Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Septuagesimae, 16. Februar 2003
Predigt über Matthäus 20, 1-16a, verfaßt von Andreas Pawlas
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"Das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein."


Liebe Gemeinde!

Immer wenn ich dieses Gleichnis höre, muss ich an eine Frau denken, die sich in einer Gottesdienst-Vorbereitungsgruppe regelmäßig intensiv engagierte. Sie hatte sich darum auch mit diesem Bibeltext sorgfältig und sehr persönlich auseinandergesetzt. Aber plötzlich und vollkommen unvermutet bekam ich von Ihr eine Absage. Nein, sie könne da nicht mehr mitmachen.

Wer hätte da nicht sofort nach Gründen gefragt? Nein, da musste ich doch wissen, was los war. Hatte ich sie vielleicht beleidigt, ohne es zu merken? Fast fingen schon Schuldgefühle an zu rumoren. Sie ahnte so etwas wahrscheinlich, weshalb sie mir antwortete, bevor ich die Frage aussprechen konnte: „Nein, nein, ich kann da nicht mehr mitmachen, weil dieses Gleichnis und sein Thema so unerträglich eng mit meinem eigenen Lebensthema zusammenhängt“.

Ich muss dann wohl nicht sehr intelligent geguckt haben. Und das hing damit zusammen, dass ich ziemlich genau wusste, dass sie noch nie in ihrem Leben in einem Weinberg gearbeitet hatte. Und dass sie auch bestimmt noch nie eine Tagelöhnerin war. Offensichtlich sah sie mein Unverständnis, weshalb sie gleich begann, mir zu erzählen, wie es ihr da auf der letzten Sitzung der Vorbereitungsgruppe, an der ich nicht hatte teilnehmen können, in der Begegnung mit diesem Gleichnis ergangen war.

In dieser Gruppe hätte man nämlich das Gleichnis, um es besser verstehen zu können, einmal ganz bildhaft nachgespielt. Dabei hatte man ein Stuhlkreis gebildet. Der sollte nun der Weinberg sein. Und der Leiter der Vorbereitungsgruppe hatte dann drei oder vier gebeten hervorzutreten, so auch sie. Und diese drei oder vier, die bekamen dann einen wirklich schweren Stein in Arm und sollten dann langsam eine beschwerliche Runde nach der anderen innerhalb des Stuhlkreises drehen - eben mit diesem schweren Stein. Und das taten sie ja auch. Nach einer Weile wurden dann weitere aus Gruppe hinzugebeten und dann noch weitere. Die letzten aber bekamen nur ganz kurz den gewichtigen Stein in Hand, ehe das Gleichnis zu Ende gespielt war und es zum wohlverdienten Abendbrot ging. Aber bereits als die letzten der Gruppe in den Kreis gebeten wurden - so erzählte mir die Frau -, da hätte es in ihr merklich zu kochen und zu brodeln begonnen. Und da hätte sie am liebsten ihren schweren Stein weggeworfen und wäre nach Hause gelaufen. Denn mit einem Male hätte bei ihr die Erkenntnis wie ein Blitz eingeschlagen: Genau so wie jetzt hier, so war es in ihrem Leben überhaupt: Denn sie war es doch immer, die die Mühen und Lasten zutragen hatte, während die anderen es einfach hatten. Denn was hatte sie in der Schule strampeln müssen und trotzdem standen am Ende doch nur immer mittelmäßige Noten. Und im Beruf war es doch dann genauso mühselig und belastend: Zuerst ihr mühsames Pädagogik-Studium, das ihr nicht viel Freude macht und sie soviel Schweiß kostete und dann bekam sie nach dieser Quälerei erst nach langen Jahren des Wartens eine Stelle.

Und was das Privatleben anbelangte: Von Ehe war ganz zu schweigen: denn ihr Mann war viel unterwegs, sie musste viel allein bleiben, sie musste alles allein tragen. Wie das mit Kindern war? So sehr hatte sie sich ein Kind gewünscht und so lange wurde er nicht erfüllt, Dann hatte sie unter viel Mühen ein Kind adoptiert. Aber dann bekam sie doch ein eigenes Kind. Wie viel Schwierigkeiten hatte sie seitdem mit dem Adoptivkind. Und das war dann ihre Last allein.

Nein, sie war immer und immer diejenige, die die Mühe und Last des Lebens zu tragen hatte. Anderen dagegen - das war ja überall zu sehen -, ja, denen ging es gut, die hatten gut lachen, die konnten leicht und fröhlich leben. Das war ihr nun schlagartig klar geworden unter diesem Bibelwort von Arbeitern im Weinberg. Wie sollte sie deshalb da noch mitmachen können, und ein solches Gotteswort als gut und richtig für ihr Leben zu akzeptieren? Nein, niemals! Und wie sollte sie auch hinnehmen können, dass das Himmelreich genau so sein sollte, wie in diesem Gleichnis, nein, das konnte und wollte sie nicht! Deshalb habe sie da heraus müssen und weg von diesem mühsalbeladenen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.

Liebe Gemeinde, so war das damals mit dieser Frau. Ein Einzelfall? Oder würden vielleicht auch manche unter uns genauso empfinden wie diese Frau? Haben nicht so manche unter uns ähnliche oder so gar noch viel beschwerlichere Lebensgeschichten als diese Frau? Würden darum nicht vielleicht auch manche unter uns jetzt auch lieber weghören und damit lieber diesem Gleichnis Jesu ausweichen? Denn so kann das doch einfach nicht mit dem Himmelreich sein, das uns Jesus Christus verkündigt. Diese Botschaft soll doch eine frohe, befreiende und erleichternde Botschaft für uns sein und nicht irgend etwas willkürlich Ungerechtes das unsere Leidensgeschichten und Lebensqualen nicht wahr nimmt und nicht würdigt.

Achtung! Bitte nicht zu schnell weghören oder ausweichen! Lassen Sie uns stattdessen doch einmal mit einem Perspektivenwechsel versuchen. Denn wie wäre das eigentlich, wenn gar nicht wir das wären, die zuerst mit unserer Lebensarbeit in den Weinberg gerufen sind? Und lassen Sie uns doch einmal nachempfinden, wie sich der fühlen müsste, der eher zu der Gruppe der zuletzt gerufenen gehörte. Da müsste doch freudige Überraschung sein und tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Herrn des Weinbergs und seiner Großzügigkeit. Und stellen wir uns doch jetzt einmal vor, was für Menschen Jesus Christus dieses Gleichnis zuerst erzählte. Das waren doch alle Angehörige des Alten Gottesvolkes, genau jenes Volkes, das vierzig Jahre auf Gottes Geheiß durch die Wüste gewandert war, das Hitze und Strapazen ertragen hatte, das Versuchungen und Todesgefahr ausgeliefert war.

Könnten wir etwa jetzt schon dieses Gleichnis so hören, dass keinesfalls wir die ersten im Weinberg des Herren gewesen sind, sondern eben diese Israeliten, die unverlierbar durch Geburt aus diesem alten Gottesvolk stammen und durch die Beschneidung zu erkennen sind? Und das kann doch keiner bestreiten, dass wir mit der ersten Erwählung Gottes wir nichts zu tun hatten. Vielmehr irrten diese Völkerschaften, denen wir hier im Norden Deutschlands entstammten, damals blind und taub für den lebendigen Gott in der Welt umher und hängten ihr Herz derart an irgendwelche Baumgötzen und Wettergötter, dass es einem heutzutage fast peinlich sein muss.

Nein, alle Mühen und Lasten, die in tausendjähriger Geschichte das Alte Gottesvolk zu tragen hatte, die sind nicht unsere Lasten. Neu und unvermutet wurden wir in der Geschichte unseres Volkes und in unserer eigenen Lebensgeschichte und unserer eigenen Lebensarbeit, in den Kreis göttlicher Verheißungen hineingezogen und sind völlig überraschend mit der Zusage von lebendigem Trost, Stärkung und ewigem Leben ausgerüstet.

Wodurch? Doch allein durch Jesus Christus! Denn wer allein ihm glaubt, dem wird seine Lebenslast leicht.

Aber was ist das für ein Satz. denn wie sollte das denn gehen können? Kilo bleibt doch Kilo und Zentner bleiben doch Zentner! Genauso wie Schuld Schuld bleibt und Versagen Versagen. Oder ist das alles ganz anders, selbst in den Bereichen unserer Welt, wo alles gemessen, gezählt und gewogen wird? Denn schwere Steine an sich sind doch für uns Menschen im Prinzip überhaupt nichts Bedrohliches. Schweres und Gewichtiges gibt es nun einmal in unserem Leben. Schwere Steine, schwere Kugeln, werden von Leichtathleten doch sogar weit geschleudert oder gestoßen. Und warum? Weil sie Lust dazu haben! Eben weil dazu bei ihnen genügend Motivation und Wille vorhanden ist. Das Entscheidende ist also nicht alle körperliche Kraft, sondern alles seelische Vermögen. Seit Boris Becker muss man ja sagen „Das Mentale“. Insofern ist das Entscheidende an schweren Steinen doch gar nicht ihr Gewicht, sondern ob sie uns auf dem Herzen liegen und uns damit die Luft abquetschen. Es kommt also entscheidend bei allem, was uns im Leben begegnet, darauf an, aus welcher Perspektive wir es begreifen und verstehen und aus welchen Quellen unsere Seele dann Kraft zieht, es zu tragen.

Darum noch einmal zurück zu unserem Gleichnis: Es wäre doch eine vollkommen andere Perspektive, wenn wir es annehmen könnten, dass wir hier alle zu der Gruppe der zuletzt vom Herrn des Weinbergs gerufenen, also dass wir hier alle zu der Gruppe der zuletzt von Gott gerufenen gehörten. Das, was an Wunderbarem, an Erfüllung und unsagbarer Freude Menschen von Gott in seinem Reich zugesagt ist, das steht uns unmittelbar bevor. Dazu müssen wir uns nicht erst generationenlang durch die Wüsten unserer Lebensarbeit hungern und dürsten! Sondern all das, was Himmel und Erde an Wunderbarem, Stärkenden und Tröstenden bieten kann, begegnet uns doch direkt in Jesus Christus! Und da muss doch einfach unsere Wirklichkeit vollkommen anders werden, wenn wir erkennen könnten, dass es nicht die Stunden, Tage und Jahre sind, in den wir uns mühen und quälen, die uns zu Glück und Lebenserfüllung bringen, sondern allein unser Glauben an diesen Jesus Christus.

Aber wenn man das wirklich verspüren kann, dass so in diesen Jesus Christus alles Wunderbare, alle Erfüllung und Freude beginnt, dass also das Himmelreich so gleich hier und jetzt bei uns anbrechen will, müsste es uns dann nicht fast umreißen vor Gefühlen der Dankbarkeit? Müssten dann nicht unsere Willens- und Antriebskräfte richtig gestärkt und gekräftigt sein auch für schwerste Steine, für die stärksten Lasten für die Seele? Und würden dann nicht sogar auch noch genügend Kräfte da sein, um anderen beim Tragen ihrer schweren Steine, beim Tragen ihrer Seelenlasten zu helfen? Und wer dann zusammen trägt, wer dann zusammen arbeitet, der kann dann vielleicht auch zusammen singen, aber auf jeden Fall sich dann auch zusammen freuen und gemeinsam Gott danken, dass er sich als letzten uns zugewandt hat, um uns durch Jesus Christus ein erfülltes und frohes Leben zu schenken, jetzt und in Ewigkeit. Amen.

Pastor Dr. Andreas Pawlas
Ev.-luth. Kirchengemeinde Barmstedt
Erlenweg 2
25365 Kl. Offenseth-Sparrieshoop
Andreas.Pawlas@t-online.de


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