Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Okuli, 23. März 2003
Predigt über Lukas 9, 57-62, verfaßt von Ulrich Haag
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde,

es ist Krieg und wir hören die Worte Jesu, mit denen er die Welt nach einem Krieg beschreibt: Eine Welt ohne Geborgenheit und Schutz, eine Welt aus Bombentrichtern und brennenden Ölfeldern, wie haben sie schon einmal gesehen, eine Welt aus zerstörten Städten kahlen Feldern zerschossenen Häusern. Nichts bleibt, wo ein Mensch sein Haupt betten könnte, kein Dach über dem Kopf, keine Tür zum hinter sich zu machen, keine Wand, in deren Schatten man sich bergen könnte. Nur offener Himmel, aus dem es – wer entscheidet darüber – jederzeit wieder Bomben regnen kann, die dann auch mein Leben ausradieren werden.

Natürlich. Das ist Ausnahmezustand. Das ist weit weg. Das ist Krieg.
Aber Jesus spricht seine Sätze ins normale Leben hinein. Kein Platz das Haupt zu betten, kein Moment um zur Ruhe zu kommen. Gilt das auch für normale Menschen unter normalen Lebensbedingungen?
Was heißt normal?

Mit seiner Rede vom Menschen, der nirgends Halt findet, nirgends Sicherheit und Orientierung scheint sich Jesus auch auf der Höhe unserer Kultur zu befinden, die unter den Schlagworten Globalisierung und Flexibilisierung gewachsene Beziehungen für hinderlich erklärt. Gewerkschaften, Vereine, Kirchen leiden unter Schwund. Die Keimzelle allen Zusammenlebens die Familie ist auf Minimalgröße zusammengeschrumpft und wechselt im Laufe der Jahre mehrmals die Konstellationen: Erzieherin 1, Kind eins – das kleinstmögliche Modell ist beinahe die Regelgröße, gegebenenfalls kommen Erzieher 1 und Kind 2 hinzu. Erzieher 1 ist tätig bei internationalem Konzern, regelmäßig auf Achse, was heißt auf Achse, auf Interkontinentalflug in Geschäftsdingen. Überall und nirgends, aber per Handy zu erreichen, wenn was is. Vater von Kind 1 hat Besuchsrecht am Wochenende, hat aber Sa-So regelmäßig Dienst. Oma 3 halbjährlich auf Mallorca mit angeheiratetem Opa 4. Opa 1 ist noch berufstätig, zuletzt in Hamburg, weil dort noch Jobs in seiner Branche. Mutter von Kind 2 ist verschollen, schrieb zuletzt aus einer Therapie in Bad Wildungen.

Wer gibt wem noch wann Geborgenheit? Wer findet bei wem noch Ruhe. Noch den Ort, wo er alles vergessen darf, die Flügel hängen lassen, mit der Seele baumeln, wo er einfach zu Hause ist? Wo er nicht in ständig sprungbereiter Wachheit die nächste Herausforderung abwarten muß?

Und wer begräbt die Toten? Die Trauerhallen leeren sich, immer kleiner werden die Kreise, die einem Verstorbenen das letzte Geleit geben. Immer gleichgültiger wird die Bestattungsmaschinerie, immer abgehackter die Rituale. Bald sind es wirklich nur noch die Toten, die die Toten Beerdigen, nur der Pfarrer geht mit im schwarzen Talar – wenn – ja, wenn sich der Verstorbene zu Lebzeiten hat entschließen können, sich an die Kirche zu binden.

Der Abriß aller Geborgenheiten, der Bruch mit der Tradition, der Aufbruch aus dem Gewachsenen, die Ungebundenheit als ideale Lebensweise, die Single-Existenz – das ist die Welt, in der nur die Stärksten überleben. Auf sich allein gestellt: das halten nur die Kräftigsten aus. Ohne Schutz: das schaffen nur die sich selbst in jeder Lage verteidigen können. Ohne ablesbaren Sinn, ohne erkennbares Ziel durch die eigene Biographie marschieren, das bringen nur die Mutigsten fertig. Und wohl denen, die vorzeitig fallen auf dem Schlachtfeld, bevor ihnen die Zuversicht sinkt, sie die Kräfte verlassen. Wehe denen, die am Ende auf Hilfe angewiesen sind, um noch ein menschenwürdiges Leben zu führen. Wehe denen, die ohne Beistand in die Mühlen des Gesundheitswesens geraten. Oder gar die der Pflegeversicherung. Hier wird sie sichtbar: Eine Diktatur ominöser Sachzwänge in der wir leben, ein immer weniger geregelter Krieg aller gegen alle. Wer nicht die Ellbogen hat, sich sein Plätzchen freizuboxen, der findet allenfalls ein Bett auf der Pflegestation. Aber nicht den Platz, um sein Haupt zu betten.

Und Menschen, die entwurzelt sind, haben nicht viel zu verlieren. Sie lassen sich leicht in den nächsten Krieg schicken.

Menschen, die unter materiellem Druck stehen, sind leicht bereit, für das wenige, was sie erhoffen, zu schießen.

Menschen, die man hetzt und die sich gehetzt fühlen, sind leicht bereit das Leben zu tauschen gegen Ruhe, zur Not gegen Grabesruhe!

Da gehört es zweifellos zum Auftrag der Kirche, Gemeinschaften Raum zu geben, Bindungen zu festigen, ein Dach über dem Kopf zu sein, Insel der Geborgenheit, Oase der Ruhe, Stätte des Asyls, der Solidarität, des Zusammenhalts, Gemeinde eben

Und unsere Aufgabe, die von uns Christinnen und Christen ist es, Lebenszusammenhänge aufzubauen, Familie, Kirchengemeinde, Vereine, in die unsere Kinder hineinwachsen, in denen sie einen Schutzraum finden, um zu stabilen Persönlichkeiten heranzureifen. Ein zu Hause, eine Rückzugsmöglichkeit auch für uns, die wir schon etwas erlebt haben von dem rauen Klima, das draußen herrscht.

Im Alten Testament begegnen sie uns Seite für Seite: Festegefügte Gemeinschaften, die den Menschen Halt geben, Sippen, die tief in den überkommenen Werten verwurzelt sind, Familien, die sich über vier, fünf Generationen erstrecken, und in denen einer das Sagen hat, Stämme, die jeder Familie ihren Platz zuweisen. Und doch erzählt das AT nicht anders vom Menschen als Jesus es in unserem Predigttext tut, nämlich daß er keine Stätte hat, um sein Haupt hinzulegen. Abraham im fremden Land, Isaak im Alter, blind und gebrechlich vom eigenen Sohn schamlos betrogen, Jakob auf der Flucht, Josef von den eigenen Brüdern nach Ägypten verkauft, Krieg zwischen den Sippen Abrahams und Lots, Gewalt der Stadtkönige gegen die wehrlosen Nomaden.

Überschaubare, wohlgeordnete Gemeinschaften – und doch keine Geborgenheit. Immer die Angst. Angst in der Hackordnung der Gruppe den Platz räumen zu müssen. Dünkel zwischen den Familien, Gewalt der Väter, subtile Rache der Mütter, Angst vor dem eigenen Versagen, vor Schuld und Rache - und alles verschwiegen, unter den Teppich gekehrt. Vielleicht deshalb durchgehend bei allen biblischen Gestalten die eine Sehnsucht: Raus! Raus aus meines Vaters Haus, raus aus der Enge der Familie, raus aus der Beschränktheit der Sippe, raus aus dem Hungerland, raus aus dem Land der Sklaverei.

Mag sein, menschliche Gemeinschaften wollen Keimzelle des Friedens sein. Das Heil aber bringen sie nicht. Sie basieren zwangsläufig auf Abgrenzung nach außen. Sie benötigen Hierarchien nach innen, sie leben in Angst und sind in Angst eingebettet. Und damit sind auch sie - Keimzelle des Krieges.

So bleibt uns am Ende nichts übrig, als Jesus zuzustimmen. Ja, es ist tatsächlich so. Wie auch immer der Mensch lebt, sich einordnet, unterordnet, sich befreit und auf eigene Rechnung lebt: Ganz bis zu Ende gedacht, ganz bis zu Ende gelebt und ganz bis auf den Grund geschaut: Nichts bleibt auf dieser Welt, nichts, worauf sich der Mensch endgültig verlassen könnte, nichts wo er sich dauerhaft ausruhen könnte, endlich das Sorgen sein lassen könnte. Der Menschensohn hat nichts, wo sein Haupt betten könnte.

Und doch kannte Jesus einen, bei dem er sein Haupt gebettet hat. Er begegnet ihm am See Genezareth, allein auf einem Berg, im Garten Gethsemane – er ruft nach ihm am Kreuz. Er nennt ihn Vater und bei ihm kommt er zu sich selbst, zur Ruhe nach den Tagen des Tumults, der sich um ihn entspinnt.

Nur bei dem, nur bei dem findet ein Mensch wirkliche Geborgenheit, nur bei dem ins er aufgehoben – und das noch in den schlimmsten Strapazen, selbst auf den furchtbarsten Etappen seiner Biographie. So hat es Paulus erfahren, der die Stimme hatte, im Gefängnis zu singen. So Daniel in der Löwengrube, so der Prophet Jeremia in der Zisterne: So bekennt es der Heidelberger Katechismus: Er ist der einzige Trost im Leben und im Sterben.

So ist die Absage Jesu zu verstehen. Er erteilt sie denen, die ihre Geborgenheiten diesseits suchen, bei einem Meister, einem Guru, in einer Gemeinschaft, der Familie, ihrer Herkunft.

Mag sein: das Leben ohne Sicherungen ist etwas radikales. Doch ob wir wollen oder nicht, irgendwann kommen wir alle an den Punkt, wo unsere Geborgenheiten nicht mehr tragen, wo wir sehen, daß nichts und niemand da ist, bei dem wir unser Haupt betten könnten. Nichts und niemand außer Gott allein. Wenn es soweit ist, dürfen wir es getrost wagen: Uns im Namen Jesu auf Gott hin fallen lassen.

Amen.

Ulrich Haag, Aachen
e-mail: haag@ekir.de


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