Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

3. Advent, 15. Dezember 2002
Predigt über Matthäus 11, 2-10, verfaßt von Jan Ulrik Dyrkjøb (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde!

Das Christentum handelt von etwas ganz einfachem. Es handelt davon, daß ein Mensch in die Welt gekommen ist, und daß dieser Mensch die ganze Schöpferkraft und Fürsorge Gottes für seine Schöpfung in sich trägt. Er trägt sie in die Zeit hinein, und aus der Zeit in die Ewigkeit. Er ist wirklich wirksam vom Anfang der Welt bis zur Vollendung der Welt.

Das alles in seiner Reichweite und seiner vollen Bedeutung zu verstehen, heißt das Christentum verstehen. Nicht mehr und nicht weniger! Wenn wir nicht fassen, daß ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut gelebt hat und den Tod eines Menschen gestorben ist; wenn wir das nicht fassen, daß das ganze und volle Wesen Gottes und seine Schöpferkraft in ihm ist, wenn wir in ihm nicht die Fürsorge Gottes in ihrer ganzen Reichweite sehen, wie sie bis an das Ende der Welt und der Zeit reicht und jeden einzelnen Menschen umfaßt - dann hat das ganze keinen Sinn. Und dann handelt es sich jedenfalls nicht um das Christentum.

Der Evangelist Matthäus erzählt, daß Johannes der Täufer einige seiner Jünger zu Jesus schickt, um die Frage zu stellen: "Bist du der, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?" Johannes der Täufer ist angefochten. Er zweifelt, und er muß die einzig entscheidende Frage stellen: "Bist du der, der da kommen soll?". Kommst du wirklich von Gott? Bist du wirklich der, an dem die Welt hängt?

Und Jesus antwortet, indem er auf das verweist, was geschieht. Er verweist auf die Schöpferkraft und die Erneuerung. Er verweist auf die Verwandlung, die begonnen hat und die bereits die Verlorenen erreicht: "Gehet hin und saget Johannes wieder, was ihr höret und sehet: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir".

Wir verstehen das nicht, wenn wir nicht verstehen, daß dies dieselbe Schöpferkraft ist, die von Anfang an Himmel und Erde geschaffen hat. es ist dieselbe Schöpferkraft, die stets das Leben und die Welt erneuert hat. Es ist dieselbe Schöpferkraft, von der der Prophet spricht: "Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude". Der dänische Dichter Grundtvig hat die Worte Jesajas in seinem berühmten Adventslied wiedergegeben: "Blühen wie ein Rosenhag, soll die Wüste wieder ...".

Und dieselbe Schöpferkraft kommt über Maria: "Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten, darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden".

Und nun wirkt dieselbe Schöpferkraft in diesem Menschen. Sie wirkt in seinem Wort und seinem Tun. Sie wirkt überall, wo er kommt. Sie ergreift alle menschliche Schwachheit. Sie erreicht die Ärmsten und Verlorenen. Das ist Fürsorge. Das ist Barmherzigkeit. Das ist Vergebung. Das ist Erneuerung. Denn Gott will in diesem Menschen das vollenden, was er einmal begonnen hat. Gott will sein Schöpferwerk vollenden. Das beginnt mit dem Kommen Christi zu den Menschen.

Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, nicht zuletzt in unserem Teil der Welt. Wir haben all die Güter, die wir uns wünschen können. Wir haben einen Konsum wie nie zuvor. Es gibt bald kein Problem mehr im Dasein, das wir nicht lösen können. das moderne Leben ist reich und mannigfaltig, strahlend und voller Spannung.

Aber zwischendurch kommt der Verdacht auf, daß das nur oberflächlich so ist. Denn unter der Oberfläche, irgendwo hinter all dem Glanz und Schein, finden wir viel menschliche Not. Auch in unserer Gesellschaft gibt es Not, Angst und Einsamkeit. Es gibt Erniedrigung und Verachtung. Ich denke immer wieder an den Roman von Dostojewki: von den Gedemütigten und Verletzten, der an Aktualität nichts verloren hat.

Und es ist nicht nur materielle Not. Es handelt sich in hohem Maße auch um geistliche Not. Viele Menschen - Erwachsene, Teenager und Kinder, denen materiell nichts fehlt, fällt es schwer, sich im Dasein zu orientieren und Richtung und Sinn im Leben zu finden. Die Sinnlosigkeit ist die große kulturelle Krankheit unserer Zeit. Sie bedroht uns alle.

Not, Angst, Sinnlosigkeit. Es gibt unglückliche Zustände unter der Oberfläche der Gesellschaft. Was eigentlich das Fundament des Ganzen sein sollte, ist im Schwinden, oder schon verschwunden. Längst ist der Tod Gottes ausgerufen worden. Man hat gesagt, daß wir in einer Zeit der Abwesenheit Gottes leben. Man hat gesagt, daß wir zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Kultur auf der Voraussetzung aufbauen, daß es Gott nicht gibt.

Nicht daß es keinen Glauben, kein religiöses Suchen und Sehnen in unserer Zeit gäbe. Aber Gott ist nicht die erste und unumgängliche Voraussetzung im Leben des einzelnen - oder gar der Kultur oder der Gesellschaft. Gott wird einfach nicht in Betracht gezogen. Das, was das Fundament sein sollte, das, nach dem wir uns orientieren sollten, was Sinn in all das bringen sollte, was wir tun, ist aus dem Bewußtsein geglitten.

Ich möchte ein Beispiel nennen: Kürzlich erschien eine neue dänische Übersetzung eines Klassikers der Weltliteratur: Dantes Göttliche Komödie. Aus diesem Anlaß wurde der Übersetzer im dänischen Rundfunk interviewt. In diesem Interview - das freilich, wie ich zugebe, ganz kurz war - wurde das Werk Dantes als eine Erzählung über einen Mann in einer midlifecrisis vorgestellt. Wenn man Dantes Göttliche Komödie liest, wurde gesagt, kann man viel lernen über das Weltbild des Mittelalters und die politischen Streitigkeit zur Zeit Dantes. Kein Wort darüber, daß man durch Dante vor allem etwas über die Theologie und Frömmigkeit des Mittelalters erfährt und daß die Göttliche Komödie das größte und reichste erzählende Gedicht ist, das wir überhaupt besitzen. Es wurde nicht einmal angedeutet, daß die Göttliche Komödie ganz einfach vom Weg der Seele zu Gott handelt.

Nein, Gott ist abwesend. Gott ist vergessen. Und das ist ein Vergessen, das uns alle betrifft. Früher meinte man, das würde Freiheit für den Menschen bedeuten. Aber die Zeit, die seitdem vergangen ist, war nicht das Zeitalter der Freiheit. Wir sind dem Reich des Friedens und der Freiheit nicht nähergekommen. Es war die Zeit der todbringenden Ideologien. Die Zeit der Massengräber. Es war - und ist - die Zeit des sinnlosen Verbrauchertums.

Warum nun das in der Adventszeit, wo wir uns auf Weihnachten freuen? Sollen wir uns nicht eben freuen? Sollen wir nicht - statt düstere Perspektiven an die Wand zu malen - über all das freuen, was trotz allem in unserer Gesellschaft gut geht? Sollen wir uns nicht darüber freuen, daß in dieser Zeit so viel Schönes und Gutes in unseren Kirchen geschieht und viele Menschen gerne dran teilnehmen?

Ja, das sollen wir. Aber nein, wir sollen nicht nur das. Die Adventszeit ist eine Zeit der Freude, sie ist aber auch eine Zeit des Ernstes und der Besinnung. Beides schließt einander nicht aus. Wenn wir uns nämlich immer nur an das halten, was "gut geht", und uns an dem freuen, was gut geht, dann kommen wir nicht von der Stelle. Wir lassen uns einschläfern.

Aber wenn wir radikal denken und an die Wurzeln des Übels gehen und furchtlos die Perspektiven sehen in der Zeit, in der wir leben, dann besteht die Möglichkeit, daß wir uns bewegen. Die Misere unserer Zeit zu erkennen und die umfassende Gottesabwesenheit, der wir unterliegen, wahrzunehmen, das bedeutet nicht Lähmung. Das heißt Erweckung. Das heißt neues Denken lernen. Das heißt neue Wege gehen.

Deshalb sollen wir uns in dieser Zeit freuen, aber auch uns besinnen. Wir leben ja als Christen ein Leben, das zugleich von der größten Freude und dem tiefsten Ernst geprägt ist. Wir stehen zugleich unter einem unerbittlichen Gericht und den großen Verheißungen Gottes.

Jesus sagt es ja : "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt". Das bedeutet ja, daß es erst Blinde und Lahme und Aussätzige - und Tote! - gegeben hat und daß er Arme gibt, denen das Evangelium verkündigt werden kann. Es gibt eine Welt, die gerichtet werden darf und soll. Es gibt Zerstörung des Schöpferwerkes. Es gibt Leiden, Verdammnis.

Aber die Schöpferkraft ist in die Welt gekommen in einer ganz neuen Weise. Er ist wirklich der, der kommen soll, er ist der neue Mensch, der alles wieder aufrichten wird. Er wird heilen. Er wird Barmherzigkeit erweisen. Er wird das Verlorene finden.

Er leidet selbst in und mit der Welt. Er läßt allen Schmerz der Welt durch den Schmelztiegel seines Schmerzes gehen. Und damit wird alles erklärt. Dadurch kommen die schöpferische Kraft und das schöpferische Leben Gottes zum Vorschein. Das ist die Erneuerung.

Das ist größer als sich jemand vorstellen kann. Johannes war groß. Er war der Engel, der vor dem gesandt wurde, der kommen sollte. Unter Menschen und Propheten hat es keinen Größeren gegeben.

Und doch sagt Jesus, daß selbst der Kleinste im Himmelreich größer ist als er. So groß ist das, was gekommen ist. So groß ist das, was nun kommt. Viel größer als Johannes. So weit kann es kommen. Das ist unendlich wie Gott unendlich ist.

Ein Mensch ist in die Welt gekommen, und dieser Mensch trägt die ganze Schöpferkraft und Fürsorge Gottes in sich. Er trägt in die Zeit hinein und aus der Zeit heraus in die Ewigkeit. Er ist wirklich und wirksam vom Anfang der Welt bis zu ihrer Vollendung. Er ist einmal zu uns gekommen. Und kommt bald wieder zu uns. Amen.

Pfarrer Jan Ulrik Dyrkjøb
Knud Hjortsøvej
DK-3500 Værløse
Tel.: ++ 45 - 44 48 06 04
jukd@vaerloesesogn.dk


(zurück zum Seitenanfang)