Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Weihnachten, 29. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 25-32, verfaßt von Jørgen Demant (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Sie trafen einander öfter - die beiden alten Menschen - oben im Tempel. Simeon und Anna also. Anna - die Tochter Fanuels. Sie bekam nie einen anderen Namen. Sie blieb die Tochter ihres Vaters ihr ganzes Leben, so als sei sie nie verheiratet gewesen. Denn sie hatte keine Kinder. Aber sie war einmal verheiratet gewesen. Und Witwe geworden. Nur sieben Jahre währte die Ehe, und es war so lange her, daß niemand mehr wußte, wer der Mann eigentlich war. Und jetzt war Anna 84 Jahre alt, und sie nannte sich noch immer die Tochter Fanuels, obwohl auch niemand mehr wußte, wer Fanuel war.

Sie war vom Stamme Asser, und die Leute nannten sie Prophetin, weil sie all ihre Zeit, Tag und Nacht, im Heiligtum mit Gebet und Fasten verbrachte.

Eines Tages, als sie sich wie gewöhnlich im Heiligtum aufhielt, kamen Joseph und Maria aus Nazareth mit ihrem Neugeborenen, um zu opfern, wie es Sitte war. Als Anna das Kind sah, pries sie Gott. Denn sie sah mehr als ein neugeborenes Kind. Sie sah Zukunft und Hoffnung, Heil und Erlösung in diesem Kind. Und sie sprach davon zu allen, die hören wollten.

Und sie pries Gott als den, der immer Neues schafft. Den Gott, der immer sagt "werde" und "komme". Und immer kamen neue Menschen, neue Aufgaben für die Menschen, neues Wachstum, neue Ernte.

Annas eigenes Leben war ein wunderbares Bild dieser Neuschöpfung. Erst war sie Kind gewesen im Hause ihres Vaters. Dann hatte man sie verheiratet, und eine ganz neue Welt hatte sich ihr eröffnet zusammen mit ihrem Mann und den Pflichten einer Ehefrau und Hausfrau. Als ihr Mann starb, glaubte sie, daß das Leben vorbei sei, daß nun nichts mehr zu erwarten sei. Aber da war mehr. Denn sie war mehr als Hausfrau und Ehefrau.

Sie war Anna, die Tochter Fanuels, und als sie allein zurückblieb, auf eigenen Beinen stehen und für sich selbst sorgen mußte, da fühlte sie sich ganz verlassen. Aber sie entdeckte, daß Gott ihr viel näher gekommen war. Er war da - ganz einfach und ganz selbstverständlich. Da täuscht man sich nie. Anna ging in das Heiligtum, in das Haus ihres himmlischen Vaters, dort wo sie zu Hause war und immer willkommen. Die Zeit hatte ihre Erwartung an die Zukunft nicht verschlissen. Die Aufgaben und die Arbeit hatten ihr die Erwartung nicht weggenommen. Ja, es war so, als komme die Erwartung ihr jeden Tag entgegen. Etwas, was sie ansprach und herausforderte.

Die Leute nannten sie Prophetin, weil sie wo weit und deutlich sah. Sie sah den Willen Gottes, da sie stets über ihn dachte und grübelte. Sie sprach mit Gott. Hörte auf seine Stimme. Und in dieser Beschäftigung mit Gott wurde sie davon befreit, an sich selbst zu denken. Gott zugewandt sein, ihn suchen, das gibt Freiheit von eigenen Dingen und Gedanken. Das gibt Freiheit zu wirken und den rechten Zusammenhang des Daseins zu sehen.

Die alte Frau, die Witwe Anna, die Tochter Fanuels, war freier als irgendein Mensch in Jerusalem, denn sie war wirksam und innerlich damit beschäftigt, Gott zu loben und zu preisen. Und deshalb erkannte sie Jesus, als sie ihn sah. Sie war eine Prophetin.

Anders verhielt es sich mit Simeon. Anna hatte das in der letzten Zeit gemerkt, wenn sie zusammen im Tempel waren. Ehe die beiden aus Nazareth mit ihrem Kinde kamen. Anna wußte, daß der alte Simeon in letzter Zeit beunruhigt war. Beunruhigt und besorgt über die Zukunft. Eine Rastlosigkeit war über ihn gekommen.

Simeon war ansonsten ein großer und starker Mann. Er ruhte in sich selbst. Ein gerechter Mann. Er lebte stark in der Tradition verwurzelt. In Übereinstimmung mit dem Gesetz. Aber dann war doch etwas mit ihm geschehen. Die Veränderung war eingetreten kurz nachdem in der Synagoge vom alten Patriarchen Jakob vorgelesen wurde. Er kannte die Geschichte ja so gut. Von Jakob und seiner Sorge um seinen Lieblingssohn Joseph und dessen Träume. Von der Katastrophe, die Jakob traf, als er seinen Sohn verlor, weil die Brüder es nicht ertragen konnten, daß er begünstigt wurde, und ihn deshalb an ägyptische Kaufleute verkauften. Und wie sich Jakob in Sack und Asche kleidete. All das wußte Simeon nur zu gut. Aber er hatte vergessen, daß Jakob auf seine alten Tage zu seinem Sohn in Ägypten reisen sollte. Warum sollte er aus dem Land reisen, in dem er sicher und geborgen lebte? Das Land, das er von seinem Vater Isaak und seinem Großvater Abraham geerbt hatte? Das Land, das ihm von Gott verheißen war? Simeon dachte nach über die Antwort Gottes an Jakob: "Jakob, Jakob! Ich bin Gott, der Gott deines Vaters. Fürchte dich nicht, nach Ägypten zu ziehen, denn ich will dich dort zu einem großen Volk machen".

Das war es, was Simeon am meisten verunsicherte. Daß der alte Jakob nach Ägypten gezogen war und seinen Segen und seine Freude dort in seinem Sohn fand, so daß er sagen konnte: "Nun will ich gerne sterben, denn nun habe ich meinen Sohn lebendig gesehen". Daß dieser alte Patriarch, von Gott erwählt und gesegnet, aus seiner Heimat gezogen war! Daß er mit den Traditionen gebrochen hatte. Daß er die Verbindung zum Alten abgebrochen hatte und sich in das Neue begeben hatte. In Ungewißheit, Fremdheit. Das beunruhigte ihn.

Er ging zu Anna der Tochter Fanuels, um mit ihr darüber zu sprechen. Er mußte Klarheit gewinnen darüber, was es bedeutete, daß Jakob nach Ägypten mußte. Als Simeon in das Zimmer hineinschaute, in dem Anna sich aufhielt, sah er sie über die Schrift gebeugt. Das klare Morgenlicht fiel in das Fenster. Auf die Schrift, die auf dem Tisch lag und auf die Karaffe. Die stand da mit ihrem schön geschwungenen Schnabel. Der Schnabel zeigte geradewegs auf Anna. Die Karaffe war gefüllt mit klarer Flüssigkeit, sie war durchstrahlt von Licht, daß es für Simeon schwer zu sehen war, ob es sich um Wasser oder klaren Wein handelte. Er zögerte einen Augenblick, zu Anna zu gehen, denn einen Augenblick schien es so, als sehe er mehr, aber er wußte nicht was. Als stünde er hinter einem Vorhang, hinter dem er etwas Größeres und Wahreres ahnte.

Anna hörte geduldig die Erzählung Simeons. Sie hörte seine Sorge und seine Unruhe mit großer Geduld. Hörte vertraut und einfühlsam auf die Überlegungen Simeons darüber, daß der Patriarch Jakob nach Ägypten gereist war - in die Ungewißheit und die Fremdheit.

Und sie beruhigte ihn, indem sie sagte, daß die Ungewißheit dazu gehört als eine Seite der Sache, wenn man sich seinen Sehsüchten hingibt. Das gehört zur Erwartung dazu - die Unruhe und die Unsicherheit. Und mit der hatte Jakob auch gelebt. Aber die Sorge vertrieb nie den Glauben und die Erwartung. Die Unruhe konnte nie das Licht der Erwartung überschatten, die Jakob nach Ägypten rief. Denn die Erwartung und die Berufung bürgten dafür, daß es wahr war, was er glaubte. Er empfing großen Frieden und große Freude, als er seinen Sohn Joseph lebendig und wohlbehalten wiedersah.

Sie machte eine Pause, die Prophetin Anna, und sagte still und leise zu sich selbst: "Glauben, das ist immer das Frohe, Glückliche und Gute erwarten".

Nach einer Zeit erhob sich Simeon und verließ das Zimmer. Als er sich in der Tür umwandte und auf Anna zurückschaute, bemerkte er, daß Anna in Licht eingehüllt war. Sie reflektierte das Licht, das auf die Glaskanne schien. Sie saß wie durchleuchtet und verklärt. Aber vielleicht war sein eigener Sinn verwandelt worden. Es war, als hätte er jungen Wein aus der Kanne getrunken. Und er reif sich Annas Worte in Erinnerung: "Glauben, das ist immer das Frohe, Glückliche und Gute erwarten".

Simeon begriff nun, was die Geschichte mit Jakob in Ägypten bedeutete. Der alte Mann fand seine größte Freude in seinem jüngsten Sohn. Fern vom Heimatlichen und Erdverbundenen. Im das fremde und unbekannte Land hatte sich Jakob gewagt. Und dort hatte er seinen verlorenen Sohn gefunden.

Simeon wurde aus seiner Unruhe und seinem Zweifel gerissen. Als sei ein Vorhang zur Seite geschoben worden. Die Schatten in der Seele sind verschwunden, und er sieht leuchtend klar. Er denkt an das Kind, das in den Tempel gebracht worden war, vom dem prophezeit worden war, daß es der Messias sei. In einem Moment der Klarheit und kindlichen Einfalt sah Simeon den Sinn der Geschichte von Jakob und Joseph. Die Geschichte handelte ja von ihm und dem Kind, das in Bethlehem geboren war vor einigen Tagen, und das heute im Tempel dargestellt wurde.

Er ging zurück zum Tempel. Fand die Eltern mit dem kleinen Kind. Nahm es in seine Hände und flüsterte ruhig für sich selbst:

"Herr, nun lässest du deinen Diener fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern".

Die Furcht und die Unruhe des Alten waren verschwunden. Die Sorge war gleichsam verduftet. Er wußte nun deutlich, wo seine Sehnsüchte wohnten. In dem Kind, das er in seinen Händen hielt. Er sah in den Augen diesen Kindes eine Stärke wachsen, ein beruhigendes Vertrauen und eine beruhigende Zuversicht. Und dennoch war Simeon am Abend seines Lebens.

Und da sind wir. Kinder einer späten Zeit. Wir haben von Anna und Simeon gehört, deren Sehnsucht und Erwartung sich frisch und offen erhalten haben. Die Sehnsucht und die Erwartung waren das Pfand der Hoffnung. Und die wurde nicht zuschanden. Die Alten sehen weiter und mehr. Ja sie sehen genauso weit wie das Kind.

Eine alte Frau sagte einmal, daß es gut ist, daß Kinder und Alte beim Heiligabend der Erwachsenen mit dabei sind. Wenn es nicht wegen der Kinder wäre, würde Heiligabend verschwinden. In der Trauer der Erwachsenen über das, was sie verloren haben, ist deren Kindheit gegenwärtig zusammen mit ihren eigenen Kindern, und die Menschen, die einmal den Weihnachtsbaum für sie angezündet haben, sind ihnen ganz nah. Ihre eigene Kindheit ist gegenwärtig und vermischt sich mit ihrer Freude über das Weihnachten der Kinder der Gegenwart.

Deshalb gehören die Alten mit zu Weihnachten. Sie sollen nicht mehr das Licht am Weihnachtsbaum anzünden. Sie dürfen es nur genießen. Zusammen mit den Kindern sind sie in gewisser Weise außerhalb von Raum und Zeit, weil Zeiten und Räume in ihrer Seele vorbeiziehen und sich in Gleichzeitigkeit zwischen früher und jetzt, hier und dort, ja vielleicht auch der Gleichzeitigkeit mit einer Zukunft vermischen. Hinein in die Ewigkeit, in die schon vor langer, langer Zeit ihre Eltern sich begeben haben.

"Glauben, das ist immer das Frohe, Glückliche und Gute erwarten". Amen.

Pfarrer Jørgen Demant
Hjortekærsvej 74
DK-45 88 40 Lyngby
Tel.: ++ 45 - 45 88 40 75
e-mail: j.demant@wanadoo.dk


(zurück zum Seitenanfang)