Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Lätare, 30. März 2003
Predigt über Johannes 12, 20-26, verfaßt von Klaus Bäumlin
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Jesus ist mit seinen Jüngern in Jerusalem eingezogen – im Wissen darum, was ihn dort erwartet. Er geht den Weg ins Leiden, den Weg ans Kreuz. Seinen Jüngern sagt er es: "Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben liebhat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren."

Ernste, schwere Worte, die Jesus da seinen Jüngern sagt: Wenn einer das ewige Leben finden will, müsse er sein Leben hier in dieser Welt gering achten. Es müsse mit ihm geschehen wie mit einem Weizenkorn, das in der Erde sterben muss, damit es Frucht bringt. Was fangen wir damit an?

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Es gibt Situationen, in denen diese Worte direkt und wörtlich verstanden und gelebt werden. Ich denke zum Beispiel an Dietrich Bonhoeffer, der im Konzentrationslager umgebracht wurde, weil er am Widerstand gegen eine menschenverachtende Diktatur, gegen einen furchtbaren Krieg und gegen die Verfolgung der jüdischen Mitmenschen beteiligt war. Er hat das eigene Leben eingesetzt. Sein Widerstand und sein Sterben hat bis heute unzählige Christen auf der ganzen Erde mit Mut und Hoffnung inspiriert. Oder ich denke an Erzbischof Oscar Romero in San Salvador, der ohne Angst um sein Leben Unrecht und Gewalt in seinem Lande beim Namen nannte und deshalb in seiner Kathedrale während der Messe erschossen wurde. Ich denke an Ordensschwestern und Priester, an junge Katecheten, an einfache Christen und Christinnen in Lateinamerika, die um ihrer Treue zu Christus willen, wegen ihres unerschrockenen Einsatzes für die Armen gefoltert und ermordet wurden. Sie alle sind Beispiele für die Wahrheit, dass das erstorbene Weizenkorn Frucht bringt. Sie blieben nicht allein. Ihr Tod hat vieles in Bewegung gebracht, hat vielen Menschen die Augen geöffnet, ihnen Mut zum Leben und zum Widerstand gegen das Unrecht gegeben. Ihr Sterben war nicht umsonst. Sie haben ihr Leben erhalten zum ewigen Leben.

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Aber was fangen wir an mit den Worten Jesu – wir heute in Deutschland, in der Schweiz, wo das Christsein doch eher eine gemütliche, harmlose Sache ist, kaum etwas, bei dem es um Leben und Tod geht? Was kann es denn für uns bedeuten, das eigene Leben gering zu achten, damit wir das ewige Leben finden?

Wenn wir die Worte des Johannesevangeliums genau lesen, entdecken wir, dass Jesus hier zunächst von sich selber, von seinem Weg redet: "Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde." Jesus redet von seinem Weg zum Kreuz. Aber wie seltsam, für uns kaum zu verstehen, redet er davon: Sein Tod am Kreuz sei seine Verherrlichung. Die tiefste Niederlage, die Schande, das Entsetzlichste, was einem Menschen angetan werden kann, sei die Stunde der Verherrlichung, die Sternstunde. Die finsterste Stunde – von Gott her gesehen ist es die Sternstunde.

Wir verstehen unter einer Sternstunde etwas ganz anderes. Die Sternstunden der Menschheit sind laut unseren Geschichtsbüchern die grossen Erfindungen und Entdeckungen, die der Menschheit, wie man so sagt, die grossen Fortschritte brachten. Und die Sternstunden in unserem eigenen Leben – es sind unsere persönlichen Erfolge, das mit Glanz bestandene Examen, das grosse Glück in der Liebe, die Traumstelle, die wir bekommen haben, die grosse Ferienreise, von der wir lange träumten, das eigene Haus, das wir uns endlich haben leisten können. Sternstunden – das sind die Zeiten, in denen uns alles gelingt, andere uns bewundern und vielleicht ein wenig beneiden, die Augenblicke, in denen wir oben stehen, in denen alle Ja sagen zu uns und wir selber zu uns vorbehaltlos Ja sagen.

Aber die wahre Sternstunde der Menschheit, sagt das Evangelium, ist die Stunde, da Jesus am Kreuz hängt. Dort hat Gott Ja zu den Menschen gesagt. Er bekennt sich zu diesem Menschen, der von allen verlassen und verraten wurde. Er bekennt sich zu einem, der gefoltert und ermordet wurde. Den, der gering und schwach war: Gott macht ihn gross und nimmt ihn auf ins wahre Leben. Er bekleidet ihn mit Ehre. Und in diesem einen Menschensohn bekennt sich Gott zu uns allen. Am tiefsten Punkt der Menschengeschichte, in dieser finstersten Stunde, im Sterben seines eigenen Sohnes, spricht Gott sein Ja zu den Menschen, sein Ja zum Leben. Da beginnt mitten in einer Welt des Todes das unvergängliche Leben.

Von sich selber also redet Jesus in seinem Wort vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und erstirbt, damit es viel Frucht bringt. Das ist Gottes Weg, die Welt zu retten. Er rettet sie nicht mit grossen Weltverbesserungsprogrammen, nicht mit schönen Ideen von Fortschritt und Entwicklung, nicht durch gewaltige Revolutionen. Das Weizenkorn Jesus, das stirbt, bringt der Welt das Leben. Am dritten Tage nach seinem Tod, als die Sonne des Ostermorgens aufscheint, geht den Jüngern auf, dass sein Weg ins Leben führt. Der, der am Kreuz gestorben ist, wird zur Hoffnung für viele.

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Dietrich Bonhoeffer sah dem Tod gelassen entgegen, weil er an den Auferstandenen glaubte und deswegen in der Gewissheit starb, dass sein eigener Widerstand, sein Tod nicht umsonst war, obwohl er, äusserlich gesehen, Niederlage und Scheitern bedeutete. Den Armen und Unterdrückten in Lateinamerika gibt der Glaube an Jesus Mut aufzustehen und sich zu wehren gegen Unrecht und Gewalt. Unzähligen Menschen ist der Menschensohn am Kreuz zum Trost im Leben und im Sterben geworden. In allem Elend, in allen Niederlagen, in der grössten Armut, geplagt bis aufs Blut, haben sie standgehalten, weil sie wussten, dass sie schon mitten im unvergänglichen Leben stehen. In der tiefsten Finsternis haben sie das Licht der Auferstehung geschaut. Und wo alles gegen sie war, gegen sie sprach, hörten sie das Ja, das Gott zur Welt sprach, damals, als der den, der am Kreuz sein Leben hingab, von den Toten auferweckte und verherrlichte.

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"Wer sein Leben liebhat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben." Erst wenn wir verstanden haben, dass da von Jesus, von seinem Weg die Rede ist, erst dann können wir fragen, was das Wort für uns, für seine Gemeinde bedeutet. " Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein." Jesus dienen, Christsein in seiner Nachfolge, heisst also: dort sein, wo Er ist. Wo aber ist er? Wo begegnen wir ihm? Wo können wir ihm dienen? Im Matthäusevangelium gibt uns Jesus eine eindeutige, einfache Antwort: Wenn wir dort sein wollen, wo er ist, wenn wir ihm begegnen und ihm dienen und so das Leben finden wollen, dann müssen wir ihn suchen und ihm dienen in seinen geringsten Brüdern und Schwestern. Das sind die Armen und Hungernden. Das sind die Fremden, die Menschen ohne Obdach und Heimat. Die Kranken sind es und die Menschen im Gefängnis. Es sind die, die im System unserer Welt wenig gelten. Wo überall in unserer Welt und vor unserer eigenen Türe Menschen in Not sind, vergessen, verachtet, beiseite geschoben werden, da ist Jesus, da steht sein Kreuz. Da wartet er auf uns, dass wir ihm dienen, uns zu ihm bekennen, auf seiner Seite stehen. Dort wartet das Leben auf uns, das wahre, ewige Leben.

"Wer sein Leben liebhat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben." Das heisst doch nicht, dass man sich keine Lebensfreude mehr gönnen soll. Es heisst doch nicht, dass man krampfhaft immer nur an andere denken, nur für andere da sein soll. Auf diese Weise würde man sich völlig überfordern und hätte zuletzt bloss ein schlechtes Gewissen. Nein, ich höre die Worte Jesu als eine grosse Befreiung, als Ruf zur Freiheit. Jesus ruft uns heraus aus den Zwängen und Abhängigkeiten, die unser Leben fremdbestimmen. Man denke doch nur daran, was uns "auf dieser Welt" als Glück angepriesen wird, durch Reklame, durch die Werbung im Fernsehen, in den Illustrierten. Immer soll's noch ein wenig mehr sein, bequemer, schöner, leichter, grösser. Das hinterlässt seine Spuren. Dabei ist doch das der grosse Krampf, die dauernde Überforderung, der Zwang, die Unfreiheit, wenn wir meinen, wir müssten da mithalten, wenn wir uns einreden lassen, möglichst viel aus dem Leben herauszuholen, wenn wir nur ans eigene Überleben denken, an unsere Sicherheit und Bequemlichkeit. Wenn wir das., was wir haben, für uns behalten und einschliessen. Dabei machen wir uns abhängig von unseren Bedürfnissen; die Sorgen plagen uns, wir könnten etwas versäumen, könnten zu kurz kommen. Aber auf diese Weise gehen wir am Leben vorbei, und das Leben geht an uns vorbei. Wir verlieren unsere Seele. Und wir machen auch unsere Erde kaputt. Denn je mehr wir unser Leben ausrichten nach den Bildern, welche die Reklame uns vor Augen und in die Seele malt, je mehr wir brauchen, konsumieren, herumreisen, je mehr wir für uns herausholen, desto weniger bleibt für andere, desto mehr Menschen bleiben am Rande, haben keine Chance im grossen Verteilungskampf und -krampf.

Wer beginnt, das Wort Jesu vom Weizenkorn, das sterben muss, um Frucht zu bringen, ernst zu nehmen, der wird nicht überfordert. Er wird kein verklemmter Christ. Jesus lädt uns ein, das wunderbare Ja zu hören, das Gott zum Leben sagt und selber Ja zu sagen zum Leben – und dann auch ein befreiendes Nein zu sagen zu den Zwängen und Abhängigkeiten, die uns beherrschen wollen. Jesus lädt uns ein, mit ihm zusammen das Leben zu entdecken: unser Glück zu entdecken zusammen mit den Unglücklichen; den Reichtum zu finden im Teilen mit den Armen; die Freiheit zu entdecken in der Solidarität mit den Bedrückten; Heimat zu finden zusammen mit denen, die nirgends zu Hause sind; uns zu öffnen, etwas hinzugeben von unserem Leben, etwas zu wagen, unserem Leben ein Ziel zu geben, das über die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hinaus geht; die neue Welt zu entdecken, die Gott uns im Sterben und in der Auferweckung Jesu gezeigt hat. Und dies mit ganzem Ernst und ohne jeden Krampf, wohl aber als grosse Befreiung. So beginnt das Leben, das ewige, unvergängliche. Und wir leben es schon heute.


Gebet

Gott, Leben möchten wir finden, Glück und Lebenserfüllung.
Aber wir stellen es verkehrt an.
Wir sind halt Kinder dieser Welt und haben's so gelernt.
Immer wieder möchten wir es erzwingen.
Immer wieder denken wir zuerst an uns selber, an unser Vorwärtskommen.
Die eigene Bequemlichkeit und Sicherheit ist uns am nächsten.
Wir klammern uns an die kleine Ordnung, in der wir uns eingerichtet haben.
Und dabei verlieren wir die Seele und gehen am Leben vorbei.

Dein Weg ist so ganz anders:
Er führt in die Tiefe.
Es ist ein Weg ohne Zwang und Gewalt,
ein Weg, der dem Leiden nicht ausweicht.
Führe uns auf Deinen Weg, Gott,
auch wenn es uns wider den Strich geht.
Lass uns darauf vertrauen, dass allein Deine Liebe die Angst überwindet,
den Frieden schafft und die Welt erneuert.

Lass uns auf die Kraft Deiner Liebe vertrauen, weil nur sie vom Tod ins Leben führt.
Wir sind doch nicht mehr Kinder dieser Welt.
Wir sind durch Jesus Christus Deine Kinder, die zu Dir sagen:

Vater unser im Himmel ...

Klaus Bäumlin, Bern
klaus.baeumlin@mydiax.ch



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