Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Advent, 22. Dezember 2002
Predigt über Lukas 1, (39-45) 46-55 (56), verfaßt von Reiner Kalmbach (Patagonien / Argentinien)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Zur Situation in Argentinien
Freundesbrief aus der Gemeinde in Rio Negro (pdf-Datei)

Liebe Gemeinde:

Eine Predigt sollte ich ausarbeiten, eine Predigt die auf der einen Seite eine ganz besondere Situation "zum klingen" bringt und gleichzeitig für Christen und Christinnen in Deutschland verständlich sein soll…Von welcher besonderen Situation ist hier die Rede? Nun, ich sitze in der südlichsten lutherischen Kirchengemeinde der Welt, um genauer zu sein: in Patagonien, dem südlichen Teil Argentiniens, diesem Land, wunderschön und tragisch zugleich…
Dann habe ich dieses Wort gelesen, immer und immer wieder, ich habe es gesungen.., das Lied der Maria und dann hab ich einfach aufgeschrieben, was mir dazu einfiel:
"…vergessen, ausgegrenzt, Frau, Gewalt, Verzweiflung, Resignation, Angst, ohne Hoffnung,Tränen…,Hunger, Menschenrechte…, mit Füssen getreten, Schuld…, aber auch: hereinholen, erhöhen, wertschätzen, ehren, Gerechtigkeit, Würde, Freude, Lachen, Feiern, abwischen…die Tränen, angesehen von und vor …Gott… in der Welt, Gott bei uns…, Gott mit uns…

(Textlesung)

Wenn die Seele singt…

"…wer viel leidet, macht die tiefsten Erfahrungen mit Gott…", sagte mir einmal eine alte Frau. Ja, das stimmt wohl und so verstehe ich das Lied der Maria, ihren "Lobgesang", als eine Antwort auf ihre Erfahrungen mit Gott.

Wer hier lebt in diesem Land, in diesem Kontinent, ausgebeutet 500 Jahre lang und noch mehr…, wer die Gesichter der schwer arbeitenden Frauen sieht, diese Gesichter, alterslos, das letzte Lächeln längst vergessen…, Frauen die sich um zehn Kinder kümmern, drei Jobs gleichzeitig haben und sich nachts gegen ihre gewalttätigen Männer wehren müssen…, wer hier lebt der liest, der singt Marias Lied ganz neu, da verschwindet alles mystische, da werden plötzlich alle theologischen Deutungsversuche unwichtig, da beginnt man zu "sehen", im Sinne von "verstehen".

Maria singt, ihre Seele singt, es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als zu singen, diesen wunderschönen Psalm.., weil Gott sie angesehen hat…! Er, der "Männergott" zeigt sich ihr in seiner Wirklichkeit, wie er tatsächlich ist…, nein: schon immer war!

Einmal fragte mich jemand: "…hätte Jesus auch einen anderen, einen "gewöhnlichen" Weg wählen können, war das Kreuz für ihn unausweichlich…?" Ich denke, er hat diesen Weg frei gewählt, obwohl er wusste, dass dieser ihn direkt ans Kreuz führen würde. In dieser Entscheidung wird für alle sichtbar wie Gott wirklich ist: er nimmt Partei für das Leben und er gibt ihm seine Würde, weil ER die Ursache des Lebens ist. Maria singt, weil ER, die Ursache allen Lebens, ihr endlich die ihr zustehende Würde verleiht.
Das ist die Gotteserfahrung die die Menschen aller Zeiten immer wieder machen durften…

…wenn die Vergessenen klagen…

dann hört und sieht ER…; und dieses Klagen bleibt nicht ohne Antwort: "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört, ich habe ihre Leiden erkannt…" , sagt Gott zu Mose und es ist diese Urerfahrung: Gott will befreien!

Warum nur wollen wir dieser Botschaft immer wieder die "Spitze" nehmen, warum können wir sie nicht "aushalten"…? Warum müssen die christlichen Theologen eine "Theologie der Befreiung" erfinden.., gibt es denn eine andere…?

Luther sagt: "Daher kommt´s, dass Gottes Augen nur in die Tiefe, nicht in die Höhe sehen,…" "Darum muss er notwendig in sich selbst und unter sich sehen, und je tiefer jemand unter ihm ist, desto besser sieht er ihn."
Treffender kann man es nicht formulieren!

Während ich diese Predigt "zu Papier" bringe, sterben hier in Argentinien Kinder und alte Menschen an Hunger; ja, in Argentinien, der einstige "Futternapf" für das hungernde Europa. In den nächsten Monaten kommen über 500.000 Babys zur Welt deren Mütter von Unterernährung und Krankheiten geschwächt sind…Welche Zukunft haben diese Kinder?, oder die 5,5 Millionen Kinder im Schulalter die nicht jeden Tag zu essen bekommen? Welche Schuld haben diese Kinder oder ihre Mütter, wenn der Weltwährungsfonds, Amerikaner und Europäer auf die Rückzahlung der inmensen Auslandsschulden Argentiniens beharren…?, die im übrigen bereits zwei Mal bezahlt wurden (das Problem sind die Wucherzinzen, nicht die eigentlichen Kredite!). Unsere korrupten Politiker und Funktionäre sind doch die besten Handlanger der multinationalen Firmen mit Sitz in New York, London, Madrid oder Frankfurt…Sie sichern ihnen astronomische Gewinne die dann ungeniert ins Ausland geschafft werden.

Was hat dieser "Situationsbericht" mit dem Lobgesang der Maria zu tun? Sehr viel: weil er uns das Ende allen Elends anzeigt…, weil…

Wenn Gott handelt…

…dann stimmen die Seinen bald in den Lobgesang ein. Ein Gott der handelt, der wirklich eingreift, den habe ich erst hier kennen gelernt.

Als sich die Krise schon ins unbeschreibliche auswuchs, als am 20 Dezember letzten Jahres über 40 Kinder, Frauen und Männer unter Polizeiknüppeln und Kugeln starben, versammelten sich die Menschen auf den Plätzen, in den Häusern und -vor allem- in den Kirchen. Seither gibt es überall "Hoffnungszentren" in denen sich Menschen treffen und über eine neue und bessere Zukunft nachdenken, und nicht nur das: diese Menschen "sehen" und "hören" und antworten, handeln…Vielleicht werden im Moment tausende von Kinder, Mütter und alte Menschen vor dem Hungertot bewahrt, weil die Hoffnungszentren die wenigen Lebensmittel und Medikamente die zur Verfügung stehen, gerecht und unbürokratisch verteilen.

Und wir hier, die kleine lutherische Kirchengemeinde mit Altenheim und einer Strassenkinderarbeit und als winzige Minderheit in der absoluten Diaspora, ja, wir können nur arbeiten, unsere Mission erfüllen, weil es in Deutschland Christen und Christinnen gibt, die, bevor sie handeln, nicht die Börsennachrichten, oder den letzten politischen Kommentar über die Korruption in Argentinien lesen, sondern konkret auf das Klagen der Menschen antworten. Diese Art von sehen, hören und handeln verleiht Würde, erhöht, richtet auf, gibt Hoffnung zurück (und damit Zukunft), und vor allem: das Gefühl nicht allein zu sein.

Das Magnificat will niemanden "klein machen", sondern es will als Lied unser Herz, das Herz der Begüterten dieser Welt, anrühren, damit wir die Elenden und Niedrigen unter uns (oder in Argentinien), "ansehen", wie Gott es tut.

Ganz wie Maria es sieht: erst vom Ende her werden die "grossen Dinge" sichtbar.
Bald wird auch unsere Seele singen: Gelobt sei unser Gott!, denn er hat die Niedrigkeit der Seinen angesehen und er hat grosse Dinge an uns getan.., die Korrupten stösst er vom Thron und verleiht den Seinen Würde, die Gesichter der Frauen werden jung und ihr Lächeln erfüllt die Strassen.

Amen.

Ein kleines Tischgebet das in unserer Kirche sehr bekannt ist:
Segne, Herr unser Brot; und gib Brot denen die Hunger haben und Hunger nach Gerechtigkeit, jenen die Brot haben.

Amen.

Reiner Kalmbach
reikal@neunet.com.ar

Freundesbrief aus der Gemeinde in Rio Negro (pdf-Datei)

Aus der E-Mail von Reiner Kalmbach:

"... Es hat mich einige Mühe gekostet zwischen "traditioneller" und unserer situationsbezogenen Auslegung zu entscheiden. Argentinien befindet sich im Moment, vielleicht wie kein anderes lateinamerikanische Land, an einem Scheidepunkt: entweder wir versinken vollends im Elend und Chaos, und haben spätestens im nächsten Jahr die Militärs wieder auf der Strasse..., oder aber wir schaffen es eine neue Basis für eine bessere Gesellschaft aufzubauen. "Wir", das sind die vielen neuen Initiativen und "ONG" (nichtstaatl. Organisationen), die Kirchen, aber auch Politiker und Gewerkschafter mit "Visionen".
Auch wenn es noch so merkwürdig scheint, die Entscheidung für eine der beiden Wege liegt vor allem beim Ausland. Zehn Jahre lang haben die multinationalen Firmen alles ins Ausland geschafft, das Land wurde buchstäblich geplündert..., deshalb wurde die Menem-Regierung immer wieder als "Musterschüler" des Währungsfonds bezeichnet. Seine Regierung hat dafür gesorgt, dass der Ausverkauf möglichst reibungslos und gründlich durchgeführt werden konnte. Im Gegenzug erhielt Menem Mamutkredite zu Wucherzinzen...
Wir befinden uns gerade im Wahlkampf (im März nächsten Jahres sind die Wahlen). Menem ist wieder im Rennen. Er spielt sich jetzt als der grosse Retter auf. Sollte es die derzeitige Regierung schaffen die Wirtschaft zu stabilisieren, d.h. den Fall zu stoppen, dann hätte Menem keine Chance. Deshalb schürt er das Chaos und die Gewalt. Wenn am 20. Dezember wieder die Supermärkte geplündert werden, dann ist das von Menem gesteuert. Er hat unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung und die kommen vor allem aus der amerikanischen und europäischen Grossfinanz.
Das argentinische Volk wurde gedemütigt, seiner Würde beraubt und gerade hier sehen wir als Kirche unsere Aufgabe. Als Kirche der Einwanderer sind wir zu lange "unter uns" geblieben. In den letzten Jahren haben wir uns geöffnet und einen Wandel, hin zu einer Kirche des Volkes, erreicht....."

 


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