Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Epiphanias, 6. Januar 2003
Predigt über Matthäus 2, 1-12, verfaßt von Walter Meyer-Roscher
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Predigttext:
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: "Wo ist der neugeborene Könige der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten."
Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: "In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten: 'Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird mir kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.'"
Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: "Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete." Als sie nun den König gehört hatte, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land.

Liebe Gemeinde,

"Bist du nicht müde der vielen funkelnden Sonnen?", fragt die Dichterin Marie-Luise Kaschnitz. Ihre Frage rührt an Ängste und Hoffnungen, an Herausforderungen und Niederlagen, die uns auch im neuen Jahr in Atem halten werden. Der strahlende Glanz der Macht, die helle Sonne des Erfolges, das unsere Augen geradezu magisch anziehende Licht des technischen Fortschritts, die Leuchtkraft materieller Sicherheit - so viele funkelnde Sonnen, die immer neue Wünsche in uns wecken und gleichzeitig die Angst wach halten, schon Erreichtes wieder zu verlieren. Sie locken uns auf einen Weg, auf dem ausschließlich Erfolg, Anerkennung und Festhalten dessen, was wir haben, zählen.

Dass nur niemand uns überholt - ebenso magisch angezogen durch die Strahlen dieser vielen Sonnen! Dass nur niemand uns in den Schatten stellt!

"Bist du nicht müde der vielen funkelnden Sonnen?" Bist du nicht müde dieses atemlosen Vorwärtsdrängens, dieses blinden Vertrauens auf Macht, die unsere Sicherheit garantiert, auf Fortschritt, der unser Leben leichter und lebenswerter machen soll und der doch auch seine bedrohlichen Schattenseiten hat? Bist du nicht müde der Niederlagen, die im härter werdenden Konkurrenzkampf unvermeidlich sind? Lässt du dich nicht blenden und verlierst die aus dem Blick, die immer noch oder schon wieder im Dunkeln leben müssen?

Die alte Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland redet von einem Stern, dessen Licht nicht blendet und doch den Weg weist. Sie redet von der Sehnsucht nach Lebenssinn und Heil, nach einem von Gott Beauftragten, der diese Sehnsucht erfüllen kann.

Im Laufe unserer Kirchen- und Kulturgeschichte ist diese Erzählung weiter ausgestaltet, gewissermaßen angereichert und legendenhaft ausgemalt worden. Aus den Weisen, die den Lauf der Sterne beobachteten und deuteten, wurden die "Heiligen drei Könige" mit ihrem prächtigen Gefolge und mit ihrer Macht, mit den Reliquien, die bis heute bestaunt und verehrt werden, mit dem Glanz, der die Mächtigen umgibt.

Die alte Geschichte weiß nur von weisen Männern, Sterndeutern, die im fernen Orient plötzlich einen neuen Stern entdecken, der sie aus ihrem alltäglichen Leben fortlockt und sie aufbrechen lässt auf einen langen, gefahrvollen Weg, dem sie folgen wollen: Menschen, die nach Lebenssinn fragen und nach Lebenserfüllung suchen. Der neue Stern wird zum Leitstern, zur Orientierung bei ihrer Suche nach dem Ziel.

Das Ziel müsste ein neuer Herrscher über Denken und Tun, Wollen und Vollbringen der Menschen sein, denken sie. Ein neuer König, ein Befreier aus alten Abhängigkeiten, ein Heilbringer.

Wo sollte er zu finden sein, wenn nicht im Umkreis der Macht und der Mächtigen? Darum sehen sie sich in Jerusalem, in der Nähe des Königs Herodes, am Ziel ihrer Reise, ihrer Wünsche und ihrer Sehnsucht.

Aber Herodes ist kein Heilbringer. Er bringt Gewalt und Tod. Er kennt nur Strategie und Taktik der Macht. Das aber ist nichts Neues für die, die nach Sinn fragen, nach Befreiung und Heil suchen.

Neuer Aufbruch ist nötig. Der Leitstern wandert weiter, und ein Wort aus den alten Verheißungen Gottes begleitet die, die wieder ihren Weg suchen müssen. Das hat der Prophet als Gottes Wort weitergegeben: Aus Bethlehem, einer unbedeutenden Provinzstadt und nicht aus Jerusalem, dem Zentrum der Macht, der glanzvollen Stätte religiösen Lebens, soll der kommen, der in Gottes Auftrag den Menschen Orientierung geben, ihr Denken und ihr Handeln auf ein gottgegebenes und gottgewolltes Ziel hin ausrichten wird.

Die Weisen aus dem Morgenland müssen umdenken. Aber der Stern begleitet sie. Sie können sich nicht gänzlich verirren, verrennen, täuschen lassen.

Am Ende ihres Weges und ihrer Suche, am Ende ihrer Fragen, ihrer Zweifel, ihrer Sehnsucht finden sie ein Kind. Ein Kind, das müssen sie an der Krippe des Stalls von Bethlehem begreifen, soll Antwort geben, neue Hoffnung wecken und neues Leben ermöglichen.

Ist es eigentlich so unvorstellbar, dass sich an einem Kind neue Hoffnung entzündet und dass an einem Kind neue Hoffnung sichtbar wird. Da wird doch zunächst die Erinnerung an die eigene Kindheit angesprochen und vor allem an die vielen lockenden und herausfordernden Lebensmöglichkeiten. Noch ist das Leben nicht festgelegt, noch sind die Wege in die Zukunft nicht verbaut, noch gibt es keine belastende Vergangenheit, die man mitschleppen muss. In der Geburt eines Kindes ist ja auch die Sehnsucht aufbewahrt, noch einmal neu anfangen zu können, so wie in diesem Kind das Leben hoffnungsvoll beginnt. Ja, wenn es noch einmal die Chance eines neuen Anfangs gäbe!
Die Weisen mögen es im Licht des Sterns als ihre Hoffnung aussprechen. Auch viele von uns sind sicher offen für das Wunder eines neuen Anfangs.

Für ein Kind ist das Leben noch eine selbstverständliche Einheit. Es hat noch eine Mitte, die Geborgenheit gibt. Noch bricht nichts auseinander in die vielen Lebenswelten, die alle ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Dynamik haben, die uns auseinander zu reißen drohen, uns unsicher macht und uns die Orientierung erschweren.

Ja, wenn wir wieder unsere eigene Mitte finden und aus ihr leben könnten! Wenn wir wieder Sicherheit gewinnen könnten und neue Orientierung möglich wäre!

Ein Kind kann auch noch von ganzem Herzen "Danke" sagen. Wir Erwachsenen haben lernen müssen, möglichst alles uns selbst zu verdanken, den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Können. Unsere Gesellschaft zwingt uns ja zu glauben, Leben hieße, alles im Griff zu haben. Aber wir wissen doch, wie oft wir da versagen. Ja, wenn wir wieder lernen könnten, dass unser Leben ein Geschenk Gottes ist und dass wir das Entscheidende im Leben - Liebe, Geborgenheit, Nähe und Wärme - nicht selbst schaffen können. Sinn des Lebens, Lebenserfüllung - wir erfahren es durch andere und wir verdanken es Gott. Dies zu akzeptieren ist keine Schande, sondern eine große Entlastung.

In unserer durch Gewalt und Brutalität gefährdeten Welt ist ein Kind die personifizierte Hoffnung auf Menschenwürde und auf Frieden. Und der Umgang mit einem Kind ist wie eine Verlockung, den Panzer unserer Abgrenzungs- und Verteidigungsinstinkte abzulegen. Wer sich auf das Leben eines Kindes wirklich einlässt, bekommt eine Ahnung davon, dass Wehrlosigkeit nicht notwendigerweise Schutzlosigkeit bedeutet, sondern in einem tiefen und guten Sinn "entwaffnend" sein kann.

Alle diese Hoffnungen und Einsichten sind in dem Kind von Bethlehem, zu dem die Weisen gefunden haben und vor dem sie niederknien, erfüllt. Ein einzigartiges Kind, ein besonderer Mensch, weil sich in seinem Leben und dann später in seinem Leiden und Sterben Gottes Willen für die Menschen, Gottes Geschichte mit uns zeigt. In einem zeitgenössischen Gedicht ist das so ausgedrückt:

Geboren unter den Machthabern der Zeit.
Erfasst von den Maßnahmen der Verwaltung.
Preisgegeben an die Verhältnisse der Welt.
Ein Mensch unter Menschen.
Der Mensch unter Menschen.
Unter den Gottlosen Bewährer Gottes.
Unter den Friedlosen Helfer zum Frieden.
Unter den Heillosen Bringer des Heils. Amen

Walter Meyer-Roscher, Landessuperintenden i.R.
meyro-hi@t-online.de


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