Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Christvesper, 24. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 1-20, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost
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Anbetung

Liebe Gemeinde,

Schulkinder wurden befragt, 6 bis 12 Jahre alt, in Düsseldorf, in der Landeshauptstadt: Weshalb feiern wir Weihnachten? Jedes dritte Kind wußte es nicht, wusste nicht, was an Weihnachten gefeiert wird, nicht Geburt Jesu Christi, selbst in christlichen Schulen, wo Krippenspiele eingeübt wurden, gab es nicht weniger Kinder, die den Grund nicht angeben konnten.

Den Fragern schien das Nicht-wissen besonders bemerkenswert; sei es um einen besseren Religionsunterricht einzuklagen, sei es, um die Kirchen als unwirksam hinzustellen, ein beliebtes Gesellschaftsspiel inzwischen.
Ich sehe den Fall etwas anders: Mir scheint das Nicht-lernen trotz Mitspielens bemerkenswerter, auffälliger, denn man kann dieses Ergebnis, diesen Reinfall zwar auch auf die Unaufmerksamkeit der Schüler oder die Unfähigkeit der Lehrer zurückführen, aber das hieße, ein weiteres beliebtes Gesellschaftsspiel spielen: "PISA - oder wie male ich die Schule schwarz?" Ich ziehe einen anderen Schluß: Das Nicht-Wissen kommt aus dem Nicht-verstehen - und die Geschichte vom Kind in der Krippe ist nicht leicht zu verstehen, jedenfalls nicht so leicht, wie man oft denkt, nur weil sie hierzulande noch alljährlich auf dem Spielplan steht.
Diese Geschichte ist nicht leicht zu verstehen, denn unser Leben paßt nicht zu dieser Geschichte, auch wenn wir sie noch so schön nacherzählen oder aufführen, wir passen nicht in diese Geschichte, sie ist fern und fremd, es ist nicht leicht zu glauben, daß sie uns angeht. Ich finde es nicht so überraschend, dass Kinder sie nicht behalten, selbst wenn sie mitgespielt haben, denn sie verstehen nicht, was uns daran angeht.

Wohl beschreibt Lukas plastisch und farbig, setzt die himmlischen Herrscharen anschaulich in Bewegung, und das Hirtenvolk auf dem Felde, aber die Geschichte bleibt fern, denn sie bleibt offen, man weiß nicht so richtig, wie es weiter geht. "Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen" - das ist ein eigenartig offener Schluß für eine angeblich weltbewegende Geschichte.

Sagen alter Völker erkennt man an ihrem typischen Verlauf: Nach Kämpfen und Leiden enden sie damit, daß der Held in den Himmel entrückt wird, wie Herkules - oder tragisch dem Untergang anheimfällt wie Orpheus mit seiner Eurydike. Märchen kennt man natürlich auch; sie enden traditionell happy-endlich mit einer markanten Formel "...und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch". Der Zusammenhang mit dem Alltag wird auf dem Höhepunkt der Erzählung hergestellt, man weiß, wie es weitergehen wird, und weiß es doch nicht so recht; aber man kann mit Prinz und Prinzessin weiterträumen, ihr schönes Leben, das nun alle Tage vor ihnen liegt, weiterspinnen.

"Die Hirten aber kehrten wieder um, priesen und lobten Gott von allem, was sie gehört und gesehen hatten, ... " - und erscheinen im ganzen Evangelium nicht mehr. Man erfährt nicht, ob sich ihr Alltag durch diese Begegnung verändert hat, ob sie, die Aschenbrödel der Gesellschaft, wenigstens mehr Mut bekommen haben, vielleicht hat ja einer von ihnen später die Geschichte vom verlorenen Schaf erzählt.

Die Geschichte von Bethlehem stellt den Lesern eine schwierige Aufgabe, sie mit ihrem Leben zu verbinden - ist jedenfalls nicht kinderleicht, für Kinder nicht leicht, wie man an den Schüler sehen kann, die den Sinn der Sache nicht richtig erkennen und deshalb auch nicht behalten, obwohl sie die Geschichte gespielt haben - und das hat sicher nichts mit PISA und der angeblichen Dummheit deutscher Schüler zu tun, sondern mit der Eigenart dieser Geschichte: Worin liegt diese Eigenart? Wo berührt sie unser Leben? - wo greift sie uns an - wo ergreift sie uns so, daß wir immer wieder nach dieser Geschichte greifen, jedes Jahr neu?

Es ist doch nicht wie bei Hänsel und Gretel, es wird bei Lukas doch kein Generationenkonflikt inszeniert, auch erfahren wir nichts über den Geschwisterneid wie bei Kain und Abel oder bei Aschenputtel, auch mit Momo und dem Verhältnis des modernen Menschen zur Zeit zu tun hat die Krippengeschichte wenig zu tun, auch erfahren wir offenbar nicht, wie das Böse in die Welt kam, wie es die griechische Sage von der Büchse der Pandora erzählt, wie sich die Götter rächten, weil Prometheus ihnen das Feuer gestohlen hatte - und sie schickten Pandora mit einer Büchse, in der alle Arten von Unheil lagen, und sie öffnete ihre Büchse und so kam das Böse, so kamen Schmerz und Leid, Streit und Neid, und alle Arten von Plagen in die Welt.

Doch damit kommen wir der Antwort näher, wie die Weihnachtsgeschichte in unser Leben eingreift, denn wenn man sich all diesen Geschichten öffnet, wenn man sie ernst nimmt, wenn man ihnen abnimmt, dass sie etwas zu sagen haben, wenn man also an den Sinn von Geschichten glaubt, und sie nicht als Spinnerei abtut, dann erschließt sich ihr Sinn; zum Vergleich mit der Weihnachtsgeschichte eignet sich vor allem die Sage von der Büchse der Pandora, denn die Krippengeschichte erzählt genau das Gegenteil: Sie erzählt, wie das Gute in die Welt kam und kommt ... das Gute kam durch ein neugeborenes Kind, ohne Zeichen äußerer Macht, ohne Ansehen, ohne Pauken - und selbst ohne Trompeten; fast hätte man es gar nicht bemerkt, aber es lockt einige aufmerksame Zeitgenossen aus ihren Lebensverhältnissen heraus, Hirten aus der Gegend um Bethlehem, sie lassen ihre Schafe stehn und liegen, um zu sehen, wie das Gute aussieht, als sie von Boten, die Ihnen recht eindrucksvoll und deshalb verlässlich vorkommen, hören, daß das Gute tatsächlich auf der Erde zu finden sei, - sie lassen ihre Herde im Stich und rennen zu dem angegebenen Ort, wo angeblich das Gute auf die Erde gekommen sei - und sie sind - erst enttäuscht, sie trauen ihren Augen nicht, denn es ist kein Retter hoch zu Roß, kein Herkules, sondern ein Kind und ein Stall, wo soll sich da der Retter, das Heil verborgen halten? Vielleicht im Mist der Tiere, Biomasse? - aber dann spüren sie: Hier begegnen sie tatsächlich dem Guten, es gibt das Gute in der Welt. Sie haben es bisher noch nie erfahren, aber jetzt sind sie sich völlig sicher: Das Gute ist gekommen, oder wie die Boten gesagt hatten: Das Heil der Welt. Spätere Generationen werden das Geschehen ausmalen und behaupten: Die Hirten seien vor dem Kind in der Krippe auf die Knie gesunken, als hätten sie den Kaiser von Rom oder wenigstens seinen Statthalter vor sich. Aber es gehört sicher gerade zur Anbetung Christi hinzu, dass die Hirten wieder umkehren und die Verantwortung für ihre Herden wieder aufnehmen, denn sie haben das Gute nicht nur gesehen, in dem Kind, sondern sie haben es auch bei sich selbst gefunden.

Liebe Gemeinde,
vor dem eindeutig Guten kann man vielleicht im ersten Moment nur in die Knie gehen, ehrfürchtig, andächtig, staunen, wenn man es erkennt, denn es ist den Menschen in jeder wichtigen Hinsicht überlegen: an Güte und Barmherzigkeit, an Freundlichkeit, an Selbstlosigkeit, an Liebe zu den Menschen, zu allen Menschen, aber man muß es eben erst finden, um es anbeten zu können: Lukas hat es gefunden und seinen Lesern in dieser Geschichte angefangen zu erklären: In einem Kind, in einem noch völlig unschuldigen Kind begegnet das Gute, aber nicht weil dieses oder ein anderes Kind noch keine Gelegenheit hatte, etwas Böses zu tun, sondern weil jedes Kind aus den Menschen, die es mit Aufmerksamkeit, mit Andacht betrachten, das Gute auch in den Menschen hervorlockt.

Die Kinder in Düsseldorf haben das Gute in den Weihnachtsspielen offenbar nicht finden können, weil Kinder in Neugeborenen noch nicht so leicht das Gute erkennen, weil ein anderes, kleineres Kind in ihnen selbst eher Konkurrenzangst hervorruft. Aber ich habe noch eine weitergehende Vermutung, weshalb sie die Schulkinder das Gute in diesem Kind nicht erkennen konnten: Weil sie das Gute nur so kennen, wie es ihnen in den vielen Geschichten, Spielen und Filmen, die Erwachsene seit alter Zeit produzieren, täglich entgegenkommt: Da ist das Gute immer siegreich, ob als schuß-gewaltiger Western-Held oder als trickreicher Kommissar, ob als Herr der Ringe oder als James Bond, das Gute oder der Gute siegt immer.
Das Kind in der Krippe ist in der Welt der Medien keine erfolgreiche Verkörperung des Guten. Aber das siegreiche Gute ruft keine Güte hervor, sondern Hoffnung auf Macht.

Das Kind in der Krippe ist aber auch in den Herzen vieler engagierter Christen keine erfolgreiche Verkörperung des Guten: Sie fühlen und denken nach einem anderen Grundsatz: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Nun will ich Sie gewiß nicht an diesem Heiligen Abend davon abhalten, Gutes zu tun - und werde Sie natürlich nachher auch um eine Spende für einen sog. guten Zweck bitten, aber zunächst muß ich doch darauf hinweisen, daß das Gute im ganzen Lukas-Evangelium auf die Menschen zukommt, aus ihnen herausgefordert wird ... der barmherzige Samariter, erfährt seine Barmherzigkeit erst, als er des Weges kommt, wo der Überfallene liegt. Der Vater des verlorenen Sohnes breitete die Arme zur Versöhnung auch erst aus, als ihm sein jüngerer Sohn in erbarmungswürdigem Zustand gegenüber trat ... und bei den Schwestern Maria und Martha hält es der Evangelist auch nicht mit der tatkräftigen Martha, sondern verteidigt Maria, die Sinnende, und auch Ihre Güte würde sofort entkräftet, wenn kein guter Anlaß vorgestellt wird.

Das Gute kommt zu uns und lockt aus uns Gutes hervor; das Gute ist schwer genug zu entdecken, aber in einem Kind kann ein Erwachsener das Gute sogar einigermaßen leicht entdecken: die grenzenlose kindliche Vertrauensseligkeit ruft Staunen hervor, zunächst ungläubiges Erstaunen, das es so etwas rührend Schutzbedürftiges gibt in einer Welt voller erwachsener Selbstsucht, Selbstverteidigung und Konkurrenz. Gerade Leute, die sonst nicht viel erfreuliches sehen, nicht viel zu staunen haben, können ein kleines Kind richtig vergöttern; und das kommt nicht von ungefähr, denn ein Kind - und nicht nur das Jesuskind - ruft in den Menschen, die mit ihm beschäftigt sind, viele gute Gaben wach, bringt die lebenswichtigen und lebensdienlichen Eigenschaften zum Vorschein und zur Wirkung: Denken Sie nur an die Bereitschaft zu beschützen, an Einfühlungsbereitschaft, die zwischen Erwachsenen völlig brach liegen kann, aber bei einem kleinen Kind aufblüht, denken Sie an die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, damit das Kind heranwachsen kann, Geduld, Hoffnung, Erwartung, - mit so viel guten Gaben, da fühlt man sich selbst gleich viel besser.

Lukas, der Evangelist, hat es ganz feinfühlig gespürt und gezeichnet, was Christus als Grundgedanken unter den Menschen ausgestreut hat, er erzählt Geschichten, wie das Gute in die Welt gekommen ist, wo der Apostel Paulus nur Begriffe zur Verfügung hat, Glaube, Hoffnung und Liebe, die uns allerdings auch viel bedeuten. Das Kind in der Krippe macht den Anfang und Jesus, der Prediger, spricht es vor seinen Jüngern immer wieder aus: Das Gute liegt in Euch selbst, aber es muß geweckt, hervorgerufen werden. Wenn Ihr das Gute anbetet, wo ihr es entdeckt, dann wird es auch in euch geweckt.

Kann man sich auf diese schwierige Botschaft einen Reim machen? Vielleicht diesen:

Das Gute kann nur entdeckt werden,
das Gute kann nie vollstreckt werden,
es kann in Dir auch geweckt werden
darf aber niemals verzweckt werden.

Das Gute ist kein Wohlverhalten
lässt sich durch Regeln kaum verwalten,
und will's der Teufel ständig spalten -
die Liebe wird doch nicht erkalten.

Das Gute kommt in leisen Tönen
Will uns mit stiller Kraft versöhnen,
das Leben sachte uns verschönen,
daran muß man sich erst gewöhnen.

Liebe Gemeinde,
So bleibt nur noch die klassische Weihnachtsfrage: Was soll man schenken, was kann man dem Guten denn schenken? Was sollen wir zur Krippe mitnehmen, wenn das Gute oder der Gute doch von seinem Wesen her viel mehr hat und gibt, als wir schenken können? Was kann man dem Guten schenken? Verehrung, Anbetung? Gewiß, also vor allem: Vertrauen, so, wie er uns Vertrauen schenkt in Gestalt unseres Leben.

Ich steh an Deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben,
ich komme, bring und schenke Dir, was du mir hast gegeben,
nimm hin, es ist mein Geist und Sinn
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß Dir's wohlgefallen. Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
Universität Bonn
r.schmidt-rost@uni-bonn.de


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