Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Gründonnerstag, 17. April 2003
Predigt über Johannes 13,1-15, verfaßt von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Leserin und lieber Leser,

ob Sie Zeit und Kraft haben, an einem Gründonnerstag-Gottesdienst teilzunehmen und ihn mitzufeiern? Oder ob gerade das Lesen dieser Predigt im Internet für Sie der Zugang zu diesem Tag ist, die Kommunikation mit diesem Fest, die Ihnen möglich wird? Ich glaube, daß es nicht meine Aufgabe ist, Sie auf etwas anderes zu verweisen - auf einen Abendmahlsgottesdienst in der Kirchengemeinde etwa -, sondern daß es meine Aufgabe ist, Ihnen mit dieser Predigt die Kommunikation zu ermöglichen mit der Wahrheit, mit dem Angebot, das uns am Gründonnerstag verheißen wird. Dies will ich versuchen.

Vielleicht haben Sie schon einmal in einer orthodoxen Kirche oder in einer römisch-katholische Kirche einen Gründonnerstag-Gottesdienst mit dieser Zeichenhandlung, der Fußwaschung aus dem Evangelium, miterlebt. Ich weiß das nur aus Berichten und von Photos: Dort wird im Gottesdienst am Gründonnerstag symbolisch versucht, das zu tun, was Jesus getan hat, so zu handeln, wie Jesus gehandelt hat. Wir glauben, daß wir diese Zeichenhandlung nicht nachzumachen brauchen, weil wir hoffen, daß es uns im Alltag des Gemeindelebens und der christlichen Existenz gelingt, die „Sache“ von Gründonnerstag wirklich werden zu lassen. Was aber - liebe Leserin, lieber Leser - ist diese „Sache“ von Gründonnerstag? Was ist gemeint?

Jesus sagt zu Petrus: „Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“ Damit wird der Bogen zu Karfreitag geschlagen - zu morgen. Die Fußwaschung nimmt zeichenhaft das Opfer vorweg, das Jesus zu bringen bereit ist.

Wie kann die Aufopferung für andere Menschen zeichenhaft dargestellt werden? In jeder Zeit und in jeder Gesellschaft werden Menschen eigenständige Formen und Wege finden - Menschen, die bereit sind, sich zu opfern. Was sage ich da? Es muß heißen: Werden Opferbereiten immer wieder eigenständige Wege und Formen aufgezwungen werden! Über einen solchen Weg möchte ich später mit Ihnen besonders nachdenken. Soviel sei schon jetzt festgehalten: Keiner aber wird mutwillig und darf mutwillig den Weg des Opfers gehen. Aber auf ihn sich zwingen lassen, ihn annehmen - das kann möglich werden.

Jesus wählt hier das „Bild“ der Sklavenexistenz: Indem er die Füße wäscht, tut er den Dienst, der Aufgabe des niedrigsten Sklaven in einer Hausgemeinschaft war: den Gästen, die aus dem Straßenstaub und Straßenschmutz kommen, die Füße waschen und pflegen und ihnen so zu zeigen, daß sie willkommen sind - jedenfalls dem Herrn des Hauses willkommen sind; die Meinung des Sklaven spielt gar keine Rolle!

Das alles versteht Petrus: „Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt!“ Er will als ganzer Mensch, mit seiner gesamten Existenz erneuert werden: die Füße als Bild für den Leib, für sein biologisches Leben, der Kopf als Bild für seine Entscheidungen, für sein Wollen, die Hände als Bild für seine Taten, für sein Handeln. Einfach alles neu machen lassen - durch Jesus.

Das zeigt diese Handlung zuerst: Jesus opfert sich ganz für uns. Alles, was wir tun können, können wir nur, weil wir auf dieses Opfer bauen.

Dann aber sagt Jesus noch etwas: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Wir haben sein Opfer angenommen - wir werden sein Opfer von Karfreitag annehmen - und können nun in gleicher - nein: in ähnlicher! - Weise leben. Auch uns für andere opfern?! Auch Sklavin und Sklave werden?! Wenn überhaupt, dann sicher ganz eigenständig und zurückhaltender. Aber gewiß nicht nur in Form dieser Symbolhandlung, sondern ganz praktisch bezogen auf Nöte und Herausforderungen unserer Welt: uns einbringen mit unserem Dienst, mit unseren Kräften, mit unserer Zeit, mit unserem Geld - für andere; und so Christus ähnlich werden.

Das eine Ziel also ist die Befreiung für uns: Wir erkennen, daß Christus für uns handelt.
Das andere Ziel ist die Verpflichtung (?) - nein! -, besser: die Befähigung für die Zeit der Not, für die Zeit der Herausforderung: Wir können wohl auch einmal anderen zum „Christus“ werden.

„Heute bin ich meines Heilands Gast
zu Brot und Wein und Osterlamm.
Im Garten draußen bricht ein Ast.
Fällt einer schon des Kreuzes Stamm?
Kyrie eleison! [- Herr, erbarme dich!]

Der Heiland ist mein Knecht und Wirt,
dient mir und seiner Jünger Schar.
Der aller Himmel Herr sein wird,
macht sich der Gotteshoheit bar.
Kyrie eleison!

Er salbt und badet uns den Fuß,
reicht uns den Kelch und bricht den Laib
und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.
Kyrie eleison!

Mit Pilgerhut und Wanderstab
hält er, der Hirt’, das Passamahl.
Und als er aufbricht, ist’s zum Grab,
zu Kreuzesmarter, Spott und Qal.
Kyrie eleison!

...

Der Kelch ist nun mein Eigentum
und Brot und Wein mein reichstes Teil.
Den Kelch ergreift zu seinem Ruhm,
verkündiget der Sünder Heil!
Kyrie eleison!

Verkündiget den Namen sein,
sooft ihr dessen nun gedenkt,
bis er nach Geißlung, Fluch und Pein
uns seine Siegesfahne schenkt.
Kyrie eleison!

Er kommt, er kommt, des sei gewiß,
zu seiner Jünger Freudenmahl.
Am Ende aller Finsternis
grünt ewig auch des Kreuzes Pfahl!
Hosianna! [- Rette doch!]“

Mit diesen Versen hat Jochen Klepper in seinem Gründonnerstag-Kyrie vom April 1938 die beiden Schwerpunkte unseres Textes ebenfalls aufgegriffen und festgehalten:

„Er salbt und badet uns den Fuß,
reicht uns den Kelch und bricht den Laib
und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.

Verkündiget den Namen sein,
sooft ihr dessen nun gedenkt,
bis er nach Geißlung, Fluch und Pein
uns seine Siegesfahne schenkt.“

Das Handeln Christi hat die Zielrichtung, uns - jede und jeden von uns, liebe Schwestern und Brüder - zu befreien, aus den Schuldfolgen unseres Redens und Schwätzens, unseres Handelns und Verstricktwerdens herauszureißen, „damit ich ohne Strafe bleib’“. Wir aber haben seinen Namen zu verkündigen, von ihm Zeugnis zu geben, auch in „Geißlung, Fluch und Pein“ - hier redet Jochen Klepper wie mit Worten über Christus eigentlich von uns, von denen unter uns, die Christus ähnlich werden.

Nicht nur hat er beide Schwerpunkte in seinem Text benannt, sondern auch in seinem Lebensweg, bei seinen Entscheidungen beide Seiten durchleben müssen. 1931 hat er eine Witwe geheiratet und gestaltete nun mit ihr und ihren beiden Töchtern aus erster Ehe seine Familie. Diese Witwe und ihre Töchter waren deutsche Staatsbürgerinnen wie auch Jochen Klepper selbst. Ganz normal. Nur nach den Wertmaßstäben und Klassifikationen der nationalsozialistischen Verbrecher waren diese Menschen gebrandmarkt - als Jüdinnen. Ich lehne es ab, diese Kennzeichnung immer wieder wie selbstverständlich neu aufleben zu lassen. Das wäre eine Art eines späten Sieges der Nazis. Nein! Ich sage nur: 1931 hat er geheiratet und eine Familie gefunden, die ihm Heimat geworden ist.

Wegen der Politik der Nationalsozialisten bestand immer stärker die Gefahr der Zwangsscheidung und, daß Frau und Tochter (eine lebte seit 1939 in London und war so außer Gefahr) wie so viele auch auf die Deportation geschickt werden würden. Jochen Klepper hat die Möglichkeit, mit Innenminister Frick zu sprechen - am 8. Dezember 1942. Am nächsten Tag hat er Termin im Staatssicherheitsdienst bei Adolf Eichmann. Nach dem Tagebucheintrag von Jochen Klepper hat dieser gesagt: „Ich habe noch nicht mein endgültiges Ja gesagt.“ Aber am 10. Dezember dann wird die Ausreise abgelehnt.

Damit ist deutlich - und das Schicksal anderer konnte keinerlei Illusion aufkommen lassen -, daß die Deportation von Frau und Tochter unmittelbar droht. Im Falle dieser Deportation - das müssen wir Nachgeborenen mit großartigen demokratischen Erfahrungen, die wir uns Diktaturen und besonders auch die nationalsozialistische kaum wirklich vorstellen können, uns ganz klar machen: -, im Falle dieser Deportation wäre es für Jochen Klepper völlig unmöglich gewesen, den Weg mit seiner Frau und Tochter mitzugehen. Er wäre bei diesem Versuch gewaltsam von ihnen getrennt worden. Es war also klar - allen dreien war das klar -, daß sie getrennt werden würden, daß Frau und Tochter allein nach Osten verschickt werden würden.

Welches Opfer - liebe Leserin und lieber Leser - könnte Jochen Klepper in solcher Situation für die geliebten Menschen bringen? Ich weiß es nicht. Ich kann diese Frage nicht neu und eigenständig beantworten. Eines aber weiß ich: Jochen Klepper hat diese Frage dahingehend beantwortet, daß er gemeinsam mit seiner Familie, daß sie drei gemeinsam als Familie in den Tod gegangen sind. Seine letzte Tagebucheintragung enthält den Hinweis:

„Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott -
Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod.“

Selbst in dieser Entscheidung, bei diesem Weg, ja besser: auch und gerade bei diesem Weg verläßt sich Jochen Klepper auf Christus, auf das, was Christus für uns alle - auch für ihn und seine Frau und seine Tochter! - getan hat:

„Über uns steht in den letzten Stunden das Bild
des Segnenden Christus, der um uns ringt.“

„... und harrt schon auf den Judaskuß,
damit ich ohne Strafe bleib’.“

Jochen Klepper gibt durch seine Tagebuchnotizen das Zeugnis - und das haben wir erst einmal wahrzunehmen, nicht gleich in Frage zu stellen oder zu problematisieren! -, er gibt das Zeugnis, daß er und seine Familie sich auf Christus verlassen haben:

„... das Bild des Segnenden Christus,
der um uns ringt.
In dessen Anblick endet unser Leben.“

„Den Kelch ergreift zu seinem Ruhm,
verkündiget der Sünder Heil!“

Ich glaube, daß für uns - für mich, für Sie - im Vordergrund stehen sollte die Dankbarkeit, wenn bisher ein ähnliches Opfer auf dem Weg des Christus nicht von uns gefordert war!

Sodann gibt uns dieser Tag auf wahrzunehmen, daß solch ein Opfer möglich sein kann, daß Gott uns durchaus einen solchen Weg des Opfers führen könnte.

So ist es mein Wunsch zu diesem Gründonnerstagfest, daß wir - nicht wahr: ich schließe mich hier immer ein; ich kann nicht einfach nur Sie anreden und mich dahinter verbergen! -, daß wir eine solche Situation, wenn wir denn in sie geraten werden, glaubend durchstehen. Daß wir nicht - wie es leider so oft geschieht! - in der Krise den Glauben wegwerfen. Sondern, daß wir selbst in der Krise, selbst in Zweifeln, selbst in Ratlosigkeit, selbst in Ausweglosigkeit den Glauben festhalten, im „Anblick“ des Christus bleiben, des sklavenhaft dienenden Christus, des sich selbst opfernden Christus - diesen im Blick, diesen in den Augen behaltend. Das ist mein Wunsch für Sie und für mich.

Denn: „Er kommt, er kommt, des sei gewiß,
zu seiner Jünger Freudenmahl.
Am Ende aller Finsternis
grünt ewig auch des Kreuzes Pfahl!
Hosianna! [- Rette doch!]“ Amen.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de


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