Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Septuagesimae, 16. Februar 2003
Predigt über Matthäus 20, 1-16a, verfaßt von Johann Stephan Lorenz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

„Wir … vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit“, so steht es im Buch Daniel. Es ist das Eingangswort des heutigen Sonntages mit dem lateinsichen Namen Septuagesimae. Das bedeutet eigentlich nichts anderes als, dass wir heute den 70. Tag vor Ostern haben.

Das ist ja wie ein Motto, wie eine Überschrift über diesen Tag. Und der Predigttext von heute, das Evangelium scheint dieses Motto wieder aufzunehmen. Erzählt wird die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg. Sie geht so:

Das Reich der Himmel ist gleich einem Hausherrn, der am frühen Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg zusuchen.
Nachdem er mit den Arbeitern um einen Euro den Tag übereingekommen war, schickte er sie in seinen Weinberg.
Als er etwa um 9 Uhr morgen noch einmal ausging, sah er andere Arbeiter auf dem Markte untätig herum stehen; zu diesen sprach er: Gehet auch ihr hin in den Weinberg, und was recht ist, werde ich euch geben. Und sie gingen hin. Noch einmal ging er um 12 Uhr und um 15 Uhr auf den Markt und tat das Gleiche.
Auch gegen 17 Uhr ging er los, fand wieder andere stehen und sagt zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig? Sie antworteten: Keiner hat uns Arbeit gegeben. Da sagte er: Gehet auch ihr in meinen Weinberg.
Als es aber Abend geworden war, so gegen 18 Uhr sagt der Mann zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter zusammen und zahle ihnen den Lohn. Fange bei den zuletzt Gekommen an.
So bekamen die, die um 17 Uhr angefangen hatten ihren Euro.
Als dass die, merkten, die zuerst gekommen waren, meinten sie, sie würden jetzt mehr Lohn bekommen; aber auch sie bekamen ihren Euro. Da wurden sie ärgerlich und sagten: Die zu letzt Gekommen sind, haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast ihnen das gleiche bezahlt wie uns, die wir den ganzen Tag in der Hitze geschuftet haben. Er antwortete: Liebe Freunde, ich tue euch nicht unrecht. Wir hatten uns doch auf einen Euro geeinigt ?
Nehmt ihn und geht. Ich will aber denen, die zuletzt gekommen sind das gleiche zahlen wie euch. Oder darf ich nicht mit meinem Geld tun, was ich will ? Seid ihr etwa ärgerlich, weil ich bramherzig bin ?

Schön erzählt – aber das Gefühl derer, die den ganzen Tag geschuftet haben, können wir gut verstehen. Unser Gefühl bleibt: hier sind Menschen ungerecht behandelt worden.

Nehmen eigentlich die anderen Texte, die wir heute gehört haben, diese Thematik wieder auf?

Der erste Text, den wir aus dem Jeremiabuch gehört haben scheint ja in eine ähnliche Kerbe zu hauen. Da mussten wir uns anhören:

So spricht Gott: Ein Intelligenter bilde sich nichts auf sein Wissen ein, ein Mächtiger nichts auf seine Macht, ein Reicher nichts auf seinen Reichtum. Wer auf etwas stolz sein will, der sei stolz darauf, dass er klug ist und weiß, dass ich Gott bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt; Das finde ich gut! (Jeremia 9,22-23)

Wollen die Texte heute unserem Gerechtigkeitsgefühl und Lebenserfahrung widersprechen ? Ist ihre Botschaft wirklich: Ihr Menschen bildet euch nichts ein! Bildet euch nichts ein auf euer Wissen, eure Macht , euer Geld und eure Arbeit! Wird all das, was manche und mancher von uns sich so hart im Leben erarbeitet, hier einfach vom Tisch gewischt ?

Ich denke, wahrscheinlich wie sie: Wissen hilft weiter, beruflich und privat, und wer viel weiß, soll darauf auch stolz sein. Gar keine Frage !!
Autorität, Einfluss und Macht vermögen manche Dinge in eine gewünschte Richtung zu lenken. Wer von uns genießt das nicht, mächtig zu sein und Einfluss nehmen zu können.
Und Geld haben, na klar doch ! Wohlstand erlaubt mehr Freizeit, mehr Besitz, mehr Lebensqualität. Geld würde so manche Depression spontan heilen.
Und wer würde es nicht gut finden, eine Arbeit zu haben und entsprechend gut bezahlt zu werden. Leistung muss sich doch lohnen !

Wovon reden denn dann diese Texte, wenn sie nicht völliger Blödsinn sind :

Vielleicht geht um das Gefühl Gerecht-Behandelt-zu werden. Vielleicht geht es um die Frage, inwieweit wir auf unsere Arbeit, auf unser Wissen unsere Macht stolz sein dürfen.

Das deutsche Wort "Stolz" bezeichnet ursprünglich etwas, das mich stark macht. Die Worte "Stelze" und "Stütze" gehören hierher.

Dann geht es also um Fragen, wie diese:

  • was macht uns im Leben wirklich stark, was macht uns mächtig ?
  • Was gibt unserem Leben die richtige Stütze ?
  • Wofür lohnt es sich im Leben wirklich hart zu arbeiten ?

Mir fiel beim Predigtschreiben jemand ein, der mir einmal in einer Beratung gesagt hat:

"Ach wissen Sie Herr Lorenz, ich glaube, ich könnte so klug sein wie Einstein, so reich wie Bill Gates und so mächtig wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, - und ich bin mir sicher, ich wäre immer noch nicht zufrieden.“

Der Mann hatte völlig recht, er würde sich weiterhin nicht sehr zufrieden fühlen. Denn seine Sehnsucht nach einem zufriedenen Lebensgefühl würde das Geld, die Macht und seine Arbeit nicht befriedigen. Er suchte nach etwas ganz anderem.

Ich denke, der Prophet Jeremia und das Evangelium von den Arbeitern im Weinberg machen uns auf unsere Sehnsucht nach einem Leben aufmerksam, das uns ausfüllt und wir als befriedigend erleben.

Auch die Epistellesung erzählt davon. Paulus schreibt in seinem Brief an die Korinther:

" Es ist doch im Leben wie in einem Wettlauf im Stadion: Alle laufen, aber nur einer kann gewinnen: Ihr müsst also laufen, damit ihr gewinnen könnt! Und jeder Wettkämpfer bereitet sich auf den Wettkampf vor, indem er Verzicht übt. - Und jetzt kommt das, was ich meine: -
Die Wettkämpfer im Stadion tun es für einen vergänglichen Preis, wir aber tun es für einen unvergänglichen Preis. Ich weiß, für welches Ziel ich laufe, ich schlage nicht ziellos in die Luft, ich hole gezielt aus....."

Die Sehnsucht, um die es geht, ist bei Paulus in dem Sprachbild des "unvergänglichen Preises" beschrieben. In der Sprache des Jeremiatextes wäre dieser unvergängliche Preis das, was uns unvergänglich und immer stark macht, das, was unser Leben stützt.

Ich will es jetzt mal so direkt sagen, wie es mir möglich ist:

Wir Menschen, auch wir Erwachsenen, können immer wieder und bleibend unser ganzes Leben hindurch, von Angstvorstellungen überfallen werden, dass wir ganz ohne Einfluss, ganz mickrig, ohne jede Fähigkeit und ziemlich verloren sind. Diese Vorstellungen rufen so unangenehme Gefühle wie die Scham hervor. Sie gehören zu den unangenehmsten und bedrohlichsten, die es für einen Menschen überhaupt geben kann. Die moderne Tiefenpsychologie hat herausgefunden, dass es dagegen eigentlich nur ein Mittel gibt: wenn ein Mensch es schafft, sich mit Werten zu identifizieren, die grundsätzlich sind, und wenn er eine Ausrichtung für sein Leben findet, die das eigene (kleine) Leben einschließt und überdauert, - dann wächst ein grundsätzliches Gefühl, dass das Dasein lebenswert ist, dann entsteht ein sicheres Selbstwertgefühl, nämlich das Gefühl: ich habe eine ganz unverwechselbare Stellung im Leben, ja im Kosmos, in der Geschichte - wenn es mich nicht gäbe: es würde jemand wichtiges fehlen. Ich brauche mich im Leben nicht zu schämen – auch wenn nicht alles Gold ist, was glänzt.

Ich habe den Eindruck, darum geht es heute: das ist die Botschaft der Texte, die wir heute gehört haben.

Wir Christen könne sagen: das finden wir bei Gott. Wenn wir bei IHM suchen, finden wir eine Ausrichtung für unser Leben, die unser eigenes Leben zugleich einschließt und überdauert, bei ihm finden wir Werte, die unser Leben lebenswert machen. ER ist unsere Stütze, unser Stolz. Oder mit den Worten des 31. Psalms(Tagespsalm):

„Auf dich Gott vertraue ich; du lässt mich nie beschämt werden, du errettest mich in deiner Gerechtigkeit. …Lass dein Angesicht leuchten über mir und errette mich durch deine Barmherzigkeit.“

Vielleicht wird jetzt auch das eigenartige Evangelium des heutigen Tages verständlicher. Die Entlohnung der Arbeiter ist nach menschlichem Ermessen ungerecht, weil bei ihr die Zeit nicht berücksichtigt wird, die einer geschuftet hat.

Es geht aber gar nicht um die Zeit, die einer gearbeitet hat, sondern einzig und allein darum, dass einer überhaupt im Weinberg arbeitet, sprich:
Dass wir von Gott gnädig angesehen werden und an Gottes Barmherzigkeit Anteil haben dürfen, - oder in der Sprache des Jeremia: Seine Gnade zu begreifen, seine Barmherzigkeit zu erfahren, das ist es, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Sein liebevoller Blick, der all unsere Scham- und Minderwertigkeitsgefühle gnädig aufhebt, verleiht unserem menschlichen Leben eine Perspektive, Kraft, Selbstbewußtsein und das Gefühl der Wichtigkeit. Dann wissen wir wofür wir uns anstrengen, und rudern nicht ziellos in der Luft herum. Gott ist unsere Stütze im Leben, sich von Gott liebevoll angeschaut zu wissen, macht unser Stolz.

Was macht uns also im Leben wirklich stark, was macht uns im Leben mächtig ? Was stützt uns ? Was erfüllt unsere Sehnsucht nach einem befriedigendem Leben ?

Seien wir ruhig stolz auf unser Wissen, seien wir ruhig stolz auf unsere Macht, seien wir ruhig stolz auf das, was wir uns erarbeitet haben, Befriedigt-Sein lässt uns aber allein, dass Gott uns – den vermeintlich Letzten und den vermeintlich Ersten gnädig anschaut. Wenn seine Liebe, die wir dann spüren, unsere Ausrichtung für unser Schafen in dieser Welt wird, wenn sein Wille und seine Barmherzigkeit zu einem Teil unserer Wertvorstellungen werden, dann wird unser begrenztes irdisches Leben ein Teil der ewigen göttlichen Existenz. Wir arbeiten in seinem Weinberg und werden einen unvergänglichen Preis bekommen. Und den verleihe Gott uns allen.

Gottes Heiliger Geist befestige diese Wort in euren Herzen, damit ihr das nicht nur gehört, sondern auch im Alltag erfahrt, auf daß euer Glaube zunehme und ihr endlich selig werdet, durch Jesum Christum unseren Herrn. Amen

Johann-Stephan Lorenz
johannstephanlorenz@t-online.de


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