Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Weihnachten, 29. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 25-38, verfaßt von Martin Jochheim
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde,

was sehen wir zuerst an anderen Menschen? Ihre äußere Gestalt, ihre Schönheit, ihre Ausstrahlung? Es sind wohl die sinnlich wahrnehmbaren Dinge an einem Menschen, die uns zuerst Eindruck machen und für einen Menschen einnehmen. Selbst bei einem Säugling ist das so. Wir sehen seine Schönheit und Zartheit. Wir spüren das neue Leben, seine Verletzlichkeit, aber auch die Offenheit dieses Lebens, das nicht Festgelegte.

Simeon und Hanna ging es sicherlich nicht anders als uns, als sie im Tempel Maria und Josef begegneten, die das dreißig Tage alte Kind auf den Armen trugen.. Und doch sehen die beiden noch einmal etwas ganz Anderes, etwas, das nicht vor Augen ist. Unter dem Einfluss des Geistes öffnen sich ihre Augen für eine Wirklichkeit, die jenseits dessen liegt, was jedermann offensichtlich ist. Sicherlich, alle freuen sich ein kleines Kind zu sehen, das so wunderschön anzuschauen ist, lebendig, anrührend.

Aber Simeon redet von anderen Dingen : "Heiland", "bereitet vor allen Völkern", "Licht, das die Heiden erleuchtet". Da schaut einer Visionäres aus einer Tiefendimension der Wirklichkeit heraus, das nicht nur die Eltern des kleinen Kindes verwundert. In Simeon und Hanna sehen zwei alte, fromme Menschen mehr und anderes, als es der wohlwollende Blick des Zuschauers erspähen kann. Geleitet vom Geist der Prophetie öffnet sich ihnen ein Raum, der die Dimension ihres Lebens sprengt - und auch unseres Lebens. Dass in diesem kleinen Kind der Heiland der Welt zur Welt gekommen ist, das liegt nicht offen zu Tage. Solche Einsicht eröffnet sich nur dem prophetisch begabten Blick.

Und ahnungsweise wird laut, dass sich an diesem Heiland die Geister scheiden werden. Zum Zeichen soll dieser Jesus werden; zum Zeichen, dem widersprochen wird; gesetzt zum Fall und Aufstehen für viele in Israel. In die Weihnachtsfreude mischen sich sogleich dunkle Töne. Ahnungen davon, dass sich in der Haltung zu diesem Jesus einmal unser aller Wohl und Wehe entscheiden wird. Und davon wird auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn nicht unberührt bleiben - egal ob wir hier an die Entfremdung zwischen den beiden angesichts der Abwendung Jesu von seiner Familie denken oder an den Schmerz Marias zu Füßen des gekreuzigten Sohnes. Wer aufmerksam hinhört, wird schon in der Weihnachtsfreude die Molltöne späterer Konflikte hören.

Es ist auffallend, dass sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus, der uns vom Kindermord in Bethlehem erzählt, von Anfang an sichtbar wird, dass sich an diesem Menschen die Geister scheiden. Es scheint so zu sein, dass man an dem Anspruch, der von diesem Jesus von Nazareth ausgeht, nicht vorbeigehen kann, ohne selbst Stellung zu beziehen. Das war doch unsere Eingangsfrage: Was sehen wir an einem Menschen? Was sehen wir in diesem Jesus von Nazareth? Zu welcher Stellungnahme fordert er uns heraus?

Drei Dinge sind es, die ich dazu mit Ihnen bedenken will:

Erstens: In Jesus sendet uns Gott das Heil, das gelingende Leben für alle Völker der Erde.

Zweitens: Der Ruf in die Nachfolge des Jesusu von Nazareth fordert von mir eine Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil.

Drittens: In diesem Jesus zeigt sich Gott als ein Anderer - und ist sich damit selbst treu geblieben.

Zunächst also: "In Jesus will Gott das Heil, das gelingende Leben für alle Völker der Erde "

Wahrscheinlich ist uns diese Aussage so vetraut, dass wir sie erst einmal ihrer Selbstverständlichkeit entkleiden müssen. Dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der dann der Gott des Volkes Israels wurde auch der Gott aller anderen Völker werden wird, das ist ein den prophetischen Schriften vertrauter Gedanke. Die Wallfahrt zum Berg Zion, wo alle Völker dieser Welt den Gott Israels anbeten werden, ist eine feste Erwartung für die Endzeit.

Aber Simeon redet nicht von einer Erwartung, sondern er sieht in dem kleinen Jesuskind die Erfüllung dieser Ankündigung. Die Endzeit ist jetzt da, denn in diesem Jesus von Nazareth ist die Grenze gefallen, die bis dahin Israel und die Heidenvölker in ihrer Beziehung zu Gott trennte. Die Kirche Jesu Christi ist das neue Israel, das gleichberechtigt neben das alte tritt, ohne es zu verdrängen. Die Ekklesia ist die Gemeinschaft der Herausgerufenen aus allen Völkern der Welt. Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht - alle äußerlich sichtbaren Unterschiede zwischen den Menschen treten zurück gegenüber dem Bekenntnis zu dem dreieinigen Gott. Und es wird sichtbar: Kein Volk ist diesem Gott näher oder ferner. Vielmehr will Gott das Heil, das Leben in Fülle für alle Völker und alle Menschen auf der Erde.

Zweitens: "Der Ruf in die Nachfolge fordert von mir eine klare Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil."

Wenn Simeon diesen Jesus gesetzt sieht "zum Fall und zum Aufstehen", dann wird hier schon etwas deutlich von dem Anspruch, den dreißig Jahre später der erwachsene Wanderrabbi Jesus mit seinen Worten und Taten erhebt. Wer ihm nachfolgen will, der muss Entscheidungen treffen. Ein bißchen Wahrheit, eine Prise Gerechtigkeit, ein kleines Quäntchen Nächstenliebe - das ist zu lau. Die Ziele müssen klarer gesteckt sein. Der Horizont muss erkennbar werden.

Ich rede nicht davon, dass wir alle fehlerhafte Menschen sind, die in ihrem Leben immer wieder scheitern. Das ist für Gott selbstverständlich. Aber die innere Ausrichtung für ein Leben in der Nachfolge muss stimmen. Wer Jesus seinen Herrn und Meister nennt, an dem muss auch erkennbar sein, zu wem er gehört, woran er sein Leben ausrichtet. Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit sind Grundorientierungen, die sich in der kleinen Münze unseres Alltagslebens auszahlen lassen. Konflikte gewaltfrei zu lösen, für die Wahrheit einzustehen, auch wo es uns etwas kostet, Menschen in ihrem Leid nahe zu sein - das sind äußere Kennzeichen einer inneren Haltung, die sich an dem Rabbi Jesus aus Nazareth orientiert. Ohne solche guten Früchte, so sagt Jesus, stellt sich die Frage, ob nicht etwa die Wurzel faul sei. Der Ruf Jesu in die Nachfolge nötigt uns zu klären, an welchen Werten wir uns orientieren.

Schließlich: "In diesem Jesus zeigt sich Gott als ein Anderer - und ist sich damit selbst treu geblieben."

Dass Gott in diesem kleinen Kind Mensch geworden ist, stellt die gängigen Bilder von einem allmächtigen Gott auf den Kopf. Hier zeigt sich: Gottes Macht in der Welt hat die Gestalt der Ohnmacht. Im Kind in der Krippe erscheint kein Gott, der nach den Maßstäben dieser Welt ein gewaltiger, starker Herrscher wäre. Nein, Gott ist sehr anders. Die Weihnachtsgeschichte vom Gottessohn in der Krippe ist eine Erzählung gegen die gängigen Klischees vom starken, allmächtigen Super-Gott.

Und gerade darin ist sich Gott treu. Von der Erwählung des kleinen Volkes Israel bis zur Berufung des Gottesknechtes, der als der Allerverachtetste und Unwerteste galt, hat dieser Gott immer wieder gezeigt, dass die Kategorien weltlicher Macht und Gewalt für ihn keine Bedeutung haben. Und gerade dadurch ist er ein glaubwürdiger Gott. Nur der Gott, der sich der Ohnmacht, dem Leiden, ja selbst dem Tod ausgesetzt hat, ist ein Gott, der uns Menschen wirklich nahe sein kann. In diesem Jesus von Nazareth ist unsere Beziehung zu Gott eine andere geworden, weil dieser Gott nicht für sich selbst bleiben wollte, sondern sich weggab und Mensch wurde, damit wirkliche Gemeinschaft zwischen ihm und uns Menschen möglich werde. Seitdem ist keine Nacht zu dunkel, kein Schmerz zu tief, keine Einsamkeit zu groß, dass sie nicht dieser Gott mit uns teilen könnte. Gott ist der nahe Gott, näher, als wir uns selbst sein können.

Unsere Frage war: Wen sehen wir in diesem Jesus? Teilen wir, die wir nach Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt leben, die Sicht von Simeon und Hanna? Können wir mit den Augen des Glaubens auf das kleine Kind in der Krippe schauen? Dann wird auch uns offenbar, was es um dieses kleine Kind ist: In ihm liegt Gottes Heil für alle Völker. Er ruft uns zu einem Leben in verbindlicher Nachfolge in Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Und: In diesem Jesus kommt uns Gott näher, als wir uns selbst sein können.

Möge Gott uns die Augen auftun für diese Einsicht.

Amen.

Dr. Martin Jochheim, Kreßbronn
mjochheim@t-online.de


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