt)

Wie Jesus nicht alle seine Jünger (auf Anhieb) überzeugen konnte (es fehlte ja Thomas), so auch bei uns: für viele Menschen ist der Glaube eine “private” Angelegenheit, sie fühlen sich sicher hinter ihren hohen Mauern; Fenster und Türen geschlossen, wollen sie unter sich bleiben. Und da sind auch die Zweifler…Ich denke da an einen Mann, Mitglied gar des Gemeindevorstandes, er sagt immer wieder: “…das ist ja alles schön und gut, was du predigst und auch die Öffnung unserer Gemeinde zur Gesellschaft hin…, dennoch habe ich Zweifel, einfach glauben wie ein Kind, das fällt mir schwer…, ihr müsst mich überzeugen…”.

Wenn die Mehrheit, Freunde, Kollegen, Verwandte, wenn (fast) alle in die selbe Richtung laufen, wenn man von eben dieser Mehrheit immer wieder und immer noch als ein exotisches Pflänzchen gesehen wird, dann tauchen Fragen auf: lohnt es sich wirklich in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, gegen den Strom zu schwimmen…?, was haben wir denn schon zu bieten…?

Wir haben die Tradition der katholischen Amtskirche gegen uns, die ihren Gläubigen das “sehen und berühren” praktisch und täglich ermöglicht: Madonnen und Heilige, Volksheilige denen man am Rande der Strassen kleine Altäre errichtet, Prozessionen, schöne Kirchen und Kathedralen, die selbstverständlichen Auftritte kirchlicher Amtsträger bei öffentlichen Akten…, die Kirche als Körper, als “Leib Christi” den man berühren, den man sehen kann, ist omnipräsent.

Wir dagegen “bieten” unseren Zweiflern den Vereinsstatus, chronische Finanzprobleme, Mehrzweckräume anstelle schöner Kirchen, reden von der “Priesterschaft aller Gläubigen” und wollen die Stellung der Laien in der Kirche stärken…, unsere Pfarrer geniessen in der Öffentlichkeit nicht die Anerkennung die für ihre katholischen Kollegen selbstverständlich ist…; im Grunde haben wir nur das Wort…, das sich oft genug als schwach und verletzlich erweisst.

Wer sich zu dieser Kirche bekennt, der muss schon einen festen Glauben haben.

Wie zeigt sich also Jesus unseren Zweiflern? Er zeigt ihnen (und uns) seine Wunden! Er nimmt uns an der Hand und führt uns hinaus…, dorthin, wo seine Wunden sichtbar werden, wo wir sie berühren und sogar riechen können. Das ist in unseren Strassen und Plätzen, an den Eingängen der Supermärkte, wo (Strassen)-Kinder um etwas Brot betteln; in unseren Hospitälern in denen Ärzte und Schwestern um das Leben kranker und unterernährter Kinder kämpfen, in den Schulen in denen viele Schüler die einzige Mahlzeit am Tage zu sich nehmen…

Und dann fragen wir unseren Herrn: woher sollen wir die Kraft nehmen, den Mut, um diese Not zu lindern?, wer hilft uns, die Strukturen der Sünde zu zerstören…? Und er stellt sich in unsere Mitte und sagt: “…aber ihr habt doch den Geist!, auf ihn dürft ihr vertrauen…; und nun geht hinaus in die Welt und verkündet den Namen Gottes unter den Menschen!”

Aber das ist noch nicht alles: er spricht vom Frieden, er grüsst uns mit diesem weltumspannenden Wort, das beladen ist mit der Sehnsucht einer ganzen Menschheit: Frieden!, Shalóm!, Salám!, oder wie es bei uns heisst: Paz!

Und damit sollen wir losziehen, und wir können es auch, denn…

3.) …SEIN Friede ist viel mehr als ein Wort, er ist Lebenskraft gegen die Todesmacht!

dieser Friede befähigt uns aussergewöhnliches zu tun. Sein Friede setzt in Bewegung, er ist aktiv. Wer sich vom Frieden Jesu anstecken lässt, dessen Glaube ist zwar persönlich, aber niemals privat; ein solcher Glaube will sich mitteilen!

Ich denke an die vielen tausend Initiativen, die in unserem Land entstanden sind, um die schlimmste Not zu lindern: leerstehende Fabriken werden von den entlassenen Arbeitern besetzt und “wiederbelebt”, mit Leben gefüllt; Nachbarschaftsinitiativen organisieren sich und sorgen dafür dass Hospitäler und Schulküchen funktionieren; die alten Strukturen in Gesellschaft und Politik werden hinterfragt, neues entsteht, noch zaghaft, aber schon deutlich sichtbar. Und gerade da können wir Protestanten mitreden…; Luthers “Freiheit eines Christenmenschen” ist den meisten hier fremd. Unsere Gemeinde hat gelernt, diese Freiheit nach aussen hin zu leben, ihr freudig und mutig Raum zu schaffen.

Dann denke ich auch an die vielen Friedensmärsche der letzten Wochen, an tausend Orten auf dieser Welt und auch bei uns. In der Jugendgruppe haben wir viel über die Sinnlosigkeit des Krieges diskutiert…; und dann sind diese jungen Menschen “hinausgegangen” um “etwas zu tun”, luden ein an den Schulen, nahmen Kontakt auf mit Gewerkschaften und anderen Organisationen, und jetzt treffen sie sich jeden Freitagabend, an der “Plaza”, einem Park im Stadtzentrum…., ihre Plakate klagen an, rütteln wach, sie lesen Texte, die vom Frieden erzählen, zünden Kerzen an, um ihre Hoffnung auszudrücken..; und dann marschieren sie durch die Strassen, die Menschen kommen aus den Geschäften, manche applaudieren…; eine kleine Gruppe Jugendlicher (dazu noch Protestanten!), wenige Erwachsene (die haben wichtigeres zu tun…)…; dann setzen sie sich mitten auf die Hauptverkehrskreuzung…, und das Wunder geschieht: die Autos bleiben stehen, manche steigen aus und setzen sich dazu, kein Tumult, kein Hupen, keine Proteste.

Und dann sind da unsere Gottesdienste…, sie haben sich verändert…, jetzt spüren wir seine Kraft, seinen Frieden, wenn wir gemeinsam feiern.

Das ist Lebenskraft gegen die Todesmacht! Darum geht es, dafür und deshalb sind wir Christen. Die Kirche Christi war in der Geschichte zu oft und an zu vielen Orten Kirche um ihrer selbstwillen; versteckt hinter hohen Mauern, verriegelten Fenstern und Türen lebte sie von dem “was war”. Das ist die sterbende Kirche die der Todesmacht erliegt.

Jesus kommt und nimmt uns an der Hand und führt uns hinaus in die Welt, in die Wirklichkeit. Er “sendet” uns wie er selbst vom Vater gesandt wurde. Und wir dürfen Zweifel haben und es sind gerade diese Zweifel die unseren Glauben stärken, denn wir haben erkannt: Jesus lebt und er lebt in unseren Strassen, in den Hospitälern und Armenvierteln…; diesen Jesus kann man überall auf der Welt finden!

Neulich fragte ich im Gottesdienst: “wie können wir die Existenz unserer Gemeinde hier vor Ort rechtfertigen?” Da antwortete eine Frau: “…wir sind auf keinen Fall Gemeinde um unserer selbst willen, sondern um den Namen Gottes in der Welt zu verkündigen.” Und diesen Namen übersetzen wir mit “Gerechtikeit”, “Frieden”, “Leben” und “Zukunft”, eben: Lebenskraft gegen die Todesmacht (und seit vergangenen Sonntag hat sie ausgelacht!).

Amen.

Reiner Kalmbach
E-Mail: reikal@neunet.com.ar


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