Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Weihnachtstag, 25. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 15-20, verfaßt von Eberhard Busch
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Der jüdische Schriftsteller Isaac Singer erzählt eine Legende, die in der Zeit des Chanukka-Festes spielt. In Erinnerung an die einstige Reinigung des Tempels vom Götzendienst zünden Juden dabei eine Kerze an: ein Licht in Erwartung des Herbeikommens Gottes, mit dem die Erde vom Bösen gereinigt und der Jammer in Freude verwandelt wird.

Es war zur Zeit dieses Festes. Draußen war es dunkel. Ein Schreckenssturm tobte. Eine Nacht, in der der Teufel los war. Draußen hatte sich ein Kind verirrt, wurde von dem Orkan gebeutelt, von Regengüssen durchpeitscht. Es wußte nicht ein noch aus. Und der Teufel wollte es haben. Doch - wie Isaac Singer sagt - so geschickt der Teufel ist, einen Fehler macht er immer. Er rechnete nicht damit, daß Chanukka ist. Einen Spalt breit war eine Türe offen. Dadurch schimmerte das Licht. Das Kind sah es und eilte dorthin. Der Böse hinter ihm her. Aber das Kind war vor ihm beim Licht und warf hinter sich die Türe zu. Da hatte es beim Zuschlagen dem Bösewicht den Schwanz eingeklemmt, und flugs nahm das Kind die Kerze, versengte ihm den Schwanz und rief keck nach draußen: "Einen Denkzettel mußt du einmal haben."

Ein Gleichnis für "die Geschichte, die da geschehen ist" - an der Weihnacht, im Stall von Bethlehem: Da ist ein Licht angezündet worden: ein Licht sondergleichen, "das leucht' wohl mitten in der Nacht", das "vertreibt mit seinem hellen Scheine die Finsternis". Und die es sehen, denen wird es gehen gleichsam wie jenem Kind, - wie den Hirten. Die kommen eilend, rennen wie um ihr Leben, kommen von draußen nach drinnen, aus dem Dunkel ans Licht, aus der Todesgefahr zum Leben, kommen, um sie zu finden: Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe.

Man muß in diesem Fall sehr Obacht geben. Denn es gibt da draußen auch Blendwerke, Strohfeuer, Trugbilder, Fata Morganas, Irrlichter, voll glänzendem Anschein, und locken uns doch nur auf Abwege, vorbei an dem rettenden Licht, weg von ihm. Dagegen ist der Ort, an dem das eine, gute Licht zu finden ist, seltsam unscheinbar, liegt abseits, liegt im Schatten, so daß man den Ort leicht übersehen und verfehlen kann.

Die Hirten hätten die Krippe auch nicht gefunden - wenn es nicht die Geschichte gäbe, "die uns der Herr kundgetan hat". Gott hat extra Boten gesandt, seine Engel, seine Apostel. Durch ihren Mund gibt er uns die Geschichte kund, "die da geschehen ist". Ohne ihr Gotteswort liefen wir orientierungslos herum im Geflunker der Irrlichter oder tappten im Dunkeln. Und erst recht wären wir ohne Orientierung, wenn dann allzu Schlaue eines Tages das Licht von Bethlehem ausgeben wollten als auch nur eines in der Kette jener Irrlichter. Aber hören wir die Botschaft der Boten, dann sagen sie uns: Blickt, ja, geht, ja eilt dorthin!

Was finden wir dort, drinnen im Stall von Bethlehem, bei "Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe"? Was sehen wir da? Einen wüsten Stall, über dem der Stern der Erlösung steht. Im Allerunscheinbarsten der denkbar hellste Schein. Im tiefsten Dunkel "die goldene Sonne voll Freud und Wonne". Beides läßt sich gar nicht voneinander trennen. Denn das ist das Geheimnis des Kindes in der Krippe: "Und sie werden seinen Namen Immanuel nennen, das heißt auf deutsch: Gott mit uns".

Der große Gott setzt sich an der Weihnacht unserem Dunkel aus, unserer Bedrohtheit, unserer Fremde und Verirrung. Darum die Nacht in der Geschichte, die da geschehen ist. Aber darum nun auch kein Dunkel, keine Bedrohung und Verirrung, in der Gott nicht bei uns ist. Und darum das Licht in der selben Geschichte: "es leucht' wohl mitten in der Nacht". Gott mit uns! Wie sollten wir nicht dorthin blicken, dorthin eilen, vielleicht stolpernd oder keuchend, aber dorthin, um in den Lichtkreis zu kommen, um hier aufzuatmen, aufzustehen, aufzuleben. Im Lichtkreis dieser Wahrheit: Gott mit uns! In ihrem Lichtkreis sind wir wie in einem Schutzraum, wie von mütterlichen Armen umfangen, drinnen und nicht mehr draußen, geborgen und nicht mehr umhergetrieben, im Frieden und nicht mehr allein gelassen. Zuflucht, Asyl brauchen wir alle. Und hier ist es, was wir brauchen. "Unter deinen Schirmen bin ich von den Stürmen aller Feinde frei. Laß von Ungewittern rings die Welt erzittern, mir steht Jesus bei" - der, der das Licht der Welt ist, weil er der Immanuel ist: der Gott mit uns.

Aber da sind noch so viele draußen, im Dunkel, wohl hin und her eilend zwischen den Irrlichtern, die jetzt da und jetzt dort aufblitzen und dann wieder verlöschen, so daß es dann dunkler ist als zuvor. Draußen sind sie, draußen vor der Tür. Aber an der Weihnacht tönt es laut von fern und nah: "Heut schließt er wieder auf die Tür." Einen Spalt breit? Nein, mehr als das: Sie steht nun sperrangelweit offen.

Weihnacht ist kein Privatvergnügen für die, die es geschafft haben, einen Platz an der Sonne zu finden. An Weihnachten wird es hell gerade für die, die draußen sind, damit sie Obdach finden, zu dem sie hineilen können. Es ist da für sie, die es friert, damit es ihnen warm wird, die mit den Tränen zu kämpfen haben, damit sie aufgeheitert werden, für die Hungrigen, damit sie bekommen, was sie brauchen, für sie, die im Streit verhakt sind, damit Friede auf Erden werde, die Gewalt üben und Gewalt erleiden, damit Gerechtigkeit aufgerichtet werde. Der Gott, der mit uns ist, ist auch mit ihnen. Er verbindet uns mit ihnen. Denken wir in dieser Stunde an sie!

Es heißt von den Hirten, die an der Krippe waren: "sie breiteten das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kind gesagt war". Man hört, daß gerade an Weihnachten so viele leider nicht fröhlich sind, vielmehr an Schwermut kranken, an Einsamkeit, am Gefühl der Leere und sogar der Bitterkeit, Menschen, die derart leiden, daß sie ihr Leben leid sind. Es kommt sie in dieser Zeit die große Sehnsucht an - wonach? nach Erfüllung, nach Nähe, nach Frieden, nach Freude, nach Liebe, die Sehnsucht nach etwas, was ihnen verwehrt ist. Beten wir für sie! - daß Gott mit ihnen sei, daß dieses Licht ihnen leuchte, so daß die Finsternis von ihnen weicht. Und vielleicht sind wir denen dann Boten und Botinnen und richten einigen einen freundlichen Gruß aus: "Siehe, ich verkündige euch große Freude."

Ich traf vor einiger Zeit im Zug einen älteren, drahtigen Herrn, der unterwegs war nach Vietnam. Er will dort über Weihnachten, was er offenbar fachmännisch kann, Bomben aus dem einstigen Krieg entschärfen, weil sie immer noch die Menschen dort bedrohen. Man kann fabelhafte Einfälle haben, um die große Freude zu verkündigen.

Freude? Große Freude? Wer hat die schon? "Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil", sagt Friedrich Schiller. Und auch Jesus sagt: "In der Welt habt ihr Angst." Oft ist es nur Blindheit und Torheit, wenn man keine Angst hat: vor den Fluten, die einen wegreißen wollen, vor den Dürrezeiten, die uns verdursten lassen können, vor dem Beben, das den Boden wanken macht unter unseren Füßen, vor den Ausbrüchen, die uns zu verschütten drohen. Da sind wir alle immer wieder draußen in der Finsternis und nicht drinnen beim Licht, bedroht und nicht geborgen, schwankend und nicht aufrecht. Eben, wir sind im Innersten alle Asylsuchende. Doch Jesus fährt fort: "Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Und verstehen wir das jetzt so: Dieselbe Türe, die beständig weit offen steht, so daß wir hineilen dürfen, hin zu dem mit Namen "Immanuel, Gott mit uns", hin zu dem, der tröstet, wie einen eine Mutter tröstet - dieselbe offene Tür ist wunderbarerweise zugleich eine vollkommen verschlossene Türe, verschlossen für all die üblen Mächte, die uns zu stark sind. Hier müssen sie draußen bleiben und können nicht eindringen. Hier kommt die Lüge mit ihren kurzen Beinen nicht hin. Hier hat sie nichts zu sagen.

Gott ist mit uns - darum ist er gegen diese üblen Mächte. In seiner Nähe haben sie nichts zu suchen - darum auch nicht mehr in unserer Nähe. Gott mit uns - ein Tropfen dieser Wahrheit ist mehr als ein Ozean von Wirklichkeit, die dieser Wahrheit widerstreitet. Gott mit uns - das lassen wir jetzt nicht hinter uns zurück, so wie man schöne Ferientage, wenn sie vorbei sind, hinter sich lassen muß.

Genau genommen können wir nicht vom Geheimnis der Weihnacht herkommen, ohne daß es mit uns geht. Wohl folgen auf die Feiertage Werktage. Wohl heißt es von den Hirten, daß sie wieder umkehrten, nämlich an ihre reguläre Arbeit. Aber nachher ist nicht mehr wie vorher. Es heißt ja, daß sie nunmehr "Gott priesen und lobten um alles, was sie gehört und gesehen hatten". Sie müssen nicht stehen bleiben in dem Innenraum, der sich vor ihnen geöffnet hat, und sie müssen keine Angst haben, dort herauszutreten in den Bereich ihrer normalen Geschäfte. Und das aus dem einen und guten Grund: das darum, weil der in der Krippe Liegende dort nicht liegen bleibt, sondern sie begleitet, ihnen leuchtet, ihnen beisteht, ihnen zurechthilft. Wie von mütterlichen Armen umfangen sind sie darum nicht mehr bloß drinnen, sondern auch draußen. Auch da im Frieden, weil nicht allein gelassen.

Wie sollten sie da etwa nicht "Gott preisen und loben"? Wie sollten sie da etwa nicht einstimmen in das Freudenlied? - : "Was kann euch schaden Sünd und Tod? Ihr habt mit euch den wahren Gott. Laßt zürnen nur den alten Feind, ist Gottes Sohn doch euer Freund." Er schenke uns und aller Welt eine gesegnete, eine friedvolle Weihnacht!

Prof. Dr. Eberhard Busch, Göttingen
E-Mail: ebusch@gwdg.de


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