Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Advent, 22. Dezember 2002
Predigt über Lukas 1, 46-55, verfaßt von Irene Mildenberger
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Meine Seele erhebt den Herrn, mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.

Maria singt voll Freude. Sie besingt Gottes große Taten, die er nicht nur an ihr getan hat, sondern auch an all denen, die ihn fürchten, an den Niedrigen, den Hungrigen, an seinem Volk, seinem Diener Israel!
Gott hat große Dinge getan, hat sie an mir getan, singt Maria. Er wird sie tun, und darum - wegen dem, was er an mir, durch mich tun wird - darum werden mich selig preisen alle Geschlechter.

Gott tut große Dinge, er hat sie getan, er wird sie tun - all das klingt mit im Lied der Maria; unsere deutsche Sprache kann das nicht gleichzeitig sagen, im Griechischen, gar im Hebräischen geht das besser. - Gottes Zeit überschreitet unser begrenztes Maß, umgreift Vergangenheit und Zukunft. Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht, er gedenkt seiner Verheißungen und macht sie wahr.
Meine Seele erhebt den Herrn, preist ihn für seine barmherzigen und machtvollen Taten. Gott tut sie, diese großen Taten, er hat sie getan, er wird sie tun, weil er Gott ist, weil er der Gott seines Dieners Israel ist, der Gott Abrahams und der Vater Jesu Christi, unseres Herren, dessen Mutter Maria uns ihr Lied vorsingt.

Meine Seele erhebt Gott, macht ihn groß, denn er hat große Dinge getan, an mir und an allen, und er wird sie weiter tun.

Ich singe mit Maria. Und singe zugleich im Chor der Kirche, die dieses Lied Marias aufgenommen hat in ihr tägliches Abendgebet.

Gott tut große Dinge, er hat sie schon getan, er wird sie tun. Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen, so singt Maria in einer Zeit, in der doch nur ihre Niedrigkeit zu sehen ist: ein junges Mädchen, verlobt, schwanger, das Kind wird unter ärmlichen, erbärmlichen Verhältnissen zur Welt kommen.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen, so singt Maria in einer Zeit, in der die Mächtigen mächtig sind und bleiben, in der die Gewaltigen dieses Kind töten werden, jämmerlich zu Tod bringen. Das Kind, das noch nicht geboren ist, als Maria ihren Lobgesang singt, das Kind, auf das sie noch wartet. Auf das wir warten, wenige Tage vor dem Christfest, vor Weihnachten..

Gott tut große Dinge, er hat sie schon getan, er wird sie tun, die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen, so singt der Chor der Kirche mit Maria, in einer Zeit, in der es viele Reiche gibt und viel zu oft die Hungrigen leer ausgehen, weil niemand sie ansieht.
Gott gedenkt seiner Barmherzigkeit, und hilft seinem Diener Israel auf, so singe ich im Chor der Kirche - und sehe auf dem Weg zur Arbeit die Zeichen meiner Zeit, die Polizisten, die Tag und Nacht die Synagoge und die Räume der jüdischen Gemeinde hier in Leipzig bewachen.

Meine Seele erhebt den Herren, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.

Maria singt. Gegen den Augenschein singt sie, aber im Vertrauen auf das, was ihr Gott durch seinen Engel Gabriel verkündigt hat. Der Sohn, den du erwartest, er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit und sein Reich wird kein Ende haben (Lukas 1,32-33). So wird Gott tun, wie er geredet hat zu den Vätern, zu Israels Vätern, Abraham und seinen Kindern.

Gegen den Augenschein singt Maria, gegen den Augenschein singt die Kirche, singe ich, lobe Gott für die mächtigen Taten, die er vollbringt. Wir singen. Und wir warten zugleich darauf, dass der Sohn der Maria kommt, dass der König kommt und mit ihm sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens.

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.

Mit Maria singe ich, mit Maria singt die Kirche Gott einen Lobgesang, Tag für Tag, Abend für Abend - aber in diesen Tagen kurz vor Weihnachten, da tut sie es noch einmal in einer ganz besonderen Weise. Da wächst die Erwartung auf das, was noch aussteht, was noch kommen soll. Die Erwartung auf den, der noch aussteht, auf den Messias, den Christus, auf den, dessen Verheißung und nahende Geburt ja auch Maria den Mund geöffnet hat, Gott zu loben.
Und so wird Gott nicht nur gerühmt und erhoben. In diesen Tagen vor Weihnachten, da wird er bedrängt, angerufen, erinnert an das, was er getan hat, erinnert an das, was er verheißen hat und was noch aussteht. Genauer, da wird der angerufen, auf den wir mit Maria warten, der Sohn des Höchsten, der König, das Kind.
In den sieben Tagen vor Weihnachten, da rahmen im Chor der Kirche ganz besondere Antiphonen das Magnifikat, den Lobgesang der Maria, Verse, die den Christus anrufen und ihn um sein Kommen bitten. Sie geben ihm Namen, diese Verse, Namen, die an Gottes gewaltige Taten erinnern, an seine vergangenen und seine zukünftigen: O Sproß aus Isais Wurzel! O Morgenstern, Sonne der Gerechtigkeit! O Immanuel! O komm, befreie uns, errette uns, schaffe uns Hilfe, säume nicht länger!
Die Antiphonen geben so dem Lobgesang Marias, dem Lobgesang der Kirche, unserem Lobgesang, einen flehenden, einen sehnsüchtigen, einen adventlich-weihnachtlichen Klang.

O König aller Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht;
Schlußstein, der den Bau zusammenhält:
o komm und errette den Menschen, den du aus Erde gemacht hast.
(O-Antiphon zum 22.12.)
- So singen wir heute, zwei Tage vor Weihnachten, im Chor der Kirche.
Meine Seele erhebt den Herrn, meinen Schöpfer. Der Höchste hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist, und des Name heilig ist. Mit Maria singen wir und rufen zugleich zu dem Kind, das sie erwartet: König nicht nur des Hauses Jakob, König aller Völker, Sohn des Höchsten, komm, damit wir es sehen: Gottes Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht, bei denen, die ihn fürchten. Komm, errette uns, deine Menschen.

Vergangenheit und Zukunft vermischen sich, denn Gott hat große Dinge getan und wird sie tun:
O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel -
im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen
und hast ihm auf dem Berge das Gesetz gegeben.
O komm und befreie uns mit deinem starken Arm!
(O-Antiphon zum 18.12.)
Übe Gewalt mit deinem Arm, zerstreue die Hoffärtigen, befreie die Niedrigen, erhebe sie, wie du damals deinen Diener Israel aus der Knechtschaft befreit hast.
O komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes. (aus der O-Antiphon zum 20.12.)

Lob und Bitte vermischen sich in sehnsüchtiger, drängender Erwartung. Wir rufen zu dir:
O Immanuel, unser König und Lehrer, du Hoffnung und Heiland der Völker:
o komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott!
(O-Antiphon zum 23.12.)

Amen

Ergänzende Texte und Liedvorschläge:

Als Predigtlied, das den Duktus der O-Antiphonen aufnimmt, eignet sich EG 7: "O Heiland, reiß die Himmel auf"
(Im Gotteslob findet sich außerdem ein Lied, das die O-Antiphonen nachdichtet: GL 112: "Herr, send herab uns deinen Sohn")

Der vollständige Text der O-Antiphonen:

17.12.
O Weisheit, hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten -
die Welt umspannst du von einem Ende zum andern,
in Kraft und Milde ordnest du alles:
o komm und offenbare uns den Weg der Weisheit und Einsicht!

18.12.
O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel -
im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen
und hast ihm auf dem Berge das Gesetz gegeben:
o komm und befreie uns mit deinem starken Arme!

19.12.
O Sproß aus Isais Wurzel, gesetzt zum Zeichen für die Völker -
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
o komm und errette uns, erhebe dich, säume nicht länger!

20.12.
O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel -
du öffnest, und niemand kann schließen,
du schließt, und keine Macht vermag zu öffnen:
o komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes!

21.12.
O Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes,
der Gerechtigkeit strahlende Sonne:
komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes!

22.12.
O König aller Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht;
Schlußstein, der den Bau zusammenhält:
o komm und errette den Menschen, den du aus Erde gebildet!

23.12.
O Immanuel, unser König und Lehrer,
du Hoffnung und Heiland der Völker:
o komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott!

(Evangelisches Tagzeitenbuch, hg. von der Evangelischen Michaelsbruderschaft, 4. völlig neu gestaltete Auflage, Münsterschwarzach/Göttingen 1998, S.486-489)

Pfarrerin Irene Mildenberger
Liturgiewissenschaftliches Institut der VELKD
Otto-Schill-Straße 2
04109 Leipzig
liturgie@uni-leipzig.de

 


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