Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Christnacht, 24. Dezember 2002
Lukas 2, 1-20, verfaßt von Ulrich Haag
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Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr in der Stadt Davids ...

"Wie oft habe ich diese Verse schon gehört?" fragte vor wenigen Tagen ein älterer Herr, nachdem wir die Weihnachtsgeschichte bei einer Andacht in seiner Wohnung gelesen hatten.
"So viele Jahre gehört, so oft gelesen - und jedes mal kommt sie mir wieder feierlich vor. Weckt Erinnerungen: Weihnachten in der Kindheit, Weihnachten im Krieg und in der Gefangenschaft, Weihnachten mit eigenen Kindern - dann Weihnachten wieder allein. Die Weihnachtsgeschichte gehörte immer dazu. Sie ist für mich eine Art Zeitmaß geworden: Immer wenn ich sie höre weiß ich: Es ist wieder ein Jahr geschafft.
Ich kann sie übrigens fast auswendig: Es begab sich aber zu der Zeit... diese Worte sind beinahe ein Geheimcode. Wenn ich ihn auslöse, dann spult meine Erinnerung automatisch alles folgende ab. Daß ein Gebot ausging. Daß sich aufmachten auch Josef und Maria. Hirten auf dem Feld, Engel des Herrn, Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen. Die Weihnachtsgeschichte - sie ist ein Teil von mir geworden."

Ein Teil von mir geworden...
Was hat sie mir eigentlich dann noch zu sagen, diese Geschichte?
Worte, die sich wiederholen, verlieren an Bedeutung.
Sätze, die ohne Mühe über die Lippen zu kommen, weil sie vertraut sind, haben es schwer, mich noch aufzurütteln, mir eine Botschaft zu vermitteln.

Ein Teil von mir geworden...
Ich vermute: Damit sie mir noch etwas zu sagen hat, die Weihnachtsgeschichte, muß umgekehrt ich wieder ein Teil von ihr werden. Mich auf die Suche machen: Wo komme ich vor? Wo finden wir uns wieder? Was geschieht mit uns - den Menschen - in dieser Geschichte?

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus.
Dieser Name ist der erste, den der Evangelist nennt.
Augustus steht für Rom. Hauptstadt eines Reiches, von dem aus alle Welt gelenkt wird. Obwohl wir heute Abend an der Krippe stehen, sind wir doch Rom, seinen Straßenschluchten und Regierungspalästen näher als Bethlehem mit seinen armseligen Bauten.
Berlin, Brüssel, Paris - die Hauptstädte der Welt liegen nahe. Sie stehen auf den Flugplänen und den Angebotslisten der Reisebüros: Rom, London, New York. Hier finden die Gipfeltreffen statt. Hier tagen die Ministerräte. Hier, ganz in unserer Nähe, werden die Nachrichten gemacht, die alle Welt betreffen.

Der Evangelist Lukas erwähnt den Namen Augustus mit Respekt.
Ein Mann mit Visionen und innovativen Ideen muß er gewesen sein. Die Schätzung war die allererste, vermerkt das Evangelium. Augustus - der erste Kaiser, der den Frieden, der ihm vorschwebt nicht nur auf Legion und Expansion baut, sondern auf Handel und Wandel der Menschen untereinander. Pax Romana hieß sein Programm. Friede soll werden. Dazu die Schätzung: Zum Wohle aller - und keine sinnlose Schikane eines fernen Despoten.

Friede von oben verordnet bedeutet oft Krieg bei den kleinen Leuten.
Josef bekommt das zu spüren. Er ist zwar noch wohlhabend genug, daß es sich für die Römer lohnt, ihn nach Bethlehem zu schicken und dort sein Vermögen schätzen zu lassen. Das Handwerk ernährt seinen Mann. Aber er hat in den letzten Jahren gespürt wie das Geld, das er am letzten jeden Monats in seinen Beutel zählen kann, weniger und weniger geworden ist. Die Leute kaufen nicht mehr so wie früher. Die Konkurrenz wird schärfer, der Markt enger. Die Preise steigen, die Abgaben an die Römer tun ihr übriges. Und jetzt diese Schätzung - sie verheißt nichts gutes. Josef befürchtet, auf der Strecke zu bleiben angesichts der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklung. Er ahnt: Wer überleben will, muß sich durchsetzen und am Ende auf der Seite der Sieger stehen.
Mit einer schwangeren Frau an seiner Seite zählt er an diesem Abend nicht zu den Gewinnern. Bestürzt stellt er fest, wie eng alles geworden ist. Wie hart der Kampf um einen guten Platz. Was ihm noch bleibt: Ein Stall zu einem Wucherpreis. Immerhin ein Dach über dem Kopf. Andere verbringen die Nacht unter freiem Himmel.

Die Hirten.
Bitterarme Schlucker.
Die halbe Welt ist unterwegs, um sich schätzen zu lassen. Sie hat keiner auf der Rechnung. Ihre Arbeit ist hart. Was sie verdienen, reicht für einen Laib Brot am Tag. Und, wenn der Großgrundbesitzer ein gutes Jahr hatte, für einen neue Hose. Selten für sie selbst. Meist für eines der Kinder.
Die Kinder - treiben sich herum und lernen, was man halt so lernt. Sobald sie können müssen sie ohnehin selbst mit 'ran. Schafe scheren, Wolle waschen, kämmen, spinnen, färben. Kinderarbeit - ohne die geht es nicht. Unnütze Esser kann sich hier keiner leisten.
Am Lagerfeuer erzählen sich die Hirten Geschichten. Märchen von ihresgleichen, die ausgezogen sind und es in den großen Städten an der Küste zu etwas gebracht haben. Geschichten von Wohlstand und Luxus. Von den Menschen, die die Kleider tragen, für die ihre Kinder die Wolle spinnen.
Ungerechte Zustände sind das. Aber soll man einen Aufstand beginnen? Wer soll den führen? Es ist nicht damit getan, daß ein paar Köpfe rollen. Unterdrücken, leiden, aufbegehren - wenn sich der Kreis nicht ewig wiederholen soll, muß jemand an die Macht, der für Gerechtigkeit sorgt und bleibenden Frieden für alle schafft. Ein Anführer, der das Zeug dazu hätte, ist nicht in Sicht. Was bleibt sind die Erzählungen von einer besseren Welt am Lagerfeuer.

Maria schließlich.
Die einzige Frau in der Weihnachtsgeschichte. Sie nimmt alle Vorgänge dieser Nacht wie durch einen Schleier wahr. Gedämpft, unwirklich. Für sie gibt es nur eine Wirklichkeit: Das Kind, das sie zur Welt bringt. Und sie ist fest entschlossen, diesem Kind den Aufenthalt auf Erden so angenehm wie irgend möglich zu machen. Sie wird es bei sich tragen, solange es noch nicht laufen kann. Stillen, solange es noch nicht ißt. Sie wird ihm geben, was es braucht: Geborgenheit. Wärme. Sie wird zu den Festen Lichter in die Fenster stellen. Sie wird ihm erzählen von den Vätern Abraham, Isaak und Jakob und von den Propheten Jasaja, Jeremia, Daniel. Sie wird es zu einem Rabbiner in den Unterricht schicken, damit es die Tora lesen lernt und schreiben. Sie wird es beschützen. Notfalls mit ihrem eigenen Leben. Für dieses Menschenkind hat sie von nun an unaustauschbare Bedeutung.

Maria. Josef, die Hirten, die geschäftigen Boten des Kaiser Augustus: Sie alle haben auf irgendeine Weise mit dem zu tun, was in dieser Nacht geschieht. Die Hirteden sind die ersten, die ihn hören, des Himmels Lobgesang. Ehre sein Gott in der Höhe - Gloria in Excelsis Deo.

Die Hirten sind die ersten.
Die Botschaft vom Frieden Gottes breitet sich unter den Menschen von unten her aus.
Das ist die Lektion, die der Kaiser Augustus womöglich hätte lernen wollen, wenn ihm nur seine Boten die Nachricht davon hinterbracht hätten: Friede von oben ehrt den, der ihn anordnet. Dauerhaft ist nur der Friede, der auch von unten her wächst. Verträge um Waffenstillstand, Macht oder um Arbeit und Lohn - festgelegt in fein ausballancierten Klauseln: Sinn machen sie erst, wenn beide Seiten alles gegeben haben, daß auch bei den allergeringsten Gerechtigkeit ankommt. Es sind keine Peanuts, wenn unten welche auf der Strecke bleiben. Es ist die Saat zum Unfrieden.

Andererseits: Wer kleine und große Geschichte schreibt, kann nicht auf alle Nachzügler warten. Auf jeden Nörgler und Prinzipienreiter Rücksicht nehmen. Fakten werden geschaffen, wenn die breite Mehrheit dafür ist. Hundertprozentige Lösungen gibt es nicht.
Nur der Friede Gottes. Der fängt ganz unten an.

Auch Josef hört davon.
Er hatte schon angefangen zu glauben, daß Konkurrenz und Profit, Härte und Erfolg die ausschlaggebenden Faktoren seien, mit denen man am Ende gut durchs Leben kommt. Fressen oder gefressen werden das eherne Gesetz, das den Lauf der Dinge bestimmt.
Jetzt hört er von einem Höheren, der die Welt tatsächlich in der Hand hält und der sie mit Barmherzigkeit regiert. Josef vernimmt es mit Erleichterung.
Die Botschaft macht ihm Mut, in Zukunft nicht nur einzustreichen, was er kriegen kann, sondern nur das zu nehmen, was er braucht. Und bei Geschäften darauf zu achten, daß auch die andere Seite ein Geschäft macht und auf ihre Kosten kommt.
Friede - das ist das Ziel, auf das die Menschheit zusteuert.
Versöhnung - das ist das Prinzip, was schon jetzt unter den Menschen gilt.

Maria dagegen hört das alles mit gemischten Gefühlen.
Es heißt gleich in der ersten Nacht: Dies Kind ist nicht dein Kind.
Du darfst es zwar großziehen. Du sollst ihm alles erdenklich gute tun.
Aber es bleibt nicht dein Kind.
Natürlich nicht. Jedes Kind wird erwachsen.
Maria aber ahnt, daß damit mehr gemeint sein könnte.
Bei anderen Menschen stellt man erst im Nachhinein fest,
welche Persönlichkeit da vor Jahren in aller Ahnungslosigkeit zur Welt gekommen ist. Bei ihrem Kind munkelt man schon in der Nacht der Geburt: Der Messias sei es. Der Heiland. Ein Wunderkind.
Maria schweigt dazu.
Sie hat Angst vor hohen Erwartungen.
Sie könnten enttäuscht werden.
Sie hat Angst, daß vorzeitiger Hochmut ihr zerbrechliches Glück zerstören könnte.
Sie schweigt - und bewegt alles was sie hört in ihrem Herzen.

Später einmal wird ihr Sohn Menschen um sich scharen.
Die Liebe Gottes weitergeben, als wäre er Gott selbst.
Wird für diese Liebe bis zum Ende einstehen.
Sich kreuzigen lassen. Sterben, auferstehen.
Maria ahnt es nicht.
Alle die auf den Sohn sehen, werden Gottes Angesicht erkennen.
Alle die auf ihn hören, werden Worte hören wie aus Gottes eignen Mund.
Und alle die zu Jesus kommen, werden bei ihm Gott selber finden.
Maria weiß es noch nicht.

Der Evangelist Lukas weiß es schon.
Daß nämlich die Freude, die in dieser Nacht geschieht, allem Volke widerfahren soll.
Den Menschen ein Wohlgefallen. Allen.
Sogar den Kaiser Augustus nennt der Evangelist in einem Atemzug mit der Botschaft der Engel. Selbst die im fernen Rom sind gemeint!
Auch die im noch ferneren Bonn, Berlin und Aachen.

Es gibt eine Menge Gründe, sich heute Abend dem Weihnachtsgeschehen fern zu fühlen.
Mag sein, daß ich ein ganzes Jahr gelebt habe, als gäbe es Gott nicht.
Nicht mit ihm gesprochen. Nicht gehört.
Es ist schwierig im Gespräch zu bleiben mit dem, den man nicht sieht.
Mag sein, daß ich meine Entscheidungen für mich getroffen habe. Nach bestem Wissen.
Meine Tage begonnen habe aus eigener Kraft.
Und beschlossen in der Zufriedenheit über die eigenen Erfolge.
Es ging ganz gut so.
Wenn sich da nicht ab und an das Schuldgefühl meldete,
weit weg zu sein von dem, dem mein Leben eigentlich gehören sollte.

Weit weg - der Kaiser in Rom.
Der Statthalten Quirinius in Syrien: Weit weg.
Aber nicht weit genug, als daß sie nicht in die Geschichte mithineingehörten,
die da auf den Feldern Bethlehems geschieht.

Weit weg.
Aber niemals weit genug,
als daß Gott mich nicht hineinnimmt in seine Geschichte mit den Menschen.

Weit weg.
Aber nicht so weit,
daß Gott mich nicht findet.
Daß er mir nicht mehr nahe kommt.
Daß ich nicht auch zur Freude finden könnte, und zur Ruhe, und erkennen, daß Gott im Kind in der Krippe zu mir kommt.
Auch zu mir.

Amen.

Lied: Ich steh an Deiner Krippen hier

Ulrich Haag
haag@ekir.de


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