Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Estomihi, 2. März 2003
Predigt über Markus 8, 31-38, verfaßt von Tom Kleffmann
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(Die Predigt selbst spielt nur indirekt auf die bedrückende weltpolitische Situation an. Als Anknüpfung bietet sich deshalb eine Begrüßung an. Sie könnte wie folgt lauten:)

Liebe Gemeinde, die meisten von uns sorgen sich um den drohenden Krieg im nahen Osten. Wir versetzen uns in die Menschen hinein, die sich vor den Bomben fürchten, vor sinnlosem, ohnmächtigem Tod. Wir fragen uns, wie die großen Herren es wagen können, hier im Namen des Guten, ja im Namen Gottes zu handeln, auf beiden Seiten.

Umso wichtiger ist es, daß wir uns vor Gott auf die Wahrheit des Lebens besinnen, auf den Sinn und die Sinnlosigkeit des menschlichen Leidens, nicht nur im Irak, sondern auch bei uns. Gott ist gekommen, indem Christus unsern Tod gestorben ist – das ist der Schlüssel. Was folgt daraus für den Lebensweg? Laßt uns das vor Gott bedenken.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Der Weg. Die Wahrheit. Das Leben. Deswegen sind wir hier. Wahres Leben.

Aber die Evangelien reden viel vom Leiden. Kein Mensch will leiden. Lust will jeder Mensch! Glück, Wärme, Sonne, Geselligkeit, Freunde und gutes Essen. Und Gesundheit, warmes Blut. Leiden will keiner. Sterben will keiner. Und normalerweise will auch keiner das Leiden sehen: das verzerrte Gesicht. Das Krebsgeschwür. Die Banalität des Fleisches. Keiner will es riechen: den Geruch der Greise, den Geruch der Bettlägrigen.

Kein Mensch will leiden. Not vernichtet die Freiheit: die Freiheit, sich zu bewegen, die Freiheit der Zukunft, die Freiheit nachzudenken. Wer leidet, dessen Horizont schrumpft zusammen: nur noch der Schmerz ist Gegenwart und ein paar Minuten, ein paar Tage drumherum. Und wer weiß, daß es endgültig ist, daß es keine Rückkehr gibt, der steht am entsetzlichen Abgrund: das Ende.

Was ist Leiden? Leiden ist Schmerz, Fieber, Atemnot. Leiden ist Hunger und Durst. Leiden ist die Sorge um die Kinder, die das eigene Leben sind, die den Schutz der Eltern brauchen. Verlassensein ist Leiden. Die Langeweile im Altersheim, Traurigkeit ohne Ausweg. Leiden ist Ohnmacht: junge Erinnerungen haben, aber einen alten Körper. Die Gewißheit, in einem Krankenhauszimmer zu sterben, gefesselt von Schläuchen und Infusionen. Wenn der Himmel sich verfinstert und die Luft voller Bomben ist, weil die Götter dieser Welt es so beschlossen haben. Angst. Die Gewißheit des Todes. Gottverlassene Einsamkeit.

Und was ist mit dem Leben selbst? Es gibt doch Geborgenheit, Schönheit, Jugend, Morgenröte! Aber wer geboren ist, muß schließlich raus in die Einsamkeit. Wer geboren ist, muß in Schmerzen seine Grenze finden. Sicher: in unserer Welt ist es der Mensch, der den Andern hungern läßt, der den Andern aussaugt, der ihn erschießt und vertreibt. Es ist der Mensch, der den anderen Menschen verläßt: die alten Eltern, die Kinder aus erster Ehe. Aber es gibt auch ein Leiden, das zur Geschöpflichkeit gehört. Es gab es (sozusagen) schon im Paradies. Es gehört zum Leben. Es zeigt dir die Grenze des Ich. Ohne diese Grenze gäbe es das Ich nicht: ohne daß ich Hunger spüre, Kälte spüre, Schmerz spüre. Ohne daß ich merke, daß ich nicht Du bin und Du nicht ich, und daß mein Du mir immer auch entzogen ist. Und schließlich: die Angst, in der ich die Zeit vorlaufe bis zum Tod, und in der mir die ganze Welt zu eng wird und ich vor Gott gestellt bin. Dann ist der Mensch erwachsen. Dann fragt er nach einer anderen Wahrheit des Lebens.

Ich lese nun aus dem Evangelium des Mk. im 8.Kap.

[Lesung Mk.8,31-38]

Verleugne dich selbst und nimm das Kreuz auf dich. Das klingt übel. Das klingt depressiv. Zwing dich selbst dazu, zu leiden. Kämpfe gegen dich selbst. Kämpfe deine Lebenslust nieder und suche das Leiden. Verlasse die Wärme und geh in die Kälte. Suche den Schmerz und den Tod. So klingt das. Wer es nicht besser wissen will, der könnte meinen, daß der Neid der Unglücklichen auf die Glücklichen daraus spricht, der Neid der Verbitterten, die nun geschickt versuchen, den Glücklicheren das Leid wenigstens moralisch aufzuzwingen oder ihnen in ihrem Glück und Stolz wenigstens ein schlechtes Gewissen zu machen.

Aber es ist anders. Wer so redet, versteht nicht, was das Evangelium meint. Er versteht nicht, wie nüchtern es vom Leiden des Menschen redet – wahrhaftig, nicht miesmacherisch.

Zwei Lebenläufe: Der Eine kommt aus gutem, wohlhabendem Elternhaus. Er wird zur Leistung angehalten, wird gefördert, die Eltern lassen ihn studieren. Er rackert sich ab, steigt auf, überwindet die Konkurrenz, kauft sich ein herrschaftliches Haus, baut einen Zaun darum, heiratet die schönste Frau und ist auch stolz darauf. Der Andere, der in der Grundschule noch neben ihm saß, versagt in der Schule. In Liebesbeziehungen ist er kompliziert, weil sich die Eltern scheiden ließen. Er scheitert im Beruf, weil ihm der Mut, die Leichtigkeit, der Charme fehlt. Er ist linkisch und bitter. Kurz: der Eine hat das pralle Leben und ihm gehört die Welt. Der Andere läuft seinem Leben verzweifelt hinterher. Ist der Eine der, der sein Leben erhalten will und es verlieren wird?; und der Andere ist der, der es verliert und es erhalten wird? Keineswegs. Beide wollen ihr Leben erhalten, und beide werden es verlieren. Beide wollen die Welt für sich gewinnen und beiden wird es das Leben oder die Seele verderben.

Jesu Worte gehen tiefer. Es geht nicht darum, sich zum Leiden zu zwingen, um dann dafür in einem anderen Leben belohnt zu werden. Der Extremfall für dieses abartige Mißverständnis ist der muslimische Selbstmordattentäter, der glaubt, für sein Opfer mit der sofortigen Aufnahme ins Paradies belohnt zu werden, wo ihm drei dutzend schöne Jungfrauen zudiensten sind. Sich zum Leiden zu zwingen, um dann dafür in einem anderen Leben belohnt zu werden, das wäre ja die raffinierteste Selbstsucht, die raffinierteste Selbsterhaltung der Seele: Ich gebe mein Leben, oder leide wenigstens für Andere – aber eigentlich interessieren mich diese Anderen garnicht und ich tue es nur, um mein Leben umso schöner und umso herrlicher zu erhalten. Das ist die Perversion von Religion.

Es geht um etwas Anderes. Es geht weder um eine Belohnung durch Gott noch um eine Strafe Gottes. Wer sein Leben, seine Seele erhalten will, der wird sie verlieren: das ist nicht die Strafe Gottes für allzuviel Glück. Sondern das ist einfach die Wahrheit des Lebens für sich. Eine Wahrheit, die die Seele erwachsen macht, und die sie doch nicht aushält. Und da sie sie nicht aushält, muß sie sie schließlich in sprachlosem Entsetzen erleiden. Hier aber spricht der Mensch am Kreuz. Hier ist der Tod nicht sprachlos, sondern er gehört zum Wort Gottes.

Das Ich will sein Leben erhalten und die Welt gewinnen. Das Ich, das für sich lebt. Das sich selbst das Nächste ist und auch garnicht anders kann. Das Ich, das die Dinge für sich begehrt. Das Ich, das sich selber sein Gesetz ist. Das Ich, das selber leben, selber frei sein, selber den besten Platz haben will. Dessen Gesetz es ist, sich durchzukämpfen, sich zu entfalten, die Welt zu erobern. Das in seinem Haus sitzt wie die Spinne im Netz. Das Ich, das sich zufrieden spiegelt in den schönen Dingen, die es hat. Oder das sich sorgt um seine Dinge, um seine Stelle in der Welt, bis hin zur Verzweiflung. Das Allerweltsich, das von Gott nichts weiß. Das Ich, das sich in jeder Stunde belügen muß, um den Schatten über allem, den Abgrund, das nahe Leiden nicht zu sehen. – Dieses Ich muß sterben. Es wird sein Leben verlieren – das ist so und unausweichlich. Seine Wahrheit ist sein einsamer Tod, der alle Dinge, alle Ehre, allen Besitz, dessen König es war, mit sich reißt. Es kann sich die Unsterblichkeit nicht kaufen, und Liebe auch nicht.

Aber „wer sein Leben verliert um meinetwillen“, so geht das Wort weiter, „der wird’s erhalten“. Nicht das Leben des Menschen für sich nocheinmal. Dessen Kreuz ist Bedingung: daß er der Todeseinsamkeit seines Lebens für sich auf den Grund geschaut hat. Daß er sich im Kreuz Christi wiedererkannt hat: in der Gottverlassenheit, die die ganze Welt umfaßt: „mein Gott, mein Gott“, eli, eli lama asabtani. Nicht das alte Leben nocheinmal, sondern das neue Leben. Die Taufe meint genau das: der alte Mensch taucht unter, stirbt, und ein neuer Mensch steht auf: Ein Mensch, der befreit davon ist, im Ich-Kasten, in dem er denkt und fühlt, immer mit sich allein zu sein. Ein neu geborener Mensch, den der Geist Gottes beseelt, der gewiß ist, daß Gott ihn in Ewigkeit nicht mehr allein läßt. Er hat sein Leben verloren um Christi Willen: er hat sich selbst im Kreuz Christi gesehen und die Liebe Gottes hat ihn aus der Todeseinsamkeit herausgerissen.

Es ist nicht mehr das Ich mit sich allein, das lebt. Die Gemeinschaft des ewigen Gottes mit dem Menschen, die lebt in ihm. Der Sinn von Himmel und Erde, der ewige Sinn, das ewige Ziel lebt in ihm. Dieser Sinn selbst führt dann den Weg. Dem Weg Christi nachfolgen und die Kraft und den Atem einsetzen. Ins Krankenhaus gehen und den Geruch des Todes aushalten. Sich Hineinversetzen. Aber nicht aus moralischer Verpflichtung, sondern frei, aus Liebe. Sie allein überwindet das Grauen und verwandelt das verzerrte Gesicht. Sie geht durch das Leiden hindurch in die Fülle.

Wer sein Leben für sich verliert, der wird’s erhalten: das gilt dann auch für jeden Tag: die eigene Zeit opfern und die beiden Alten pflegen. Oder Windeln wechseln und das Geld für Kinderkleidung ausgeben statt auf die Malediven zu fliegen. In den Abgrund eines Verzweifelten mit hinabsteigen. Den Sterbenden nicht alleine lassen. Aber wer so das Kreuz auf sich nimmt, wer dem Schmerz, dem Tod ins Auge schaut, der hat das Kreuz doch eigentlich schon hinter sich, das ist seine Freiheit. Er weiß, daß Gott hier zum Menschen gekommen ist. Er weiß, daß Gott den Menschen hier nicht alleine läßt, daß er uns hier in sein Leben holt. Sicher auch im Lachen, im Feiern, in der Wärme der Kinder, im Frieden unserer Gärten. Aber zuerst doch, wenn das Ich in allem Schwarz mit sich allein scheint. Hier ist Gott zum Menschen gekommen, und immer wieder will er hier kommen. Deswegen sind wir frei.

Wer das Leben, gefangen in sich selbst, verliert, weil Gott zu ihm gekommen ist, der gewinnt Teil am göttlichen Leben. Er lebt aus der Liebe Gottes, die alle Kreatur umfaßt, und auch ihn zum Nächsten schickt. Dieses Leben ist in der Zeit schon ewig geborgen, auch wenn der Tod und die Angst uns immer wieder befangen machen. Ich sage es mit Martin Luther: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe, und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe.“ Amen.

Priv.-Doz. Dr. Tom Kleffmann, Göttingen
tkleffm@gwdg.de




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