Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Christnacht, 24. Dezember 2002
Lukas 2, 1-20, verfaßt von Dietz Lange
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde!

"Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge". So begründet die Weihnachtsgeschichte den Umstand, dass Jesus in einem Stall zur Welt gekommen sei und in eine Futterkrippe gebettet wurde. Was steckt eigentlich dahinter? Oft ist zu hören oder zu lesen, Maria und Josef seien schrecklich arm gewesen, deshalb hätten sie sich bei den Vermietern in Bethlehem nicht durchsetzen können. Und dann diese harte Krippe - das arme Kind! Man müsste deshalb tiefes Mitleid mit Jesus haben. Dieses Mitleid mit Jesus hat im Lauf der Jahrhunderte dazu geführt, dass viele Weihnachtskrippen in deutschen Wohnzimmern heute richtig kuschelig geworden sind - so kuschelig, so friedlich und sanft beleuchtet, dass man am liebsten sein eigenes Baby auch so betten würde.

Aber das ist ein tiefes Missverständnis. Josef war Zimmermann. Das war damals wie heute ein ehrenwerter Beruf. Dabei wurde man zwar nicht reich, aber man hatte sein Auskommen. Arm war Josef also nicht. Und ob die Krippe hart zum Liegen war oder gut mit Heu gepolstert, ob es in dem Stall kalt und zugig war oder ob es einen Ofen gab, all das war dem alten Erzähler der Weihnachtsgeschichte völlig gleichgültig. Er hätte solche Überlegungen für ziemlich sentimental gehalten. Typisch verwöhnte Europäer im 21. Jahrhundert, würde er heute wohl sagen. Die wollen Jesus einen Platz in ihrem gemütlichen Wohnzimmer gönnen. Warum nur? Schlechtes Gewissen, weil er im übrigen Jahr allenfalls an den Sonntagen mal vorgekommen ist? Sie haben halt normalerweise auch keinen Platz für ihn in ihrer Herberge! Oder ist es eher deshalb, weil sie ihn auf dem engen Platz unter dem Tannenbaum so gut unter Kontrolle haben?

Vielleicht ist das ungerecht. Ganz vielen Menschen heute ist Jesus und mit ihm auch Gott selbst einfach irgendwie abhanden gekommen. Diese Leute - und vielleicht auch manche von uns - würden ihn ja gerne angemessen unterbringen. Aber er ist anscheinend so weit weg, dass man ratlos ist, wie man das denn machen soll. Vor ein paar Tagen war ich in einem Spielwarengeschäft, wo ich noch rasch ein Geschenk für meinen Enkel kaufen wollte. Die übliche süßliche Musik, mit der man die Kunden und so auch mich in Kaufrausch versetzen wollte. Dann gab es eine Unterbrechung, und eine freundliche, einschmeichelnde Männerstimme im Lautsprecher regte an, dass wir doch einmal an die Geschichte von Weihnachten denken sollten. Da hat der Pastor in mir natürlich sofort die Ohren gespitzt. Und was war die "Geschichte von Weihnachten"? Wie es doch vor 50 Jahren bei Uroma und Uropa so gemütlich war beim schön geschmückten Tannenbaum und mit all den netten Menschen. So sollten wir es uns doch auch wieder machen. Keine Spur davon, dass Weihnachten vielleicht mit einem Mann namens Jesus etwas zu tun haben könnte. Möglicherweise wusste der freundliche Sprecher das gar nicht.

Im Grunde ist das gar nicht so neu. "Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge", haben wir eben in der Weihnachtsgeschichte gehört. Für den verheißenen Nachkommen Davids, wie man damals sagte; ja mehr noch: für diesen Jesus, der Gott in sich trug, der den Leuten Gott nahe bringen wollte, für den gab es keinen Platz, zumindest nicht im Mittelpunkt des Geschehens. Das ist der Punkt, auf den es der Weihnachtsgeschichte ankommt! Das Kind, von dem sie spricht, zog später als erwachsener Mann als einfacher Wanderprediger in jenem abgelegenen Teil des römischen Reiches von Dorf zu Dorf. In schlichten, aber einprägsamen Bildern versprach er gerade den Erfolglosen und gesellschaftlich Geächteten Gottes Nähe. Ihm sollten sie all ihre berechtigte Sorge anvertrauen. Menschen, die ihr Leben verpfuscht hatten, sagte Jesus zu, Gott werde ihnen vergeben und ihnen so einen neuen Anfang ermöglichen. Sie brauchten nur ihren Stolz hintanzusetzen und das anzunehmen. Aber für die damals maßgeblichen Leute im alten Israel passte das nicht in ihre religiösen Schablonen. Gott müsste doch mit einem mächtigen und unübersehbaren Befreiungsschlag alles Böse in der Welt vernichten, wenn er die Menschen erlösen will. Und schuldig Gewordenen ohne jede Vorbedingung im Namen Gottes Vergebung zuzusprechen, das sei doch eine unerhörte Anmaßung und widerspreche auch jedem Gefühl für menschlichen Anstand, meinten sie.

So wie Jesus damals nicht in die religiöse Welt hineinpasste, so passt er heute nicht in die Welt des Weihnachtsgeschäfts und der Unterhaltungsindustrie. Was hätten die Kunden in dem Spielzeuggeschäft wohl gesagt, wenn der freundliche Mann sie an Jesus erinnert hätte? Wenn sie es denn überhaupt gehört hätten...

Nun hat aber Gott damals durch das Wirken Jesu tatsächlich Menschen im Innersten berührt. Die Weihnachtsgeschichte drückt das so aus, dass sie von einem Engel spricht, der den Hirten erschienen sei. Ein Engel ist kein merkwürdiges rosa Flügelwesen, sondern Symbol für die Ehrfurcht gebietende Gegenwart Gottes. Und die Hirten sind nicht die hochgebildeten Schäfer, die uns etwa die Dichtung des 18. Jahrhunderts vorstellt. Das ist pure Phantasie der damals gesellschaftlich herrschenden Schicht. Die Hirten der Weihnachtsgeschichte sind ganz normale, hart arbeitende Menschen. Die werden von Gott angesprochen, und nicht die hohen Herren. Von diesen Hirten wird erzählt, dass sie spontan begriffen hätten: Was wir da gehört haben, das wird unser ganzes Leben verändern.

Nun sind freilich wir heute abend in dieser Kirche allesamt keine Hirten auf dem Felde. Vielleicht meinen wir auch, dass wir nicht so leicht zu beeindrucken sind wie die Hirten damals. Schließlich leben wir ja in einer aufgeklärten Zeit und können mit komplizierten technischen Produkten wie Autos oder Computern umgehen. Von denen ließen sich diese schlichten Gemüter damals ja noch nichts träumen. Und was wäre, wenn die ganze Weihnachtsgeschichte am Ende nur eine wunderschöne Legende wäre?

Nichts wäre dann anders, liebe Gemeinde. Warum sollen denn Legenden nicht wahr sein können? Mit der ihm überlieferten Weihnachtsgeschichte will der Evangelist Lukas uns auf das vorbereiten, was er später über Jesu Auftreten als Prediger in Palästina zu berichten hat. Und das geht uns nach wie vor etwas an. Daran hängt nicht weniger als die ganze Richtung unseres täglichen Lebens.

Das steckt in den berühmten Worten des Engels: "Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr"? Heiland heißt Retter. Wovor rettet er uns? Um zwei Dinge geht es da. Einmal, wie Jesus in einer seiner Predigten gesagt hat: "Macht euch keine Sorgen, was ihr morgen zu essen oder zum Anziehen haben werdet." Nicht dass Gott unsere Sorgen nicht ernst nähme. Klar, dass man sich Sorgen macht, wenn die Kündigung und damit die Arbeitslosigkeit droht. Verständlich auch, dass viele von uns Angst vor Terroranschlägen in Deutschland haben, besonders wenn es tatsächlich zu einem Krieg mit dem Irak kommen sollte. Aber, so fuhr Jesus damals fort: "Gott weiß schon, was ihr braucht." Er hat das nicht nur so dahergeredet, sondern er stand selbst dafür gerade; schließlich wusste er auf seinen Wanderungen nicht, ob er am nächsten Tag etwas zu essen bekommen würde. Darum kann er auch zu uns heute glaubhaft sprechen. Letztlich können wir tatsächlich alle unsere Sorgen Gott anheim stellen. Wir können uns darauf verlassen, dass er uns nicht im Stich lässt, obwohl es manchmal sehr danach aussieht. Das hilft die Angst zu überwinden, auch wenn der Anlass dafür noch lange nicht verschwunden ist.

Das Zweite, was das Wort Retter bedeutet, ist mindestens genauso wichtig. Weihnachten ist eine Zeit, wo wir Gelegenheit haben, zur Ruhe zu kommen. Da geht uns schon einmal die Frage durch den Kopf, was denn das Leben, das wir so führen, eigentlich taugt. Ist die Zwischenbilanz, die da zu ziehen wäre, nicht trotz all der Arbeit erschreckend dürftig? Habe ich nicht allzu oft den lieben Gott einen guten Mann sein lassen? Ob ich regelmäßig in die Kirche gehe oder nicht, spielt dafür gar keine Rolle. Vielleicht habe ich auch einem anderen Menschen erst vor kurzem ein kaum wieder gutzumachendes Unrecht angetan? Gerade am Heiligen Abend passiert das nur allzu leicht. Wir spannen ja unsere Erwartungen an ein harmonisches Fest oft so wahnwitzig hoch, dass die Enttäuschung schon programmiert ist. Jesus sagt heute Abend dazu: "Gott will euch vergeben. Dann ist die Pattsituation behoben, wo keiner sich vorwärts oder rückwärts bewegen kann. Denn Ihr könnt euch daraufhin auch gegenseitig verzeihen." So etwas steht nicht morgen in der Zeitung, wie zum Beispiel die Abwendung eines Streiks. Aber solche unauffälligen Dinge sind das, wovon wir leben.

Jetzt wird auch verständlich, warum die Weihnachtsgeschichte berichtet, die Hirten hätten alles stehen und liegen gelassen, um nach Bethlehem zu gehen. Wenn Gott durch Jesus zu uns spricht und uns innerlich ergreift, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns ohne Reserve darauf einzulassen und unser ganzes weiteres Leben danach einzurichten. Ob so etwas heute Abend einer oder einem von Ihnen geschieht, das hat ein Prediger nicht in der Hand. Aber ich wünsche es uns allen. Dafür ist das Weihnachtsfest da.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Platz der Göttinger Sieben 2
37073 Göttingen
Tel. 0551 / 75455
Dietzlange@aol.com


(zurück zum Seitenanfang)