Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Ostersonntag, 20. April 2003
Predigt über Markus 16,1-8, verfaßt von Wolfgang Ratzmann
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Liebe Gemeinde,

I

„ mors certa, hora incerta“ – so steht es geheimnisvoll in lateinischer Sprache an der Uhr des Neuen Rathauses zu Leipzig: „Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss.“ Oder: Nichts ist gewisser im Leben als der Tod. Der kommt ganz bestimmt.
- Wir denken dabei an den Abschied von Menschen, die wir lieb hatten. Der Tod hat sie uns weggenommen. Nichts konnte ihn aufhalten.
- Manche denken vielleicht auch an die eigenen Signale der Vergänglichkeit: wie die uns vertraute Haut faltig und fleckig wird; wie uns auf einmal etwas schwerer fällt, das wir früher doch so selbstverständlich und ohne Anstrengung erledigt haben; wie schon wieder ein Geburtstag uns auf das Fortschreiten der Zeit hinweist.
- Und einzelne erinnern sich an den Schrecken, als sie um Haaresbreite einem Unfall entgangen sind, oder an die Angst, als sie auf den Befund des Arztes warteten.
Zum Leben gehört diese Ungesichertheit, die man verdrängen, die man wegschieben, die man aber nicht beseitigen kann: In jedem Moment kann ich meine Selbständigkeit, meine Gesundheit, mein Leben verlieren. Der große Arzt und Mystiker Paracelsus hat die Todesbestimmtheit des Lebens so beschrieben: „Jedes neugeborene Kind bringt mit seiner Geburt einen neuen Tod ins Leben“. Das scheint absurd: Gibt es ein schöneres Symbol des Lebens als ein neugeborenes Kind? Und doch ist es wahr – auch für das ganz junge Leben: Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss.

Wir erleben die Todesverfallenheit allen Lebens nicht nur individuell und biologisch im Altern und Sterben des Menschen. Sie kann sich auch ausdrücken in gescheiterten Hoffnungen, in einer Haltung der fehlenden Ehrfurcht gegenüber der Schöpfung oder gegenüber den Mitmenschen. Wir spüren den Atem des Todes dort, wo blind zerstört und vergiftet und verwüstet wird. Wir erleben ihn auf den Schlachtfeldern der Erde, in den vergangenen Wochen vor allem im Irak. Überall scheint es oft keine andere Perspektive zu geben als den Tod. Nichts anderes, nur er ist gewiss.

Da sind die drei Frauen auf ihrem Gang zum Grab. Gerade noch haben die den Triumph des Todes erlebt. Der, den sie lieb hatten, der, der ihnen Gott als den liebevollen Vater nahegebracht hatte, ist brutal hingerichtet worden. Sie sehen die Bilder noch vor sich: die aufgehetzte Menge, die „kreuzige ihn“ schreit; der gefühllose römische Statthalter mit seinen routinierten Henkern; Golgatha mit den drei Kreuzen ... Tot und begraben ist der, auf dem ihre Hoffnungen ruhten. Mit einem riesigen Stein bedeckt der Traum von einem anderen Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Vorbei ihre Zuversicht, dass dieser Jesus Israel erlösen würde. Der Tod, nichts anderes ist gewiss. Was bleibt, ist die liebevolle Treue zu ihm, die pietätvolle Verehrung: wohlriechende Öle, die auf den Leichnam geträufelt werden sollen; Trauerarbeit, um sich auch selbst wieder zurecht zu finden in der eigenen Welt des Todes, aus der es eben doch kein Entkommen gibt.

II

Und nun kommt doch alles anders. Man muss die Ostergeschichten nicht nur oberflächlich als Protokolle eines Ereignisses betrachten. Zu unterschiedlich sind sie in ihren Einzelheiten. Wie sollte sich auch protokollieren lassen, was alles Begriffe, alles Vorstellungsvermögen von Menschen sprengt? Wir sollten sie eher betrachten wie kostbare Bilder, die uns hinter der Oberfläche des Erzählten eine tiefere Wahrheit mitteilen wollen: Die Frauen kommen – und der Stein, Symbol der Hoffnungslosigkeit, ist weggewälzt. Sie kommen zum Grab, zur immerwährenden Wohnung des Todes. Aber sie finden nicht den Tod in ihm, sondern einen „Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an“. Die Wohnung des Todes ist besetzt von einem Boten des Lebens. Wo es nach Leichentüchern und Verwesung zu riechen hat, dort breitet sich der Geruch des Lebens aus. Dort sitzt der in der Pose eines Regenten, der das Leben selbst ist. Dort herrscht jetzt der Gott des Lebens.
Ostern: ein Umsturz aller Gewissheiten. Nicht einmal der Tod ist gewiss! Noch gewisser ist das Leben. Ostern: Nicht mehr unter dem Leichengeruch der Mächte des Todes leben müssen, sondern auf den Duft des Lebens aus Gottes Macht setzen. Ostern: Jesus, den Verspotteten, Gefolterten und Gekreuzigten, nicht für erledigt zu halten, sondern mit seiner Zukunft zu rechnen. Ostern: ein Umsturz aller bisherigen Gewissheiten.

Es ist ganz sicher schwer, dem zu vertrauen. Zu massiv sind unsere Erfahrungen in der Welt des Todes. Sollen wir auf einen alten Text setzen, auf eine alte wundersame Erzählung, wo unsere Vernunft, wo alle unsere Erfahrungen dagegen sprechen? Aber stimmt das eigentlich: alle unsere Erfahrungen? Könnte es sein, dass uns die Ostergeschichte die Augen öffnen hilft für Gegenerfahrungen, für österliches Geschehen auch in unserem Leben?
- Da lag ich vor wenigen Tagen noch auf dem Untersuchungstisch des Arztes. Stumm musste ich warten, bis die Apparate alles abgetastet und der Computer alles registriert und ausgedruckt hatte. Und dann kam das Urteil: „Alles in Ordnung, keine krankhafte Veränderung“, sagte der Arzt.
- Da schienen die Beziehungen zwischen zwei Menschen auf dem Nullpunkt zu sein. Hoffnungslos. Weggehen, alles liegen lassen – die einzig richtige Konsequenz. Und dann geschah doch das Wunder eines echten Neubeginns.
- Da starb die Ehefrau und Mutter, von ihren Angehörigen geliebt und in tiefem Schmerz zum Grab geleitet. Aber dort sang man miteinander das alte Triumphlied über den Tod „Christ ist erstanden von der Marter alle“. Und in den Herzen breitete sich der Dank aus und die Zuversicht, dass die Verstorbene nicht nur dem Tod, nicht nur dem kalten Grab überlassen wird, sondern dass wir sie in die Hände Gottes geben dürfen.
Ostern – ein Umsturz der Gewissheiten. Der Tod ist noch da. Es gibt noch Gräber. Es wird noch immer gestorben. Es wird noch immer geschossen, gefoltert und umgebracht. Es gibt noch immer Situationen voller Hoffnungslosigkeit. Aber dem Tod ist ein Bein gestellt worden. Er ist nicht mehr die einzige und letzte Gewissheit. Gott hat seinen Platz schon besetzt. Er, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist die letzte, wenn auch noch oft verborgene Instanz. Er hat Jesus, den Liebhaber des Lebens, auferweckt. Deshalb lohnt es sich, auf Gottes Lebensmacht auch hier unter uns, auch in meinem Leben, zu achten.

III

Doch noch einmal zurück zu den Frauen. Mit Furcht und Entsetzen fliehen sie aus dem Grab. Nicht einmal des Gottesboten gelingt es, sie zu beruhigen. Ob sie es überhaupt wahrnehmen, was er sagt: „Entsetzt euch nicht. Jesus ist auferstanden. Geht und sagt es seinen Jüngern. Er wird euch vorausgehen nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen...“? Es ist schwer, in Furcht und Entsetzen zuzuhören.
Die drei fliehen in panischer Angst. Es gibt keinen Kommentar in unserer Geschichte, der sich kritisch von solchem Verhalten absetzte – nach dem Motto: Christen haben keine Angst. Immerhin: Die drei Frauen waren mutiger gewesen als die männlichen Jünger. Petrus und die anderen waren vor lauter Angst ganz von Jerusalem geflohen. Keiner sollte ihre Verbindungen zu dem gekreuzigten Aufrührer aufspüren. Weg vom Ort des Geschehens, heim nach Galiläa, Türen und Fenster verriegeln, untertauchen. Die drei Frauen waren mutiger gewesen und hatten sich zu Jesus bekannt, als sie sich zum Grab aufmachten. Aber nun fliehen sie in Furcht und Entsetzen. Was macht ihnen Angst? Sie erleben, wie die Gewissheiten umstürzen: weggewälzt der Stein, der alle Hoffnungen unter sich begraben hatte; im Grab nicht der Tod, sondern das Leben; keine Salbung eines Toten, sondern ein Aufruf, dem Auferstandenen und Lebendigen nachzufolgen. Sie erleben: Nicht einmal der Tod ist gewiss. Umsturz aller bisherigen Werte und Ordnungen: Der Gekreuzigte, der so tot war, wie man nur tot sein kann, lebt.

Ostern entsetzt uns nicht mehr. Wir haben uns an seine Botschaft gewöhnt. Sie umgibt uns in der Form schöner Lieder, kostbarer Gemälde und vertrauter Texte: Jesus ist auferstanden. Mit Entsetzen reagieren wir nicht, eher mit skeptischem Zweifel – oder auch mit der Langeweile der Selbstverständlichkeit. Das Entsetzen der Frauen ist der angemessenere erste Schritt auf das hin, was sie erleben. Es zeigt, dass sie registrieren, was sich hier ereignet hat: Der Tod ist nicht mehr gewiss. Die alte Ordnung der Welt gerät aus den Fugen. Es braucht viel Zeit, bis man das ein wenig verstehen kann und bis man die Konsequenzen sieht, die sich daraus ergeben.

IV

In der Tat: Ostern ist ein Fest mit Konsequenzen. Wenn es stimmt, dass nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern das Leben, Christus, der Auferstandene, Gott selbst, dann könnte sich manches ändern, was in der Todesordnung selbstverständlich ist:
- Da könnten wir freikommen von der lähmenden Perspektivlosigkeit in Wirtschaft und Politik. Da sind auch die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse noch nicht endgültig. Da darf immer wieder neu gesucht werden nach Strukturen, in denen jeder einzelne Mensch mit seinen Begabungen gebraucht wird. Da erweisen sich auch die neuesten Konzepte der Gewaltpolitik als Vorstellungen von gestern.
- Da könnten wir freikommen von der Apathie in der Kirche, wo man oft nicht weiter sieht als bis zum nächsten Kassensturz. Da wird man zwar die realen Bedingungen nicht übersehen und dennoch die große Perspektive im Blick haben: Zeugen des Auferstandenen zu sein, Bundesgenossen des Lebens.
- Und da setzen wir nicht nur auf die tötenden Erfahrungen, was sich alles nicht lohnt, was sich nicht rechnet, was keinen Sinn hat. Da gibt es unerwartete Chancen für den, der schon abgeschrieben war, eine Zukunft für Erstarrtes, eine Hoffnung für das, was tot zu sein schien.

„Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss“, so heißt es. Seit Ostern ist der Tod nicht mehr die letzte Gewissheit, sondern das Leben aus Gott, die Auferstehungskraft Jesu Christi. Es wäre gut, wenn wir unsere skeptischen Zweifel hinter uns ließen oder unsere Langeweile und wenn uns ein wenig von dem Entsetzen der Frauen überkäme. Wir fingen dann an zu ahnen, was das heißt: Auferstehung. Wir spürten dann etwas von Gottes neuer Ordnung des Lebens hinter unseren Ordnungen des Todes. Wir könnten dann beginnen, schon aus dieser neuen Gewissheit des Lebens heraus zu denken, zu hoffen und zu handeln.
Gott helfe uns dazu mit seiner österlichen Macht. Amen

Lied: EG 107

Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann, Theologische Fakultät Leipzig
E-mail: ratzmann@rz.-uni-leipzig.de


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