Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Septuagesimae, 16. Februar 2003
Predigt über Matthäus 20, 1-16a, verfaßt von Gerlinde Feine
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Liebe Gemeinde –

der letzte Platz ist nicht der schlechteste. In meiner Schulzeit jedenfalls war er sehr begehrt – ganz hinten, im Rücken und Schutz der anderen, da gewährte er fast so etwas wie Privatsphäre im Klassenzimmer, man musste nicht ganz so eifrig wirken wie die in den vorderen Reihen und schon gar kein Leistungsträger sein. Sogar hier, in unserer Kirche, sind die hinteren Reihen stets ein wenig besser besetzt als die weiter vorne.

Früher, so habe ich mir sagen lassen, war das anders: Da wurde die Reihenfolge der Plätze festgelegt, richtete sich nach der Leistung, nach den Noten der zuletzt absolvierten Klassenarbeit, und wer Klassenprimus war, der saß auch auf der ersten Bank, ganz vorne, und musste sich abmühen, diesen Platz zu halten. Vorne – daran mögen sich die Älteren unter Ihnen vielleicht noch erinnern – da war immer etwas in Bewegung, da „ging“ noch was, konnte man sich durch gute Leistungen verbessern oder bei nachlassendem Eifer zurückfallen. Hinten blieb meist alles ruhig. Die von der letzten Bank blieben die Letzten, oft die ganze Schulzeit hindurch, und meist auch noch danach. Die hatten nichts und die wurden auch nichts mehr.

„Den Letzten beißen die Hunde“, das sagt nicht nur das Sprichwort, das können wir auch beobachten: Das schwächste Tier bleibt auf der Flucht zurück und wird leichte Beute für seine Verfolger; wer zu langsam oder zu ungeschickt ist, um die sichere Deckung zu erreichen, dem droht der Tod vor seiner Zeit. Nein, der letzte Platz ist kein sicherer Ort; Letzte oder Letzter zu sein, ist riskant.

Mit den Letzten im Gleichnis ist es nicht anders. Wir wissen nicht, warum sie so spät erst auf dem Markt auftauchen und um Arbeit bitten. Waren sie wirklich faul? Haben sie irgendwo herumgetrödelt? Vielleicht standen sie an der falschen Ecke, an einer unbelebten Stelle, und haben deshalb erst viel später mitbekommen, wo sie sich aufstellen mussten, um beschäftigt zu werden. Drei, sechs, neun, ja, elf Stunden weniger als die anderen arbeiten sie im Weinberg. Noch bevor sie richtig ins Schwitzen kommen, wird es dunkel und es geht an die Auszahlung des Lohnes.

Ob sie selbst damit gerechnet haben, so großzügig bezahlt zu werden? Wohl kaum. Das war damals nicht anders als heute, wo wir nur den Kopf schütteln können über einen Unternehmer, der sich so viel Profit entgehen läßt. Und wir suchen nach Erklärungen, die die Geschichte nicht hergibt: „Vielleicht war die Arbeit der Letzten ganz besonders anstrengend.“ – „Vielleicht sind besondere Umstände eingetreten.“ – „Vielleicht hing für den Weinbergsbesitzer unendlich viel davon ab, die Arbeit noch an diesem Tag zu beenden.“ Solche Gründe suchen wir dann, weil wir nicht damit zurechtkommen, daß einer so gütig ist, so verschwenderisch, so ohne jedes Maß. Solche Gründe suchen wir, weil wir gerne hätten, daß Gott berechenbar ist, den wir im Besitzer des Weinbergs erkennen, weil wir unsere Freiräume austesten möchten, wissen möchten, wie weit wir gehen können. Schon die Allerkleinsten versuchen das, indem sie die Geduld der Eltern auf die Probe stellen, die Kinder, die ihre Spielräume ausloten, die Jugendlichen, die nach ihren Grenzen suchen. Aber der Weinbergsbesitzer läßt sich nicht von uns festlegen: Es ist sein Weinberg und es ist sein Geld. Er hat Macht, zu tun, was er will, mit dem, was sein ist. Wenn er statt eines gerechten Lohns großzügige Geschenke verteilt – was geht’s uns an? Er lässt sich nichts vorrechnen, auch nicht von den Fleissigsten unter seinen Leuten.

Für die Jünger muß das eine bittere Einsicht gewesen sein, das können wir an dem Zusammenhang erkennen, in dem Matthäus dieses Gleichnis von Jesus erzählen läßt. Petrus, stets der Wortführer der Zwölf, hatte nach dem Lohn der Nachfolge gefragt: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns dafür gegeben?“ Und Jesus antwortet mit dem Hinweis auf das Weltende: „Wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, werdet ihr auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels.…Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben. Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.“ (Mt 19,27-30)

Da hören sie sie zum ersten Mal, diese merkwürdige Einschränkung, die so ganz gegen die Erfahrung geht, und die alle kränken muß, die von Anfang an dabei waren. Und die Bildsprache des Gleichnisses setzt die Kränkung fort, indem sie an Jesaja 5 erinnert: Dort steht der Weinberg Gottes für das Haus Israel, und die Früchte, die er tragen soll, heißen Recht und Gerechtigkeit. 12 Stämme – 12 Jünger: aus dieser Gleichung nährt sich das Selbstbewusstsein des engsten Kreises um Jesus. Aber als nach Ostern die Gemeinde wächst und das Evangelium weiter getragen wird, da kommen andere hinzu, Menschen aus anderen Völkern, Fremde, solche „von der letzten Bank“, die in den Augen des Gottesvolkes immer ganz hinten saßen, nichts hatten und nichts werden konnten. Sicher, auch ihre Mithilfe war willkommen. Aber werden sie dadurch auch „zu Miterben und Hausgenossen“? Aber ja! Gott gibt großzügigen Lohn, läßt die Treue der einen so viel gelten wie die Begeisterung der anderen. Er entzieht sich in seinem Handeln unserer Verfügbarkeit, ist im besten Sinn unberechenbar. Für die ersten HörerInnen des Gleichnisses eine sehr demütigende Erkenntnis, schwer zu akzeptieren und noch schwerer weiterzusagen.

Deshalb lesen wir in manchen Bibelausgaben noch einen Zusatz unter der Geschichte: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ Aus Mt 22,14 stammt dieses Wort, aus dem Gleichnis vom großen Festmahl. Diejenigen, die es unserer Geschichte anhängen, tun dies der guten Ordnung willen, für den Gedeih der Gemeinde. Wo käme man denn hin, wenn sich das herumspräche, daß der Lohn der Ersten gerade so groß sei wie der der Letzten? Wer würde sich da noch engagieren für andere? Wer würde eine Aufgabe übernehmen, ein Ehrenamt bekleiden, Jahre und Jahrzehnte treu dabei bleiben, wenn man es auch viel einfacher haben kann? Da geht es uns wie den Leuten damals, da möchten wir um der Arbeit im Weinberg willen schon ein wenig differenzieren, unser kleines „Aber“ dazusetzen.

Wir möchten es auch den Kindern einschärfen, die wir nachher taufen wollen – daß der Platz ganz hinten bei den Letzten eben kein guter Ort für sie ist, daß man dort nichts hat und nichts wird, im Gegenteil, daß es dort gefährlich für sie ist. Wir wünschen uns ja für sie, daß sie einmal erfolgreich und geachtet sein werden, es zu etwas bringen, sich für andere einsetzen, am besten in der Gemeinde. Schön wäre es, wenn sie, wie schon ihre Mütter, einmal Heimat finden würden in einer der Gruppen und Kreise oder in der Kantorei oder wo sonst sie in Gottes Weinberg gebraucht werden. Aber nur Gott weiß, wie sie mit seinem Geschenk umgehen werden und was es einmal für sie bedeuten wird, daß sie als Getaufte leben. Für uns bleibt das unverfügbar. Und wenn wir sie jetzt ansehen, so klein und schutzbedürftig, dann möchten wir auch gar nicht so recht daran denken, daß ihr Leben einmal ein Ende haben wird. Doch die Geschichte vom überaus großzügigen Weinbergbesitzer nährt unsere Hoffnung, daß Gott es mit ihnen gut machen wird. Wir vertrauen darauf, daß sie dabei sein werden, wenn er so reichlich beschenkt, daß man vom Lohn nicht mehr reden kann. Und wir staunen, weil auch für uns noch genug übrig bleibt zum Leben vor Gott.

Ein Silbergroschen, das ist gerade so viel, wie man zum Leben brauchte, seinerzeit. Den sollen alle haben. Das Leben sollen alle haben, ewiges Leben vor Gott, die Ersten gerade so wie die Letzten. Das Gleichnis kehrt die Verhältnisse nicht um, sondern es hebt die Unterschiede auf zwischen den Ersten und den Letzten, zwischen den Engagierten, Tüchtigen auf der einen Seite und denen, die kurz vor Toresschluß erst den Anschluß finden. Wer da mit Neid und Missgunst reagiert, muß sich hinten einreihen, weil er (oder sie) noch nicht verstanden hat, was uns in Gottes Ewigkeit erwartet.

Es müssen schon besondere Umstände sein, die den Gutsbesitzer immer wieder neue Arbeitskräfte in seinen Weinberg holen lassen. Wenn früher, als die Ernte noch von Hand eingebracht wurde, plötzlich das Wetter umschlug, ein Gewitter aufzog, beispielsweise, und alles zu vernichten drohte, da wurden auch in unserem Dorf alle mobilisiert, die einen Rechen oder eine Heugabel halten konnten. Selbst die kleinen Kinder, so wurde mir erzählt, mussten da mit helfen, auch wenn sie lange nicht so viel ausrichten konnten wie die Großen. Und wenn es mit vereinter Kraft gelungen war, die Ernte rechtzeitig unter Dach und Fach zu bekommen, dann versammelten sich alle, groß und klein, zum gemeinsamen Essen in der Stube, stolz auf das, was sie geleistet hatten. Der Hausvater persönlich übernahm es dann, die Wurst aufzuschneiden, die es zum Vesper gab. Scheibe für Scheibe teilte er auf, jeder und jedem genau so viel, wie er selbst für sich nahm. Auch die Kinder, die doch keine vollwertigen Arbeitskräfte waren und erst ganz am Schluß zum Helfen gerufen wurden, bekamen eine vollwertige Portion. Denn das Fest sollte für alle gleich schön sein, für die auf den vorderen Rängen ebenso wie für den, der den letzten Platz für sich gepachtet hatte. So manches Mal mag die Vorfreude auf das gemeinsame Feiern diejenigen beflügelt haben, die in der Mittagshitze arbeiten mussten. Und der gemeinsame Erfolg, die eingebrachte Ernte, die den Unterhalt aller sichern half, ließ es nicht zu, einander den jeweiligen Anteil daran vorzurechnen.

Ein großes Fest am Ende des Tages – ein Festmahl für alle am Ende des Lebens in Gottes großem Saal: Dieses Bild, von Jesus immer wieder gebraucht für das kommende Gottesreich, beschreibt den „Lohn“ der Arbeit in Gottes Weinberg. Dort ist reichlich gedeckt für alle. Und der, der uns einlädt, gibt uns nicht weniger, als er selbst hat. Der letzte Platz an dieser Tafel wird nicht der schlechteste sein. Amen.

Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
D-72131 Ofterdingen
Tel. 07473 – 6334
e-mail: gerlinde.feine@cityinfonetz.de


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