Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Neujahr, 1. Januar 2003
Predigt über Lukas 2, 21, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Hier am ersten Tage des neuen Jahres liegt etwas Ungebrauchtes und Neues vor uns. Verheißungsvoll, aber auch erschreckend, weil es unbekannt ist. Wie wird es uns begegnen? Wie wird seine Überschrift sein, sein Name? Heute nun hören wir von dem Kinde, das einen Namen erhielt, einen ganz besonderen Namen, auch wenn er allgemein gebräuchlich ist, vor allem, weil er durch einen Engel vermittelt wurde. Dadurch wurde eine Richtung und eine Bestimmung für das Leben des Kindes angegeben - es wurde zu einer Person.

Wir müssen uns auch Namen geben und Namen erhalten, um uns zu orientieren. Und so wahr wir im Bilde Gottes geschaffen sind, haben wir sowohl die Macht als auch das Recht, Namen zu geben. Die Welt mit ihren Phänomenen: Menschen und Dinge, erhalten eine Seele, wenn wir ihnen Namen geben. Sie erhalten Form und Kontur, wenn wir sie ansprechen mit einer Bezeichnung. Wenn wir Namen geben, setzen wir uns in Verbindung mit den Ereignissen und Menschen, die uns begegnen. Ob wir nun etwas in das Licht der Aufmerksamkeit ziehen und es positiv nennen - oder ob wir etwas als so böse bezeichnen, daß man es gefangen halten oder bekämpfen muß, so bedeutet, etwas einen Namen geben, Teilhabe an der Welt, in der wir leben sollen.

"Unsere Welt wird unsere Welt, entsteht für uns - und erst dann - indem wir das auslegen und benennen, was wir finden. Erst dann finden wir richtig. Das ist unsere Aufgabe, seit wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben" (Lars Gyllensten).

Wenn wir Namen geben, schaffen wir ein Bild - und ein Bild kann - wie das Wort - das schaffen, was es abbildet. Der Name birgt produktive Kräfte, zu schaffen und zu gestalten. Etwas benennen bedeutet, etwas Verborgenes oder Unerprobtes ans Licht bringen. Deshalb bedeutet es eine gewaltige Öffnung, etwas beim Namen zu nennen oder zu benennen. Was uns begegnet, wird ins Licht gerückt und wirklich für uns.

Aber das Benennen hat auch eine Kehrseite. Was wir benennen, wahr nennen, wollen wir auch beherrschen, uns untertan machen, fixieren - dann wird das, was wahr war, zur Lüge. Ein konkreter Name fixiert - macht ein bestimmtes Bild und keine anderen. Wenn wir einen Namen gebrauchen, gehört der Mißbrauch des Namens fast unweigerlich dazu. Indem wir ein Phänomen ans Licht bringen und ihm einen Namen geben, versuchen wir, das Geheimnis des Phänomens zu erforschen. Es gibt aber Namen, die für dieses Geheimnis zu klein sind, oder Namen, die einen geheimnisvollen Rest hinter dem Namen nicht anerkennen. Und dann wird der Name eine Einengung der Wirklichkeit, ein Mißbrauch, eine Falle.

Genauso ging es auch mit dem Namen Jesus, den das Kind auf Weisung des Engels erhielt. Als das Kind in seinen Namen hineinwuchs, öffnete er den Himmel auf Erden für die Menschen der Erde. Aber für uns, die den Namen gebrauchen, ist der Name Jesu zu einem Band geworden, das verbindet - aber auch eine Barriere, die ausschließt. Ein Ausschließen, das teils am Mißbrauch des Namens in Vergangenheit und Gegenwart liegt - viele Übergriffe gegen Menschen und andere Kulturen haben in diesem Namen stattgefunden - teils liegt es an der Wirklichkeit selbst, auf die der Name verweist.

Jesus bedeutet: Gott hilft, aber die Art und Weise, in der Gott hilft, durch das Erscheinen eines gewöhnlichen Menschenlebens in einer fernen Provinz, und von innen, durch das Herz und nicht durch äußere Pracht und die Kraft schlagender Überzeugung - das ist eine Hilfe, die man als anstößig und als eine zu große Herausforderung empfinden kann. Sie fordert Nähe und Entscheidung.

Die Zweideutigkeit des Namens Jesu läßt sich nicht entfernen - wie auch die Zweideutigkeit der Erwartungen an das neue Jahr sich nicht entfernen läßt. Sicher ist nur dies: Wir müssen hineingehen. Wir müssen eintreten in das Jahr 2003. Es ist nicht möglich, im Jahr 2002 zurückzubleiben oder einen Ort zu finden, an dem das Rad der Zeit nicht läuft. Und wenn wir in das Jahr 2003 hineingegangen sind, dann begegnet uns in der Kirche das Vorzeichen des Jahres: der Name Jesus. Der Name, der all unseren Mißbrauch überlebt hat.

Ich glaube, daß viel Mißbrauch daran liegt, daß wir das Wesen des Namens mißverstehen. Denn dieser Name ist weder eine Beschreibung noch eine magische Zauberformel, sondern eine Verheißung. Der Name ist nicht das Sein Gottes, sondern eine Anrufung dieses Wesens, das Hervorrufen einer göttlichen Wirklichkeit. Zur Öffnung unseres Herzens. Denn wenn wir diesen Namen als Tür benutzen - in Gebeten, in Klagen, als Seufzer oder als Ort der Dankbarkeit - indem wir den Namen mit uns tragen - in Freude und in Nöten - dann kann das Wunder geschehen, daß uns damit eine neue Sicht auf uns selbst und unsere Welt zuteil wird, eine Sicht, die durchblickt. Durch Zweideutigkeit und Gespaltenheit hindurch können wir die Geheimnisse Gottes sehen, erblicken wir die Namen, die die Welt bei Gott hat. Deinen eigenen Namen und die Namen deiner Umwelt. Einblick in die Namen zu erhalten, die Menschen und Dinge bei Gott haben, das verwandelt sie vor unseren Augen. Das Schmerzliche wird nicht weniger schmerzlich - vielleicht sogar mehr. Irritierende Menschen oder böse handelnde Menschen werden deutlich in all ihrem Tod und ihrer Zerstörung - aber wir sehen mehr als das: Durch den Schmerz hindurch sehen wir eine unverlierbare Hoffnung. Und hinter den Gesichtern toter oder destruktiver Menschen sehen wir einen Jesus, der gefangen ist.

Indem wir den Namen Jesu mit uns tragen und ihn dort erkennen, wo Tod und Zerstörung uns den Weg versperren, wird die Wirklichkeit zu dem verwandelt, was sie ist: die Wirklichkeit Gottes.

Den Namen Jesu in das neue Jahr hineintragen wird ein Gebet, ein Wundern, ein Klagen - vielleicht mit einem Gebet. Ein Gebet, das alles umfaßt. Auch den Mangel, der schuld ist an der Zersplitterung und der Zerstörung. Mangel an Teilnahme, der zu einer Einsamkeit in meinem Körper wird, Mangel an der Fähigkeit, das Leben eines anderen Menschen voll in mein Leben zu integrieren.

Indem wir den Namen Jesu mit uns tragen, erhält selbst dieser Mangel den Namen Gottes und nicht meinen Namen. Und ich erhalte Anteil an dem Namen, den ich bei Gott habe. Einer, der im Namen Jesu eintritt, sagt das so: "Gib mir meinen Geliebten, meine Kinder, meinen Glauben und meinen Unglauben, mein tägliches Brot und meine Schuld und meine Feinde, und setze deinen Namen auf all dies statt meines Namens. Und komm (dann) zu mir mit allem, was du hast" (Mogens Lindhardt).

Wir verfehlen Zukunft wie Gegenwart - heute geht der Blick weit in das Jahr 2003 hinein -, wenn wir versuchen, die Zweideutigkeit des Daseins und ihre Namen aufzuheben - ehe wir uns daran machen, zu leben.

Wir wissen nicht, ob das Chaos und der Zynismus, die wir als etwas sehr Bestimmendes in der Welt zur Zeit sehen, als Geburtswehen einer neuen offeneren Welt zu deuten sind - oder ob die Zusammenbrüche Anzeichen sind für etwas, was noch schlimmer ist. Was wir aber tun können und sollen, ist dies, daß wir im Namen Jesu Ordnung und Liebe herbeirufen. Gott wurde Mensch, Fleisch und Blut und Name, um die Welt von innen zu spüren.

Und so wie dies die Geheimnisse der Erde öffnete, bedeutete sein Leben, daß die Geheimnisse des Himmels für uns offenbart wurden.

Wenn wir den Namen Jesu in unsren Atem einschreiben, werden wir mit der Kraft vereint, die die Welt bewegt und spielt im Angesicht Gottes.

Wir können diesen Namen schmecken, ihn probieren, ihn anrufen, in ihm rufen - oder von ihm umarmt werden (Nach Leonard Cohen, Book og Mercy, Nr. 47, 1987):

"Meine Seele findet satt in deinem Namen, und meine Seele findet Ruhe, indem sie von deinem Namen umarmt wird.
Ich kämpfte mit Schatten und Gestalten, und ich erntete mit der Sense und zermarterte mein Gehirn, um mich an einer Stelle zu finden, aber ich konnte keine Ruhe finden in meiner Seele.
Gelobt sei Dein Name, der der Grund meiner Seele ist,
Rückrat und Schild meines inneren Menschen, Freiheit meines Atems.
Ich suche das Wort, das zu deiner Gnade paßt.
Du reißt mich aus der Destruktion und gibst mich mir selbst zurück.
Du trennst mich vom Unwirklichen durch die Macht deines Namens.
Gelobt sei der Name, der Fragen vereint und Suchen in Lobpreis verwandelt.
Aus den panischen, nutzlosen Plänen erwache ich zu deinem Namen, und alle deine Geschöpfe reden nackt und allein, und in deiner unzugänglichen Absicht fallen alle Dinge voll von Anmut.
Gelobt sei die Zuflucht meiner Seele, gelobt sei die Form der Gnade, gelobt sei dein Name".

Amen.

Pfarrer Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk


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