Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Estomihi, 2. März 2003
Predigt über Lukas 18,31-43, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Jesus ist auf dem Wege nach Jerusalem. Nicht auf einer Urlaubsreise, sondern zu seinem Tod. Er weiß es selbst - kennt die Notwendigkeit des Leidens, damit neues Leben entstehen kann.

Aber die Jünger, sie begreifen rein gar nichts - obwohl er sie in sein Wissen einweiht, ehe er sich auf die Reise begibt.

Vielleicht begreifen sie nichts, weil sie noch so sehr mit sich selbst befaßt sind, daß sie nicht verstehen, daß Hingabe des Lebens und Gabe des Lebens zwei Seiten ein und derselben Sache sind.

Was es heißt, seinem Leiden entgegenzugehen, wissen wir aus der Erzählung des Lukas nicht, aber so in sich verschlossen ist er nicht, als daß er sich nicht anrufen ließe.

Ein blinder Bettler, ein Mann, der es gewohnt ist, auf sich aufmerksam zu machen, ruft Jesus an. Und dieses hartnäckige Rufen deutet Jesus als Glauben, dieses Rufen weckt den Willen Jesu zum Helfen und seine Fähigkeit zu heilen.

Jesus heilt, aber er heilt, weil der Mann seinen Mangel zeigt, seine Blindheit und seinen Glauben.

Ein Wunder findet statt.
Aber Wunder sind zweideutig. Damals wie heute.

Damals, weil ein Eingriff wunderbarer Art auch als Werk des Teufels, als Werk Beelzebuls gedeutet werden konnte. Heute, weil Wunder fast ein Hindernis für den Glauben an Gott sind.

Wunder passen nicht in unser Verständnis von Wirklichkeit, sie sind zu merkwürdig, als daß wir sie verstehen könnten. Deshalb brauchen sie heute wie damals eine Richtung, eine Auslegung. Nicht eine Erklärung, aber eine Richtung.

Es geht deutlich aus dem Gang der Erzählung hervor, daß es sowohl um Heilung als auch um Heil geht.

Eine konkrete, physische Wiederaufrichtung des Lebens für diesen Mann. Er bekam das Augenlicht wieder. Physisch - aber nicht nur physisch. Denn er verwandelte sich aus einem passiven Menschen, der am Wege saß, in einen aktiven Menschen, ja zudem in einen Menschen, der Jesus nachfolgt. Obwohl Jesus auf dem Weg zum Leiden ist.

Man sollte ja meinen, daß der zuvor Blinde diesen Weg kennt und ihn zu meiden sucht, den Weg des Leidens.

Aber vielleicht kannte er nur das Leiden, nicht aber den Weg.

Tatsächlich verwandelt sich der Mann aus einem Bettler in einen Jünger, das ist das Entscheidende an der Erzählung.

Er hatte ja nun die Wahl. Er konnte in die Gesellschaft zurückkehren und sich der geltenden Wertenorm dieser Gesellschaft unterwerfen: dem Geld. Diesen Wert kannte er aus seiner Zeit als Bettler - wenn auch nur als Mangel.

Aber er tut das nicht. Er sieht, daß Gott in dem Menschen Jesus am Werke ist, und er lobt Gott. Und Gott Loben heißt ihm zu folgen.

So gut ging die Erzählung nicht aus, die dieser unmittelbar vorausgeht, die Erzählung vom reichen Jüngling. Er konnte sich nicht von seiner Norm und der Norm der Gesellschaft befreien: dem Geld. Es wird zu einer Bindung, die ihn festhält und vom Heil fernhält.

Anders ergeht es dem zuvor blinden Bettler.

Er wird einer der ersten Personen im Neuen Testament, die die Geschichte Jesu und ihre eigene Geschichte zusammenschreiben.

Und das ergibt ein ganz neues Bild des Lebens, wo das Leiden nicht verschwindet, sondern wo Leiden und Liebe miteinander verbunden werden, so daß man sagen kann, daß das Leiden ein Teil der Erlösung ist. Erlösung bedeutet nicht eine magische Befreiung von Leiden und Tod, sondern die Fähigkeit und das Können, die erforderlich sind, um durch Leiden und Tod hindurchzukommen. Zum ersten Mal in der Geschichte werden Leiden und Liebe miteinander verbunden, so daß das Leiden von Liebe durchdrungen wird.

Das Leiden wird in eine ganz neue Kategorie gebracht. Durch das Leiden hindurch und aus dem Leiden offenbart sich Gott. Das Leiden offenbart Liebe, Leben, Leidenschaft.

Es ist kein Zufall, daß das lateinische Wort Passion sowohl Schmerz als auch leidenschaftliche Liebe bedeutet.

Die Geschichte, in die der nun sehende Mann sein Leben einschreibt, die Geschichte Jesu, enthält ein Leiden, das eine Art Überschußhandlung war, eine spontane Initiative von Seiten Jesu, die allen Prinzipien widersprach. Deshalb muß es in den Augen der Welt unbegreiflich wirken, nicht aber für die sehenden Augen des Bettlers.

Das Wunder liegt dazwischen - als eine Öffnung der Welt. Er ahnt, was ihm begegnet ist: Ein Ausdruck des eigenen Wesens Gottes und seiner Einstellung zu den Menschen. Die Liebe, die das Innerste im Leben ist.

Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde (Joh. 15,13). An dieses Bild bindet der geheilte Mann sein Leben, als er Jesus folgt.

Das bedeutet, daß er sich dem aussetzt, daß seine Welt berührt wird, daß sie verändert wird - von Kräften, die außerhalb seiner selbst liegen, die er nicht beherrscht. Kräfte, die unverständlich sind und furchterregend. Sie sind da, sie enthalten eine Kraft, die ihm Liebe erweisen und ihn befähigen, ein größeres leben auszuhalten - im Guten wie im Bösen.

An seinem Leib hat er das Wunder Gottes erfahren. Mit seinem Leib will er die Konsequenz des Wunders tragen. Als er sich von seiner Blindheit verabschiedete, mußte er sich auch von seiner Selbstsucht, dem Kreisen um sich selbst, seinem Ego verabschieden.

Nun ist da die Offenheit, die Nacktheit und das, was ihn will und ihn zum Menschen macht - wenn auch der Offene verwundbar ist und der Nackte verletzbar.

Damit ist er im Unbekannten beheimatet.

Ein Mensch, der das Leiden kennt und den Weg, singt so:
(Nelly Sachs: Sternverdunklung)

Zuweilen wie Flammen
jagt es durch unseren Leib -
als wäre er verwoben noch mit der Gestirne
Anbeginn

Wie langsam leuchten wir in Klarheit auf -

O nach wieviel Lichter Jahren haben sich unsere
Hände gefaltet zur Bitte -
unsere Kniee sich gesenkt -
und aufgetan sich unsere Seele
zum Dank?

Aus Nelly Sachs: Sternverdunkelung, zitiert nach: Fahrt ins Staublose -
Die Gedichte von Nelly Sachs, Frankfurt 1961, S. 143

Birte Andersen
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